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Die Ursprünge
des Yoga selbst liegen im Dunkeln. Die ältesten archäologischen
Zeugnisse der indischen Hochkultur stammen aus der sogenannten Induskultur,
die ihre Blütezeit zwischen 3500 und 1500 v.Chr. hatte. Es existierte
auch eine Schrift, die allerdings noch nicht entziffert ist, denn sie
scheint nach einer anderen Logik aufgebaut zu sein als alle anderen bisher
bekannten Schriften. Sie hat auch keine Ähnlichkeit mit Sanskrit.
Archäologischen Ausgraben zufolge handelte es sich um eine großartige
Hochkultur mit schachbrettartig angelegten blühenden Städten,
die über Kanalisation und fließendes Wasser verfügten.
Die größten heute bekannten Städte dieser Hochkultur
sind Harapa und Mojendra.
Für die Zeit um 2000 v.Chr. werden die Ausgrabungsfunde geringer und schon um 1500 v.Chr. gibt es keine Zeugnisse mehr von der Induskultur. Aus unbekannten Gründen hat sie sich irgendwann aufgelöst, ohne Anzeichen größerer Schlachten oder sonstiger Katastrophen. Eine Theorie westlicher Orientalisten vermutet einen wenig ökologischen Landbau, so daß das Land allmählich ausgelaugt war und die Bewohner die Böden verlassen mußten. Eine zweite
Theorie bezieht sich auf die Einwanderung der Indogermanen um 1500
v.Chr.. Ihre Bezeichnung als Arier weckt zwar angesichts der weltgeschichtlichen
Erfahrungen im 20. Jahrhundert andere Assoziationen, erscheint jedoch
schon in dem indischen Nationalepos Bhagavad Gita und bedeutet ursprünglich
'stark, mutig'. Diese Arier kamen aus der südrussischen Steppe,
zwischen Kaspischem Meer und Baikalsee, und sollen von dort in mehreren
Wellen ausgewandert sein. Ein Teil von ihnen zog nach Persien – die späteren
Iranoarier –, ein anderer Teil nach Indien, die sogenannten Indoarier.
Bis heute haben Sanskrit und Persisch eine enge Verbindung. Mit Sanskrit-Kenntnissen
versteht man auch die meisten persischen Ausdrücke und die Bedeutung
persischer Namen, wenn sie nicht arabischen Ursprungs sind.
So wird angenommen,
daß die Arier zwischen 1500 und 1200 v.Chr. erst das Industal eroberten,
dann die Ganges-Tiefebene und schrittweise den nordindischen Subkontinent.
In Südindien dagegen blieben die sogenannten Drawiden. Sie gelten
als Ureinwohner und hatten auch eine eigene Kultur. Manche Wissenschaftler
mutmaßen, die Drawiden könnten dasselbe Volk sein, das auch
die Induskultur gegründet hatte. Bis heute gibt es in Indien zwei
ethnische Hauptgruppen: eben die eher hellhäutigen Arier im Norden
und die dunkelhäutigen Drawiden im Süden. Die höheren
Kasten sind auch im Süden oft mit hellhäutigen arischstämmigen
Menschen besetzt. Daneben leben in Indien natürlich noch sehr viele
andere Völker, sogar mongolide Völker, gerade in Nord- und
Nordostindien, die ebenfalls nach Indien eingewandert sind. Außerdem
findet man die sogenannten Awinashis, die Stämme, die bis heute
im Wald leben und nie seßhaft geworden sind. Früher hatten
sie genügend Wald. Doch heutzutage nehmen die Abholzungen immer
weiter zu, weil die Bevölkerung innerhalb von 50 Jahren von etwa
200 bis 300 Millionen auf über eine Milliarde Menschen angewachsen
ist. Wenn man Pakistan und Bangladesh noch dazuzählt, gibt es auf
dem indischen Kontinent beinahe 1,2 Milliarde Menschen, also mindestens
genauso viele Inder wie Chinesen. Die Inder haben ein höheres Bevölkerungswachstum.
Indien hat doppelt so viel Einwohner wie Europa. Manchmal spricht man
von der indischen Kultur oder dem indischen Volk. Das stimmt ebenso wenig,
wie man von einem europäischen Volk sprechen kann, obgleich es bis
zu einem gewissen Grad in Europa eine einheitliche Kultur gibt. Aber
man kann nicht unbedingt sagen, daß die Spanier, Italiener, Skandinavier,
Russen, Griechen, Deutschen alle gleich seien. Genauso ist es auch mit
der Völkervielfalt in Indien.
Indien war
historisch auch ganz selten geeint. Es bestand, wie Europa, aus
verschiedenen Reichen, die sich zwischenzeitlich zusammenschlossen.
Und da Indien immer
ein reiches Land war, kamen auch stets von außen Einwanderer
und Eroberer.
Um die Zeit
der arischen Einwanderung sollen dieser zweiten Theorie zufolge auch
die indischen Schriften entstanden sein. Es sollen ursprünglich
rein arische Schriften gewesen sein, die die Indogermanen mitbrachten
und die sich später allmählich mit dem drawidischen Gedankengut
vermischten. Auf die indogermanische, abendländische Kultur gehen
die Vorstellungen von Brahman, Atman und die vedischen Götter wie
Indra, Varuna, Agni und so weiter zurück. Von der drawidischen Religion
nimmt man an, daß es sich ursprünglich mehr um eine Mutterreligion
mit Verehrung der Göttin, eine tantrische Kultur, gehandelt hat,
die sich im Gegenzug in den ersten Jahrhunderten nach Christus wieder über
ganz Indien ausbreitete und auch von der sogenannten brahmanischen
Kultur absorbiert wurde.
In indologischen
und zum Teil auch in Yogabüchern wird diese Entwicklung als historisch
klar bewiesen dargestellt. Es fehlt jedoch eine archäologische Beweisführung
für den tatsächlichen Sieg der Indogermanen über die Indusbewohner.
Man weiß nur von dem Nebeneinander der hellhäutigen Inder,
die aussehen wie Europäer und überwiegend in Nordindien leben,
und der dunkelhäutigeren Drawiden in Südindien. Ebenso bestehen
auch zwei verschiedene Sprachfamilien in Indien: die indogermanischen
Sprachen, die vom Sanskrit abgeleitet sind, und die drawidischen Sprachen.
Die Theorie stützt sich hauptsächlich auf die Sprachwissenschaft
und die Ethnologie.
Die zeitliche
Bestimmung ist deshalb so schwierig, weil die Inder auf Palmblätter
schrieben, die nach ein paar hundert Jahren vollständig zerfallen
waren und immer wieder kopiert, also abgeschrieben, wurden. Man findet
keine uralten Originale. Um 250 v.Chr. ließ Ashoka (Maurja-König,
259 v.Chr.) einige Schriften in große Steinstelen meißeln.
Dabei handelt es sich allerdings um buddhistische Inschriften.
Nach klassischer indischer Chronologie sind die Schriften zu Beginn des Kali Yuga entstanden, also um 3500 v.Chr.. Die mündliche Überlieferung geht noch erheblich weiter zurück. Zu Beginn
des Kali Yuga, des Eisernen Zeitalters, erkannte Vyasa, ein großer
Yogi und Rishi, daß die Menschen sich nicht mehr so viel merken
können, daß außerdem die Lebensspanne abnehmen und die
ganze Zivilisation materialistischer werde. Er erhielt spirituell den
Auftrag, das Wissen in den Veden festzuhalten. So hat er die Veden aufgeschrieben,
unterteilt und anschließend auch die anderen Schriften formuliert.
Nach der
indischen Mythologie hat Vyasa den größten Teil aller indischen
Schriften selbst verfaßt. Man geht davon aus, daß er die
Veden persönlich geschrieben hat. Die Puranas hat er gesammelt und
seinem Sohn Sukadev weitergegeben, der ein fotografisches Gedächtnis
hatte und sie seinerseits weitererzählte, so daß sie zum Teil
erst etwas später niedergeschrieben wurden. Die Itihasas, zum Beispiel
die Mahabharata, soll er selbst schriftlich festgehalten haben. Die Smritis
entstanden zum Teil etwas später.
Es gibt neuerdings
auch einige Untersuchungen der Veden unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten.
Die Inder sind sehr wissenschaftlich orientiert. Sie haben die
Atombombe, ihre Satelliten kreisen im Weltraum und sie sind in der
Computerwissenschaft,
beim Programmieren, an der Weltspitze. Aber immer wieder erkennen
indische Top-Wissenschaftler, daß auch die westliche Wissenschaft
ihre Grenzen hat, und sie analysieren mit ihrem wissenschaftlichen
Handwerkszeug die
alten Schriften und entdecken dabei interessante Parallelen.
Beispielsweise
gibt es eine Analyse des Sternenhimmels zur vedischen Zeit. Der in
den Veden beschriebene Sternenhimmel war ein anderer als der heutige.
Da
die Erde leicht schief im Weltraum kreist, verschiebt sich der Sternenhimmel
von der Erde aus gesehen etwa alle 2000 Jahre um 30 Grad. Darauf
beruht das sogenannte platonische Jahr und darauf beruht auch, daß wir
uns jetzt im Zeichen des Wassermanns befinden. Und aus den in den Veden
beschriebenen Konstellationen der Hauptsterne, der Sternbilder, ihrem
Verhältnis zueinander, läßt sich eindeutig nachweisen,
daß es sich dabei um den Sternenhimmel der Zeit vor 3500 v.Chr.
handelt – und nicht um den von 1500 v.Chr. Demnach wäre praktisch
der gesamten westlichen Orientalistik der Boden entzogen, alle bisherigen
Theorien in Frage gestellt und die Veden eindeutig um 3500 v.Chr.
entstanden.
Dann hätten
die Veden zur Zeit der Induskultur schon bestanden und die Indogermanen
hätten sie nicht mitgebracht, sondern mehr oder weniger übernommen.
Es gibt noch eine andere interessante Theorie, die Swami Vishnu gelegentlich erzählt hat. Sie ist in den Schriften erwähnt, es gibt aber dafür – wie für die der westlichen Orientalistik – keine archäologische Beweisführung: Danach wären wir die Nachfahren der Induskultur. Krishnas
nordindischer Volksstamm der Yadavas war besonders heldenhaft. Krishna
wollte aber nicht in die Politik und die Kämpfe seiner Zeit hineingezogen
werden. Deshalb schuf er aus seiner Yoga Maya – seiner Yogakraft – einen
Kontinent namens Dvaraka, vor Indien gelegen, auf den er mit seinem Volk
auswanderte, um dort ein ideales Staatswesen zu gründen. Aber selbst
Krishna ist an den Menschen gescheitert. Er schuf ein gut funktionierendes
Wirtschaftssystem, so daß es allen gut ging. Aber wie es so ist,
wenn es einem Menschen sehr gut geht, der Schritt zu Korruption und Materialismus
ist nicht weit. Daher bestimmte Krishna, daß der Kontinent nach
seinem Tod untergehen solle und beauftragte seinen Schüler Arjuna,
die Yadavas alsbald nördlich der großen Schneeberge zu führen.
Und so geschah es. Krishna starb; damit begann das Kali Yuga; Arjuna
ging nach Dvaraka, erfüllte Krishnas Wunsch und zog mit den Yadavas – zumindest
mit denen, die ihm glaubten, was nicht die Mehrheit war –, nördlich
des Himalaya, verließ sie dort und kehrte selbst nach Indien zurück.
Danach wären wir Nachfahren des Volksstammes der Yadavas.
Man könnte
die Geschichte von Dvaraka auch deuten als Geschichte von einem
untergegangenen Kontinent, von dem die Menschen ihre Zivilisation mitgebracht
haben.
Schließlich
gibt es noch die Theorien, wonach die gesamte irdische Zivilisation nicht
hier begonnen hat, sondern auf anderen Planeten. Und wenn man die Bücher
von Däniken liest oder die indischen Schriften oder die Bibel, dann
spricht durchaus einiges dafür. Man findet sehr oft Hinweise auf
fliegende Gefährte, zum Beispiel im Ramayana. Dort werden Flugzeuge
beschrieben, die großen Lärm machen, Feuer speien, und bei
einer bestimmten Geschwindigkeit – wie beim Durchbrechen der Schallmauer – gibt
es einen fruchtbaren Knall. Manche fliegen nur durch die Kraft der Gedanken
und sind noch erheblich schneller. Sie fliegen zu anderen Planeten und
kehren zurück. Hier eröffnet sich ein Gebiet wilder Ausführungen.
Von Däniken würde auch die Devas nicht als Engelswesen interpretieren, sondern als Wesen von anderen Planeten, die hierher
gekommen sind und
uns die Kultur gebracht haben.
Swami Vishnu
hat sich dazu nicht umfassend geäußert, aber er sagte, wir
seien nicht die erste Raumfahrtkultur, und die Zivilisation habe nicht
auf der Erde angefangen, denn die Zeit seit der Entstehung des Lebens
auf der Erde sei zu kurz gewesen, um sich so schnell so weit zu verändern
und zu entwickeln.
Es könnte
genauso gewesen sein, daß die Menschen der Induskultur hellhäutig
waren, zum großen Teil nach Zentralasien auswanderten und daß die
Drawiden in Südindien eine eigene Kultur hatten und sie sich Schritt
für Schritt geographisch annäherten ohne sich zu vermischen,
so daß die Hellhäutigen in Nordindien eine Kaste geblieben
sind. Wenn sie nach Süden kamen, haben sie dort die höheren
Kasten besetzt, und wenn Drawiden von Süd- nach Nordindien kamen,
bildeten sie dort die niederen Kasten.
Über
die Kastenentstehung gibt es noch eine andere Lehre, wonach die Kasteneinteilung
nicht durch Religionszuhörigkeit, sondern aus inneren Motiven entsteht.
Es gibt die vier Hauptwünsche des Menschen: Kama (Sinnesbefriedigung),
Arta (Wunsch nach Reichtum), Dharma (Wunsch nach Gerechtigkeit und Selbstverwirklichung
im modernen westlichen Sinn) und Moksha (Befreiung). Diejenigen, die
hauptsächlich nach Sinnesbefriedigung, einem einfachen Leben streben,
werden die Shudras. Sie verrichten ihre Arbeiten, haben nicht zu viele
Pflichten, keine sehr lange Arbeitszeit und können ihre Sinne auf
einfache Weise befriedigen. Diejenigen, denen es hauptsächlich um
Reichtum und Macht geht, werden die Vaishyas, die Bauern und Kaufleute.
Wenn Menschen, die reich werden wollen, die Wirtschaft beherrschen, dann
floriert diese. Wenn gerechtigkeitsliebende Menschen versuchen, Unternehmen
aufzubauen, können sich häufig Schwierigkeiten ergeben. Wer
anderen helfen und dienen will, wem es um Gerechtigkeit und das Wohl
der Gesellschaft geht, der soll die Regierung übernehmen. Das ist
die Kaste der Kshatriyas. Kshatriyas sind nicht nur Krieger, sondern
auch Beamte, diejenigen, die die Verwaltung organisieren. Und dann gibt
es Menschen, denen es hauptsächlich um Moksha, Befreiung und Selbstverwirklichung,
geht. Das sind die Brahmanen, die Priester. Manche Brahmanen nehmen auch
Arbeiten an, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können,
vielleicht vier bis sechs Stunden am Tag, so daß sie einen Teil
des Tages arbeiten und den Rest der Zeit mit Studium und Sadhana verbringen
können. Und anders als bei uns im Westen ist es nicht so, daß man
mehr Rechte hat, je höher die Schicht, und um so weniger Rechte,
je niedriger die Schicht ist, sondern umgekehrt. Je höher die Schicht,
um so mehr Restriktionen unterliegt man. Die Shudras können mehr
oder weniger essen was sie wollen und ihren Tag verbringen wie sie wollen.
Die Brahmanen hingegen haben strikte Eßregeln, müssen früh
zu einer bestimmte Zeit aufstehen, dreimal am Tag ein Bad nehmen, sich
an hygienische und allgemeine Vorschriften und Rituale halten. Je höher
die Schicht, desto schwieriger das Leben, je niedriger die Schicht, desto
einfacher. Die eigene Natur (Swarupa) bestimmt die Kaste (Varna) und
Swadharma, die eigenen Aufgaben. So steht es in den Schriften. Unabhängig
davon läßt sich aber nicht leugnen, daß die Hellhäutigen
die höheren Kasten stellen. Es könnte sein, daß man das
ursprüngliche Kastensystem später modifiziert und die höheren
Kasten den Herrschenden zuerkannt hat.
Als die Menschen ursprünglich die Schriften schufen, haben sie sich natürlich nicht an irgendwelchen Kriterien orientiert. Alle Einteilungen sind erst nachträglich entstanden, als man eine logische Aufgliederungen der Schriften plante. Die Einteilungen sind auch in verschiedenen Schulen unterschiedlich. Die indischen
Hauptschriften gliedern sich in vier Teile:
Veden
Smritis Puranas Itihasas Ramayana und Mahabharata Sie sind die ältesten, ursprünglichen indischen Schriften. Die Veden
werden auch als Shrutis bezeichnet. Shruti heißt wörtlich
'das Gehörte', wobei damit nicht gemeint ist, daß man es mit
den Ohren gehört hat – sondern so, wie wir im Deutschen sagen würden,
man hat Gott geschaut. Damit ist nicht gemeint, man habe ihn wirklich
gesehen – er hatte zwei Augen und einen Bart –, sondern es bedeutet Schau
im Sinne einer Enthüllung, Offenbarung. Shrutis sind das Gehörte,
das man als Offenbarung empfangen hat. Daher irrt auch die westliche
Theologie, wenn sie zuweilen behauptet, nur Judentum, Christentum und
Islam seien die großen Offenbarungsreligionen, neben denen
es nur Primitivreligionen gebe.
Veda heißt
Wissen – Wissen, das den Rishis, den Sehern, enthüllt, offenbart
worden ist. Es heißt, das gesamte Wissen der Menschheit sei in
den Veden enthalten. Brahma, der Schöpfer, soll vor der Erschaffung
der Welt erst die Veden geschaffen haben. Natürlich hat er sie nicht
zuerst aufgeschrieben – wo und wie hätte er sie auch aufschreiben
sollen! – aber Veda als das Wissen um die Gesetze des Universums braucht
man zuerst, um anschließend die Welt zu erschaffen. Und aus welchem
Material hat er sie geschaffen? Er hat Tapas (Askese) geübt, daraus
Energie gewonnen und mit dieser Energie und seinen Gedanken die Welt
geschaffen. Das ist einer der vielen Schöpfungsmythen, die man
in Indien findet.
Die Veden
sind Sammlungen einzelner Enthüllungen, die verschiedenen Rishis
gewährt, von ihnen an Schüler weitergegeben und von Vyasa gesammelt
und aufgeschrieben wurden. Zusammengefaßt würden sie viele
Bände ausmachen. Diese Schriftensammlung ist in vier Hauptteile
gegliedert:
Rigveda
Samaveda Yajurveda Atharvaveda Man kann
nicht genau sagen, was das Hauptthema jedes Veda sei. Zwar wird manchmal
verkürzend gesagt, Rig behandle die Schöpfung, Sama die
Musik, Yajur die Opferzeremonien und Atharva magische Praktiken.
Letztlich unterscheiden
sie sich jedoch in der Melodie, mit der sie gesungen werden. Rigveda
ist eine bestimmte Singweise, Samaveda ist eine ganz andere und Yajur
und Atharva jeweils wieder eine andere.
Jeder dieser
vier Hauptveden besteht wiederum aus vier Teilen:
Die Samhitas
sind die Hymnen oder Mantras. Dies ist der wichtigste Teil vom mythologischen
Gesichtspunkt her. Bei einer Puja (Opferzeremonie) oder Yajna (Feuerritual)
rezitiert man Samhitas. Die Aranyakas geben Erklärungen und Erläuterungen
dazu. Die Brahmanas beschreiben die rituelle Anwendung und die genaue
Ausführung der Rituale. Alle drei zusammen bilden den Karma-Kanda-Teil
der Veden, der sich mit Ritualen beschäftigt.
Die Upanishaden bilden den Jnana Kanda, den Teil, bei dem es um Wissen und Weisheit geht. Sie stellen den metaphysischen, philosophischen Abschnitt der Veden dar, in dem grundlegende Fragen behandelt werden wie "Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, was ist der Sinn des Ganzen, wie erlange ich Befreiung?". Sie sind der für den Yoga wichtigste Teil mit den Grundlagen des Jnana Yoga.
Man nimmt
an, daß die Smritis um 1200 bis 500 v.Chr. geschrieben wurden.
Allerdings differieren die Zeitangaben in Büchern und Artikeln über
Orientalistik um ein paar Jahrhunderte.
Smriti heißt
wörtlich 'Erinnerung'. Die Smritis sind die Gesetzbücher, die
Umsetzung der Shrutis, der Weisheit der Veden, in Regeln und Gesetze
und deren Anwendung im täglichen Leben. Shrutis sind die ewige Wahrheit,
das, was immer bleibt; Smritis sind veränderlich.
Es gibt sehr
viele verschiedene Smritis. Sie ändern sich auch je nach den gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen, kulturellen Umständen der Zeit. Ursprünglich
waren es sehr hilfreiche gesellschaftliche Regeln für das Zusammenleben
von Menschen aus verschiedenen Kulturen, Religionen, Kasten, Generationen.
Im Laufe der Zeit sind sie immer mehr verkrustet und es gab mehr und
mehr Vorschriften. Ähnliches erleben wir ja auch bei uns. Jedes
Jahr verdoppelt sich die Menge an Gesetzen. Man kann beinahe nichts mehr
machen, ohne irgendein Gesetz zu übertreten – unabhängig davon,
ob man es kennt oder nicht. Man stelle sich vor, dies gehe noch zwei-
oder dreihundert Jahre so weiter... Und so ähnlich haben sich auch
die Smritis entwickelt. Die Verkrustungen rissen aber auch ab und zu
wieder auf, sie wurden überarbeitet und neu geschrieben. Ein paar
Jahrhunderte nach Christus hat das Aktualisieren und Anpassen der Smritis
ausgesetzt. Daraus resultiert manche Unschönheit der hinduistischen
Gesellschaft. Die großen Yogis der Gegenwart sagen, es müsse
einen neuen Manu geben, also einen neuen Gesetzgeber, der Regeln vorgibt,
wie man diese klassische Spiritualität in das praktische Leben integrieren
kann, wie eine ideale Gesellschaft beschaffen sein müßte,
die religiös, spirituell, orientiert ist und trotzdem auch den Nicht-Spirituellen
gerecht wird. Das ist ja das große Kunststück dabei.
Die alten
Smritis, in denen zum Beispiel die vier Ashramas (Lebensstadien) und
die vier Varnas (Kasten) idealtypisch beschrieben sind, sind durchaus
kunstvoll und faszinierend.
Im übertragenen,
weiteren Sinne ist Shruti das Unveränderliche und Smriti allgemein
die Anpassung an das tägliche Leben. Auch im Yoga muß man
immer wieder überlegen, was ist das Unveränderliche, Ursprüngliche
und was ist eher zeit- und kulturbedingt. Hier sind die indischen Yogalehrer,
die in den Westen kommen, durchaus unterschiedlicher Meinung. Kein wirklich
authentischer Yogi würde wohl behaupten, Yoga bestehe nur aus ein
paar Entspannungsübungen. Aber manche sagen, es gehe im Yoga nur
um die Transformation des Bewußtseins, mit dem Ziel, zur Einheit
zu gelangen. Wie wir das erreichen, sei unwesentlich und weder Mantrasingen
noch Vegetarismus seien dafür notwendig. Bei Yoga Vidya haben wir
einen eher klassischen Standpunkt. Mantrasingen, Vegetarismus und die
Philosophie der Reinkarnation gehören bei uns zum ganzheitlichen
Yoga. Letztendlich muß jeder für sich zu einer Entscheidung
kommen, wo er keine Kompromisse machen darf und wo Kompromisse nötig
sind, um die Prinzipien im praktischen Leben überhaupt umsetzen
zu können.
Also Shruti, die hohe Wahrheit und Smriti, die praktische Umsetzung.
Die Puranas
sind Göttergeschichten. Die Itihasas sind die sogenannten Heldenepen,
wo zwar auch Götter eine Rolle spielen, es aber in der Hauptsache
um Menschen geht, ähnlich wie in den griechischen Götter- und
Heldensagen: Im ersten Teil spielen die Götter die Hauptrolle, im
späteren Teil, in der Odyssee und Äneis, die Menschen.
Die bekannteste
der Puranas ist die Bhagavatam, welche für die Hare-Krishna-Bewegung
eine besondere Bedeutung hat, aber nicht nur für sie. Swami Vishnu
hat sie auch gerne gelesen. Sie erzählt Geschichten von Vishnu
und Krishna. Die bekanntesten Itihasas sind das Ramayana und das
Mahabharata.
Puranas und
Itihasas waren für das "gemeine Volk" bestimmt. Die Shrutis und
Smritis waren den Brahmanen vorbehalten, die zwölf Jahre studiert
hatten. Ähnlich wie das BGB und das HGB mehr für die Juristen
ist, und gleichfalls die Straßenverkehrsordnung, während das "gewöhnliche
Volk" im Theorieunterricht einen Teil davon lernt.
So ähnlich
muß man es hier auch sehen. Puranas und Itihasas erklären
die spirituellen Prinzipien auf einfache Weise. Denn die Menschen haben
immer schon lieber Romane gelesen als philosophische Abhandlungen und
sehen heute lieber Liebesfilme und Krimis als Videos über spirituelle
Themen oder absolute Wahrheiten. Die zwei Dinge, die den Menschen schon
immer am meisten fasziniert haben, sind Sex und Gewalt, Liebe und Krieg.
Daher sind die Puranas und Itihasas voll von Liebesgeschichten, kriegerischen
Eroberungen und menschlichen Dramen. Aber dazwischen ist die spirituelle
Botschaft verpackt. Ab und zu trifft jemand einen Weisen, fragt ihn etwas
und der Weise antwortet. Die Erzählung darf dann zwar nicht
zu lange dauern, sonst schalten die Menschen wieder ab, aber es kann
wie in der
Bhagavad Gita durchaus achthundert Verse umfassen. Die Bhagavad Gita
ist ja Teil der Itihasas.
Nach der
Theorie westlicher Orientalisten sollen die Puranas und Itihasas
ein paar hundert Jahre vor Christus geschrieben worden sein, wobei
schon
das drawidische Gedankengut eingeflossen ist, so daß die alten
vedischen Götter wie Indra, Varuna und Agni nicht mehr zentral waren.
Man hat sie mehr als Engelswesen angesehen. Dafür wurden die neuen
Götter wie Brahma, Vishnu, Shiva, Durga, Lakshmi, die noch älter
waren, wieder bedeutender.
Seit dieser
Zeit kann man in Indien hauptsächlich drei religiöse Strömungen
unterscheiden. Wie im Christentum die Hauptströmungen Katholizismus,
Orthodoxie und Protestantismus, gibt es im Hinduismus mehrere religiöse
Hauptrichtungen:
Shaivismus
Vaishnavismus Shaktismus = Tantrismus Die Shaivas
verehren besonders Shiva, die Vaishnavas Vishnu als höchsten Gott
und die Shaktas Shakti Devi, die Göttin als kosmische Mutter.
Sie werden auch als Tantriker bezeichnet.
Innerhalb
dieser Richtungen gibt es jeweils noch zahlreiche Untergliederungen.
Manche Shaktas verehren Durga besonders oder Lakshmi oder Kali. Aber
mehr oder weniger werden alle miteinander gleichgesetzt; es sind einfach
Manifestationen der gleichen Shakti.
Auch manche
Puranas sind mehr auf einen Aspekt der Gottheit ausgerichtet. Es
gibt zum Beispiel Shiva Puranas, Vishnu Puranas (die Bhagavatapurana,
kurz
Bhagavatam genannt) und die Shakti Puranas. Alle Unterströmungen
haben ihre eigene Kultur, Riten, Religionen, Tempel und so weiter.
Letztlich
kann man sagen, dem indischen Kastenwesen liegt eine multikulturelle
Gesellschaft zugrunde, wobei jede Kaste ihre eigene Weise der Verehrung
hat. Jede Kaste organisiert sich selbst, regiert sich selbst, und
das in ganz unterschiedlicher Weise. Manche sind demokratisch, bei
manchen
ist die Herrschaft über die Gemeinschaft eher erblich, bei anderen
durch Los bestimmt. Wir kennen im Westen oft nur die vier Hauptkasten:
Brahmanen, Kshatriyas, Vaishyas und Shudras. Von größerer
Bedeutung ist aber die Unterkaste in einer Gemeinschaft. Es gibt Tausende
solcher Unterkasten. Für das Gelingen des Zusammenlebens muß alles
geregelt sein, und jede Unterkaste hat eine bestimmte Aufgabe in der
Gesamtgesellschaft. Die Unterkaste ist oft mit einem oder einigen ausgewählten
Berufen gekoppelt, die dann vererbt werden. Man heiratet normalerweise
nur innerhalb seiner Kaste oder es gibt bestimmte Kasten, in die man
gegebenenfalls hineinheiraten kann. Jede Kaste hat ihre religiösen
Riten, die selbst oder von Priestern ausgeführt werden. Damit diese
Selbstorganisation funktioniert, schuf man höhere und niedrige Kasten
mit der zusätzlichen Zuteilung zu den vier Hauptkasten. Je nach
Macht und Einfluß konnte sich die Rangordnung der Unterkasten auch
wieder ändern.
Yoga war
in Indien immer religionsübergreifend. Yoga ist die Mystik hinter
der Religion, wenn man das Göttliche nicht nur glauben, sondern
wirklich erfahren will. Man geht nicht nur einfach in den Tempel, nimmt
das Prasad oder macht ein paar Riten, um etwas Bestimmtes zu bekommen,
so wie Menschen in die Kirche gehen und Kerzen opfern für einen
besonderen Wunsch. Oder man macht eine Art Handel mit Gott, wie das zu
meiner Kindheit üblich war: Wenn ich in der Klassenarbeit eine Eins
schreibe, opfere ich fünf Mark oder helfe meiner Mutter eine Woche
beim Abwaschen oder Ähnliches. Heute kommt das wohl etwas aus der
Mode. Leider, denn es ist eine frühkindliche Form von Glauben und
Spiritualität, die gerade dann, wenn es auch tatsächlich glückt,
einen Menschen irgendwie auf die erste Stufe des Glaubens setzt. Wenn
es nicht funktioniert, kann man allerdings vielleicht schon als Kind
zum Atheist werden... Jetzt hat man Gott schon fünf Mark versprochen
und trotzdem hat man eine Sechs in der Klassenarbeit geschrieben – das
verzeiht man Gott nicht so schnell! Solche Dinge sind auch in Indien üblich.
Aber Yoga umfaßt eben die Techniken in all diesen verschiedenen
Traditionen, die dazu verhelfen wollen, das Göttliche selbst
direkt zu erfahren und zu einer authentischen spirituellen Entwicklung
zu kommen.
Die vier
orthodoxen Hauptschriften – die Veden bzw. Shrutis, Smritis, Puranas
und Itihasas – werden von allen Hindus als Autorität anerkannt.
Für
den Yoga von besonderer Bedeutung sind die Upanishaden, die Quintessenz
der Veden, und von den Itihasas die Bhagavad Gita als Teil des
Mahabharata.
Daneben gibt
es zahlreiche spätere, nicht-orthodoxe Schriften, die sich jeweils
nur auf ein Teilgebiet oder eine bestimmte Glaubensrichtung beziehen
und nicht von allen Hindus anerkannt werden. Dazu gehören zum Beispiel
die Sutras. Eine Sutra ist ein Leitfaden und die kürzeste Weise,
etwas auszudrücken, während Puranas und Itihasas die längstmögliche
Weise sind, etwas auszudrücken. Das Mahabharata ist bis heute das
längste Epos der Weltliteratur. Alle deutschen oder englischen Ausgaben
sind nur Zusammenfassungen. Das Original ist für unseren heutigen
schnellebigen Geist auch etwas zu langatmig.
Für den Yoga von größter Bedeutung sind Yoga Sutras von Patanjali über den Raja Yoga und die Brahma Sutras über das Jnana Yoga. Daneben gibt es noch sehr viel mehr Sutras über verschiedenste Bereiche.
Das Wort
Tantra hat eine vielfältige Bedeutung. Zum einen bezeichnet Tantra
neben Shaivismus und Vaishnavismus eine der drei Hauptreligionsrichtungen
Indiens. Zum zweiten ist Tantra ein bestimmtes Philosophiesystem, nämlich
die Shiva-Shakti-Philosophie. Und zum dritten ist Tantra der Name für
einen bestimmten Schrifttyp, die Agamas, die jeweils nur einer Tradition
zugeordnet sind. Es gibt Vishnu Agamas, Shiva Agamas und Shakti Agamas,
wobei die Shakti Agamas als Tantra bezeichnet werden.
Diese Tantras haben wieder eine besondere Bedeutung fürs Yoga, denn die Hatha-Yoga-Schriften und auch die Mantra Shastras sind ein Teil davon.
Es gibt vier
Hauptschriften des Hatha Yoga:
Hatha Yoga
Pradipika
Geranda Samhita Shiva Samhita Goraksha Sadhaka In diesen
Schriften sind die Mudras beschrieben, die Bandhas, die Asanas, alle
Konzentrationstechniken, die Kriyas und die Hatha-Yoga-Meditationstechniken,
zum Teil die Theorie über Kundalini Yoga, über Chakras und Nadis.
Die sechs
Philosophiesysteme werden auch als Darshanas bezeichnet. Darshan
heißt
wörtlich Sichtweise. Man könnte es auch durchaus mit Weltanschauung übersetzen.
Aber es ist eine Sichtweise, es ist nicht die absolute Wahrheit.
Jedes Philosophiesystem
ist nur ein Versuch, die Wahrheit zu beschreiben. Eigentlich kann
man die Wahrheit nicht in Worte fassen. Sie kann nur direkt erfahren
werden.
Wenn man sie erfahren hat und anderen vermitteln will, muß man
erneut Worte oder Bilder gebrauchen, was wiederum begrenzend ist. Daher
gibt es auch sechs Darshanas mit unterschiedlichen Standpunkten, die
jedoch aus indischer Sicht keine Widersprüche sind, sondern
nur verschiedene Sichtweisen der gleichen Wirklichkeit.
Jedes Darshana
ist ein Philosophiesystem, das versucht, Antworten zu geben auf die
großen
Fragen: Was ist die Welt? Woher kommt die Welt? Was ist der Mensch? Was
ist Glück? Gibt es Gott? Was ist Gott? Was ist Leid? Was ist
das Ziel des Lebens? Und wie kommt man dorthin? Wie kommt man zur
Befreiung?
Diese sechs
Darshanas heißen:
Purva Mimamsa
Vaisheshika Nyaya Samkhya Yoga (im engeren Sinn, bezogen auf das Yoga-System von Patanjali) Uttara Mimamsa (= Vedanta) Purva Mimamsa
ist eine theistische Philosophie. Gott hat die Welt geschaffen. Das
Ziel des Lebens ist es, in den Himmel zu kommen. Zu vermeiden gilt
es, in
die Hölle zu kommen. Um in den Himmel zu kommen, muß man Punyas
(Verdienste) ansammeln und Papas (Sünden) vermeiden. Durch Papas
zieht man erstens schlechtes Karma auf sich, zweitens kommt man in die
Hölle und drittens wird man im nächsten Leben sehr schlecht
wiedergeboren. Wenn man dagegen Punyas sammelt, erwirbt man künftiges
Vergnügen, kommt in den Himmel und das nächste Leben ist
um so besser. Diese Philosophie ist in Indien wohl am verbreitetsten.
Sie ist etwas
differenzierter als die christliche Himmel- und-Hölle-Philosophie,
wonach man auf ewig in die Hölle oder den Himmel kommt, wobei es
eigentlich keinen Sinn macht, daß ein Leben von durchschnittlich
70 oder oft auch weniger Jahren darüber bestimmen soll, daß man
Trillionen von Jahren in der Hölle braten muß. Könnte
so etwas ein liebender Gott wollen?
Man muß natürlich
wissen, daß die Christen früher glaubten, die Welt existiere
erst ein paar tausend Jahre und werde bald untergehen. So gesehen
dauert die Ewigkeit auch gar nicht so lange.
Aber die
Inder sind schon immer davon ausgegangen, daß es Trillionen
von Trillionen von Trillionen Leben gibt, und da ist die Ewigkeit
schon sehr
lange.
Purva Mimamsa
beschreibt sowohl positive als auch negative Handlungen im täglichen
Leben und beinhaltet auch ethische Gesichtspunkte. Wenn man anderen hilft,
ist es Punya, wenn man andere schädigt, ist es Papa. Darüber
hinaus bestehen zahlreiche Reinheitsvorschriften. Beachtet man sie, gibt
es Punya, andernfalls Papa. Daneben muß man einige Handlungen unbedingt
ausführen, die weder Punya noch Papa sind; unterläßt
man sie jedoch, dann gibt es Papa. Führt man sie hingegen verstärkt
aus, gibt es Punya.
Dieses System
von Handlungsvorschriften enthält noch einen weiteren Aspekt: Wenn
man etwas Bestimmtes erreichen will, kann man dafür vorgeschriebene
Rituale vollziehen. Angenommen, man will reich werden – gut, eine Möglichkeit
wäre, fleißig zu arbeiten –, die andere, besondere Rituale
zu diesem Zwecke auszuführen. Dabei würde man Lakshmi auf eine
spezielle Weise verehren, eine Yajna (Opferzeremonie), Tapas (Askeseübungen)
und so weiter machen. Darauf folgt der Segen von Lakshmi und man
wird reich.
Oder angenommen
man wünscht sich ein Kind. Dann muß man bestimmte Pilgerreisen
machen, vorgeschriebene Mantras wiederholen, den Brahmanen eine gewisse
Anzahl Kühe schenken, Almosen oder Hospitäler für
Arme stiften. Wenn man das auf richtige Weise macht, bekommt man
das Kind.
Oder man
will heiraten und findet keinen passenden Partner oder der Mann,
den man gerne hätte, ist schon vergeben oder möchte nicht oder
die Familie weigert sich. Dann gibt es präzise Rituale, den Mann
in sich verliebt zu machen, alle Hindernisse verschwinden zu lassen und
schließlich die Heirat herbeizuführen.
Wenn man
schlechte Taten begangen hat und nach einiger Zeit von Gewissenskonflikten
geplagt wird, gibt es Bußübungen, die je nachdem, um welche
Tat es sich handelt, ganz genau vorgeschrieben und auch recht drastisch
sind. Es kann sein, daß man zwei Jahre in die Einöde gehen
und 12 Stunden am Tag Askeseübungen machen muß. Oder man muß sein
ganzes Vermögen den Armen zur Verfügung stellen oder sich
vier Jahre als Diener im Tempel verdingen. In gewisser Hinsicht ist
das durchaus
eine kluge Weise, mit Schuld umzugehen, wenn man die Tat wirklich
bereut.
Aber es kann
auch zu Scheinheiligkeit und Berechnung führen, dann nämlich,
wenn wir bewußt bereit sind, etwas Unrichtiges zu tun, Nutzen davon
haben und anschließend einfach einige Bußübungen
machen, um kein schlechtes Karma zu bekommen.
Diese Praxis hat Ähnlichkeit mit bestimmten Formen des katholischen Christentums, wobei die Bußen dort relativ harmlos waren (zum Beispiel die mittelalterlichen 'Ablaßkäufe'), und am Schluß werden die Sünden vergeben.
In der Bhagavad
Gita liest man oft von Papa, Sünden. Gerade im ersten Kapitel spricht
Arjuna davon, denn er hat große Angst, Sünden auf sich zu
laden. Und Krishna sagt zum Schluß:
Sarvadarmam
parityaja
Mam ekam sharanam vraja Aham twa sarvapapebhyo Mokshaishyami ma suksha Alle Dharmas
aufgebend,
nimm Zuflucht zu Gott allein. Er wird Dich von allen Unvollkommenheiten befreien, sorge Dich nicht. (Bhagavad Gita XVIII, 66) Krishna wendet
sich in der Bhagavad Gita anfangs noch recht diplomatisch, später
ganz entschieden gegen diese Philosophie, während Arjuna ihr zunächst
anhängt. Wörtlich sagt Krishna: "Blumige Worte finden die Weisen,
die an den rühmenden Worten der Veden Gefallen finden, oh Arjuna,
und sagen, es gibt nichts anderes. Sie sind voller Wünsche. Der
Himmel ist ihr Ziel und das Ergebnis ihres Tuns ist neuerliche Geburt.
Sie schreiben verschiedene Methoden mit einer Überfülle von
bestimmten Handlungen vor, um Vergnügen und Macht zu erlangen. In
Menschen, die an Vergnügen und Macht hängen und deren Geist
durch solche Lehren gelenkt wird, bildet sich nicht diese Bestimmtheit,
die stets auf Meditation und Samadhi ausgerichtet ist."
Letztlich
mag es sein, daß die Purva-Mimamsa-Philosophie bestimmten Naturgesetzen
folgt, aber laut Krishna geht es ihren Anhängern nicht wirklich
darum, die Selbstverwirklichung zu erreichen. Sie kommen zwar in den
Himmel, erreichen vielleicht Macht und Vergnügen, aber es führt
nicht zur Befreiung, sondern in die Verhaftung hinein. Man hat ja nichts
davon, wenn man reich wird. Ob wir nun reich werden, indem wir vierzehn
Stunden am Tag arbeiten, sieben Tage in der Woche ohne Pause oder ob
wir dafür Rituale machen, das Ergebnis ist das gleiche, nämlich
Bindung.
Trotzdem,
das Purva-Mimamsa-System hat durchaus auch seine Aufgabe. Es erklärt
bestimmte Funktionsweisen von Karma wie Ursache und Wirkung und Kompensation.
Die verschiedenen Sühnerituale und Vorschriften können für
die Mehrheit der Menschen, die sich unter Befreiung nichts vorstellen
können, eine gute Motivation für ein ethisches Leben darstellen
und helfen, mit schwierigen menschlichen Problemen wie Schuld und Sühne,
Gerechtigkeit, Ärger usw. besser umzugehen.
Einiges könnte man auch durchaus in den Yoga integrieren. Es ist sicher sinnvoll, irgendwie Buße zu tun, wenn man eine schlechte Handlung begangen hat – am besten natürlich gegenüber dem betroffenen Menschen. Man kann sich entschuldigen und versuchen, die Sache gutzumachen. Manchmal ist das nicht möglich, entweder weil der Geschädigte so erzürnt ist, daß er keine weitere Tat erlaubt, oder weil er nicht in der Nähe ist und man nichts mehr mit ihm zu tun hat. Dann kann man stattdessen irgendeine Sühneübung vollziehen.
Und auch
in Bezug auf das Karma können wir von dieser Mimamsa-Philosophie
lernen. Solange wir noch nicht so weit sind, vollständig egofrei
zu handeln, können wir uns wenigstens zu guten Handlungen motivieren,
indem wir uns sagen, Schlechtes kommt nur auf uns zurück. Und umgekehrt
lernen wir auch, nicht an anderen Rache zu üben. Im Alten Testament
heißt es: "‚Mein ist die Rache', spricht der Herr." Jemand, der
eine schlechte Handlung ausführt, richtet sich selbst zugrunde.
So wie Jesus auch in einem der Evangelien sagt: "Es muß ja Übles
kommen, aber wehe dem, durch den es kommt!" Wir müssen unser Karma
ernten. Wer uns gegenüber schlecht handelt, ist für uns zwar
ein Diener des Karmas, aber er selbst wird darunter leiden müssen,
wenn er es bewußt macht. Nicht umsonst sagt Jesus noch am Kreuz: "Vater,
vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun". Denn er wußte, für
ihn war es vorbestimmt, so zu sterben und er hat es auf sich genommen.
Aber für die anderen, die ihn ans Kreuz nageln, bringt es schlechtes
Karma mit sich. Wir sollten Mitleid mit denjenigen haben, die uns bestehlen
oder ungerecht behandeln. Sie richten sich selbst zugrunde und schaffen
sich ihr eigenes Leiden. Uns geben sie Gelegenheit zu wachsen und sind
das Werkzeug dafür, daß wir unser eigenes Karma ausarbeiten
und klären können. Wenn man das verstanden hat, gewinnt
man auch eine gewisse Gelassenheit.
Ich muß zugeben,
in meinem Leben gab es eigentlich nie Menschen, die sich mir gegenüber
besonders bösartig benommen hätten. Aber es gab schon mal jemanden,
der mich hinterrücks schlecht gemacht und angeschwärzt hat,
was auch Konsequenzen für mich hatte. Im ersten Augenblick war ich
natürlich schon ein bißchen ärgerlich, aber ich habe
auch intuitiv geahnt, daß auf ihn nichts Gutes zukommen wird. Es
hat sich auch sehr schnell auf ihn ausgewirkt, ungefähr ein halbes
Jahr später, und für ihn zu einer ernsthaften Krise geführt.
Manchmal geht Karma sehr rasch. Manchmal braucht es auch ein, zwei oder
drei Leben dazwischen. Dann sind eben die Wirkungszusammenhänge
nicht so schnell zu erkennen. Auf dieser Ebene kann einem die Purva-Mimamsa-Philosophie
durchaus behilflich sein.
Aber vergessen
wir nicht die Kritik, die Krishna übt: "Allein danach zu handeln,
führt uns nicht weiter." Und erinnern wir uns auch daran, was Patanjali
gesagt hat: Für den weltlichen Menschen ist Karma dreifach, weiß,
schwarz und grau. Für den spirituellen Menschen ist es nichts davon.
Für ihn gibt es einfach nur Aufgaben, die zu erledigen sind. Es
gibt weder Gutes, noch Schlechtes, es gibt kein Karma über das wir
uns freuen oder über das wir uns zu ärgern brauchen und es
gibt auch keine Handlung, die wir ausführen, damit es uns im späteren
Leben gutgeht, sondern wir tun alles für andere Menschen oder
als Diener Gottes.
Vaisheshika
ist ein materialistisches Philosophiesystem, welches das Universum
als ein Zusammenspiel von Atomen, Kräften und Naturgesetzen ansieht
und auf logischem, eindeutigem, naturwissenschaftlichem Denken beruht. Danach
besteht die Welt aus sogenannten Anus, Atomen, und verschiedenen Kräften,
den Shaktis oder Energien.
Innerhalb
dieser Philosophie gibt es mehrere Richtungen. Die extremste sagt,
es gebe nur Materie. Auch die Seele ist ein Ausfluß der Materie. Lebensziel
ist es, sich zu vergnügen, wobei man die Rechte der anderen achten
und ihnen nicht schaden sollte, damit die Gesellschaft als Ganzes funktioniert.
Ein höheres Ziel gibt es nicht. Leiden bedeutet körperliche
Schäden oder Krankheiten, seine Wünsche nicht befriedigen zu
können oder mit seiner Umgebung Meinungsverschiedenheiten zu
haben.
Auf dieser
Ebene arbeiten weite Teile unserer materialistisch orientierten Wissenschaft,
obgleich beispielsweise die Physik in letzter Zeit davon abgekommen
ist, weil eben die physikalischen Gesetze letztendlich doch nicht so
funktionieren.
Trotzdem bleiben die meisten anderen Wissenschaftszweige weitgehend
in diesem rein logischen Denken, insbesondere solche, bei denen es
eigentlich
nichts zu suchen hätte, wie die Medizin und Psychologie, die den
Organismus rein materiell auffassen und alle anderen Gesichtspunkte vernachlässigen.
Dennoch hat
die Vaisheshika-Philosophie durchaus auch ihren Platz, zum Beispiel
in der Anatomie, beim praktischen Handeln im Alltagsleben oder bei
den Hatha-Yoga-Übungen
und ihren Wirkungen. Man darf die Naturwissenschaft nicht einfach außer
acht lassen. Auch als spiritueller Mensch sollte man das logische Denken
nicht nur auf die Unterscheidungskraft zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen
beschränken, sondern sie auch im täglichen Leben einsetzen,
zum Beispiel, um eine Leiter zum Dachboden zu bauen oder den Computer
zu reparieren. Jemand hat mir einmal gesagt, mit logischem Denken könne
man fast alle handwerklichen und technischen Probleme lösen. Das
war ein Augenöffner für mich. Früher hatte ich nämlich
immer großen Respekt vor solchen Sachen. Zum Beispiel stellte ich
in Frankfurt fest, daß in Deutschland keine Lampen installiert
sind, wenn man eine Wohnung bezieht und da saß ich nun: Von den
Decken hingen immer drei Drähte herunter – warum eigentlich drei?
In der Schule hatte ich immer nur von Plus- und Minuspol oder Phase und
Null gehört, aber was mit dem dritten sein sollte ... – gut, aber
mit Versuch und Irrtum und logischem Schluß habe ich dann tatsächlich
alle Lampen installiert. Also Vaisheshika, logisches Denken, ist auch
hilfreich, sowohl für die Gesundheit als auch im praktischen und
beruflichen Leben. Wenn man Erfolg im Beruf haben will, sollte man sich
nicht nur darauf beschränken, Lakshmi zu verehren, sondern auch
lernen, mit den notwendigen Instrumenten umzugehen, um seine Arbeit gut
ausführen zu können.
Unter dem
Begriff Nyaya sind zwei Philosophiesysteme zusammengefaßt, so daß es
eigentlich sinnvoller wäre, von sieben statt von sechs Philosophiesystemen
zu sprechen.
Eine Variante
von Nyaya ist das Philosophiesystem der Logik mit bestimmten logischen
Sätzen wie Schlußfolgerungen, Dialektik usw. ähnlich
der Logik des Aristoteles. Man könnte sie auch als eine Unterphilosophie
der Vaisheshika-Philosophie bezeichnen, eine materialistisch-rationale
Philosophie.
Die zweite
Variante von Nyaya ist eine stark Bhakti-orientierte, ausgesprochen
dualistische Philosophie der Hingabe. Gott hat die Welt geschaffen,
durchdringt sie
ganz und lenkt alles. Gott und Mensch sind auf ewig getrennt. Der
Mensch ist in seinem wahren Wesen eine Seele, die niemals eins werden
kann mit
Gott. Ursache des Leidens ist die Entfernung und Trennung von Gott.
Ziel des Lebens ist es, Gott möglichst nahe zu kommen. Der Weg
dazu ist bedingungslose Hingabe. Um diese Hingabe zu erzeugen, gibt
es zahlreiche
spirituelle Praktiken.
Das entspricht
durchaus einer auch im Christentum verbreiteten Sichtweise.
Die Hare-Krishna-Bewegung,
die auch im Westen recht bekannt geworden ist, beruht auf dieser Philosophie.
Bhakti hat
im Yoga natürlich auch einen großen Stellenwert, gerade um
das Ego zu überwinden und Hingabe zu üben. Man kann öfter
versuchen zu spüren, oh Gott, dein Wille geschehe, du machst
alles, ich allein kann nichts bewirken.
Samkhya ist
eine dualistische und atheistische Philosophie, in der eine ewige
Dualität
zwischen Purusha und Prakriti postuliert wird und Gott nicht vorkommt.
Purusha verhält sich zwar wie Gott, wird aber einfach als Bewußtsein bezeichnet. Purusha ist das Bewußtsein, die Seele, Prakriti ist die Welt. Purusha im Samkhya entspricht Brahman im Vedanta oder Shiva im Tantra. Prakriti entspricht Maya im Vedanta und Shakti im Tantra. Purusha und
Prakriti waren von Anfang an und sind auf ewig getrennt, aber ursprünglich
war Purusha in sich selbst zufrieden. Es gab nur eine allumfassende,
undifferenzierte Prakriti, eine homogene unmanifestierte Mischung aus
Sattwa, Rajas und Tamas in vollkommenem Gleichgewicht. Solange die drei
Gunas (Grundeigenschaften der Natur) in vollkommenem Gleichgewicht sind,
gibt es keine Schöpfung.
Nun ist Purusha
aus unerfindlichen Gründen nicht mehr in sich selbst zufrieden,
sondern sendet die Strahlen seines Bewußtseins in die Prakriti
hinein, um die Welt zu erleben. Und in dem Moment fängt Prakriti
an, sich zu verändern, aktiv zu werden, und der Schöpfungsprozeß kommt
in Gang:
Purusha
-- Prakriti -- Spandana -- Parinama Das ganze
Universum besteht nur aus Sattwa, Rajas und Tamas. Die erste Vibration
ist Spandana, die Urschwingung, durch die Sattwa, Rajas und Tamas
durcheinandergebracht werden und es entsteht Parinama, ständige Veränderung. Obgleich
Prakriti ewig von Purusha getrennt ist, ist sie Purusha untergeordnet.
Nur weil Purusha Prakriti erfahren will, bewegt sich Prakriti. Aber wenn
sie einmal in Bewegung versetzt ist, entspricht es ihrer Natur, sich
ständig zu bewegen. Dann entstehen die drei Grundwelten aus
Sattwa, Rajas und Tamas. Das kosmische Sattwa wird zum Mahat, zum
kosmischen
Geist, zum kosmischen Ego, aus dem zahlreiche kleine Chittas entstehen.
Rajas ist die Aufsplitterung der Welt und das kosmische Tamas wird
zur physischen Welt.
Die sattwigste
Welt ist die Kausalwelt, die rajasigste die Astralwelt, die tamasigste
die physische Welt. Alles in der Welt ist nur eine unterschiedliche
Zusammensetzung von Sattwa, Rajas und Tamas. Überall sind immer alle drei Gunas
vorhanden, allerdings in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen.
Samkhya heißt
wörtlich 'Aufzählung, Klassifikation'. Die Samkhyas klassifizieren
alles auf jeder Ebene nach Sattwa, Rajas und Tamas.
Die Astralwelt,
die insgesamt relativ rajasig ist, kann man wieder unterteilen in
drei Welten: die höhere Astralwelt, die der Vijnanamaya Kosha im Vedanta
entspricht, die mittlere Astralwelt, Manomaya Kosha, und die niedere
Astralwelt, Pranamaya Kosha. Die höhere Astralwelt hat einen höheren
Anteil an Sattwa, die mittlere mehr Rajas und die niederste, welche
die Verbindung zur physischen Welt darstellt, die Prana-Ebene, ist
die tamasigste
dieser drei.
Die mittlere
Welt, die rajasige, ist die emotionell-geistige Welt. Und hier unterscheidet
man wiederum sattwige, rajasige und tamasige Emotionen. Tamasige
Emotionen wären zum Beispiel Angst, Traurigkeit, Depression, rajasige Ärger,
Wut, Unruhe. Sattwige Gefühle sind Liebe, Mitgefühl usw.
Nehmen wir
zum Beispiel das rajasige Gefühl Ärger. Nun kann man Ärger
wieder unterteilen in sattwigen Ärger, rajasigen Ärger und
tamasigen Ärger. Tamasiger Ärger besteht, wenn man sich über
etwas aufregt, das in Wirklichkeit gar nicht so ist, also aus Täuschung
heraus. Rajasiger Ärger kann entstehen, weil man etwas nicht bekommen
hat. Sattwiger Ärger wäre gerechter Zorn. Man sieht zum Beispiel,
daß irgendjemand ungerecht behandelt wird, ärgert sich darüber
und versucht, diesen Mißstand aufzulösen.
So hilft
Samkhya, alle Dinge immer weiter zu klassifizieren.
Samkhya umfaßt
auch eine Theorie der Wahrnehmung, eine Theorie des Geistes und differenzierte
Beschreibungen, wie die Welt und die individuelle Seele entstanden sind.
Der philosophisch-theoretische Teil der Yoga Sutras von Patanjali stammt überwiegend
aus dem Samkhya-System.
Sehr wichtig
im Samkhya ist: Alles befindet sich in Veränderung, in Parinama.
Aus Prakriti
entwickeln sich im Zuge der Aufspaltung lauter individuelle Chittas.
Um die Welt wirklich sehen zu können, nimmt Purusha ein individuelles
Chitta als Instrument an, denn mit einem kosmischen Gemüt würde
er sie nicht ausreichend erleben. Das ist genauso, als ob man einen Film
anschaut. Man identifiziert sich nie mit dem ganzen Film, sondern mit
einer oder zwei Rollen besonders. Und man bangt mit seinem Helden und
freut sich, wenn er am Schluß gewinnt. Wenn wir einen Film erleben
wollen, müssen wir ihn aus einer bestimmten Perspektive anschauen.
Und so macht es auch Purusha. Er identifiziert sich mit jedem dieser
individuellen Gemüter und manifestiert sich durch die einzelnen
Chittas. Das Problem ist, daß er dabei in Verhaftung und Identifikation
gerät. Das individuelle Asmita, Ich-Gefühl, beginnt, das Mögen
und Nichtmögen, die Verstrickung in Verhaftunen. Das ist die
Ursache des Leidens.
Das, was
er eigentlich in sich selbst hat, nämlich Sein, Wissen und Glückseligkeit,
Sat-Chid-Ananda, sucht Purusha nun in der äußeren Welt. Er
glaubt, die Dinge in der Welt würden ihm Vergügen, Ananda schenken,
er könne über seinen Geist Erkenntnis, Chid, gewinnen und
auf der physischen Ebene Dauerhaftigkeit, Sat, erlangen.
Aber all
das ist auf der physischen Ebene nicht möglich, weil sie in ständiger
Veränderung ist und nichts gleich bleibt. Das ist ein großes
Problem, denn Purusha ist ewig, und deshalb erwartet er auch Beständigkeit
auf der physischen Ebene. Wenn der Mensch etwas erreicht hat, will er,
daß es auch so bleibt. Aber es ist das Gesetz der Veränderung,
Parinama, daß nichts beständig bleibt.
Auch daß die
Welt Glück schenke, ist ein Irrtum. Sie kann höchstens ablenken,
aber wirkliches Glück schenkt sie nicht.
Wie kommen
wir nun wieder aus diesem Leiden heraus? – Durch Nicht-Identifikation.
Wodurch erreichen wir das? – Durch Unterscheidungskraft, Viveka. Wir
lernen, Purusha von Prakriti und Sattwa von Purusha zu unterscheiden.
Durch immerwährende Unterscheidungskraft, Viveka Kyati, lernen wir,
uns nicht mehr mit Prakriti zu identifizieren. Dazu hat Samkhya auch
bestimmte Meditationstechniken entwickelt, zum Beispiel Sakshi Bhav:
Wir nehmen die Einstellung eines Zeugen an und beobachten alles, was
kommt. In dem Maße, in dem wir beobachten, können wir uns
auch von der Identifikation lösen. Wir beobachten nur, verändern
nichts und stellen fest, ich bin es nicht. Das ist Sakshi Bhav.
Weitere Methoden
im Samkhya sind natürlich auch die intellektuelle Unterscheidung
und Vairagya, Entsagung, Verzicht auf das Weltliche. Denn je mehr
wir in die Welt hineingehen, um so mehr verhaften wir uns.
Eine schöne
Darstellung des Samkhya findet man im 2. Kapitel der Raja Yoga
Sutras ab dem 18. Vers:
"Das Universum,
das durch die Wechselwirkung zwischen den Elementen und den Wahrnehmungen
der Sinnesorgane erfahren wird, wird aus Sattwa, Rajas und Tamas
zusammengesetzt und exisitiert einzig zum Zweck der Erfahrung und der
Befreiung des Menschen."
Wir nehmen
das Weltall nicht so wahr, wie es wirklich ist, sondern wir nehmen
es so wahr, wie es unsere Sinne ins Chitta geben. Purusha wird sich
dann
dessen bewußt, was im Chitta ist. Das Chitta ist wie ein Kristall,
der die Form und Farbe der äußeren Objekte annimmt.
Purusha will Erfahrungen machen, will die Früchte der Handlungen genießen und will auch wieder zurückkehren. Prakriti hat die Aufgabe, den Menschen – und auch Tieren und allen Wesen – alles zu geben, was sie erfahren wollen. Sie muß dem Menschen alle Wünsche erfüllen, aber die Welt hat auch die Aufgabe, uns wieder zurückzuführen zur Befreiung. Prakriti hilft uns also, die Erfahrungen zu machen, die wir machen wollen und brauchen, aber sie hilft auch, daß wir irgendwann die Zusammenhänge erkennen und uns aus der Verhaftung in die Prakriti lösen.
Denken wir
an die Geschichte, in der Indra sich als Schwein inkarniert hat,
um einmal volle Sinnesfreuden zu genießen, denn ein Schwein ist nicht durch
Ethik oder Moral gebunden. Anschließend wollte er nicht mehr befreit
werden, weil er sich in dieser Identifikation so wohlfühlte. Vorher
hat er allerdings seine Untertanen instruiert, daß sie ihn zurückholen
sollen, wenn er nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zurück sei.
Als die Untertanen dann kamen, wollte er aber nicht zurück, sondern
sagte, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Da haben sie ihn dann so lange
gequält, bis er schließlich doch den Schweinekörper
verlassen hat.
So ist es
mit dieser Welt. Sie erfüllt uns unsere Wünsche, aber nicht
alle und auch nicht dauerhaft, und zwischendurch schüttelt sie
uns durch. Das ist die zweifache Funktion der Prakriti.
"Die Zustände
der drei Gunas sind grob, fein, manifest und unmanifest. Der Sehende,
Purusha oder Drashtu, ist reines Bewußtsein. Und obwohl er rein
ist, scheint er durch Chitta zu sehen, also durch das Gemüt. Die
tatsächliche Existenz des Gesehenen ist für den Sehenden
da."
Das Universum
ist für den Purusha da.
"Auch wenn
sie, Prakriti, für den, der seinen Zweck erfüllt hat, unwirklich
wird, fährt sie fort, für andere zu existieren, denn sie
ist allen gemein."
Also angenommen,
wir würden jetzt die Selbstverwirklichung erreichen, dann wäre
für uns die Prakriti zu Ende. Auch die Teile der Prakriti, mit denen
wir uns besonders identifizieren, der physische Körper, Chitta,
das Gemüt mit Prana, lösen sich auf, aber für die anderen
exisitiert die Welt weiter. Solange Purusha noch irgendein Chitta hat,
durch das er die Welt betrachtet, mit dem er sich identifiziert, solange
gibt es die Welt. Erst dann, wenn Purusha sich durch kein Chitta hindurch
mehr manifestiert, hört sie auf. Dann existiert Prakriti zwar
weiter, aber in unmanifestiertem Zustand, im Gleichgewicht.
Zweck der
Verbindung (Samyoga) von Purusha und Prakriti ist, daß Purusha
das Bewußtsein seiner wahren Natur erlangt und die Kräfte
erkennt, die latent in ihm und in Prakriti liegen. Das ist gemäß der
Samkhya-Philosophie der Sinn der Schöpfung. Wenn wir also nach vielen Äonen
von Leiden und Vergnügen, von spirituellen Praktiken, Kopfständen
und Mantrasingen schließlich die Verwirklichung erreichen, sind
wir zum Schluß irgendwie klüger als vorher. Es ist zwar nicht
sehr logisch, aber irgendwie emotionell befriedigend, zu wissen, daß das
Ganze einen gewissen Sinn hat. Aber hier setzt natürlich die Kritik
der Vedantins an. Wenn Purusha reines Bewußtsein ist, kann
er auch nichts dazulernen. Samkhya macht hier einige Abstriche von
der Absolutheit
des Vedanta, weshalb viele Menschen mit der Samkhya-Philosophie besser
zu Recht kommen als mit dem Vedanta.
Daß Prakriti
und Purusha zusammenkommen, mag zwar den Sinn haben, Purusha die Welterfahrung
zu ermöglichen. Aber die Ursache dieser Vereinigung ist Avidya,
Unwissenheit.
"Durch das
Ausmerzen der Unwissenheit schwindet die Verbindung von Purusha
und Prakriti und der Sehende ist befreit."
Also müssen
wir die Unwissenheit ausmerzen. Und wie merzen wir die Unwissenheit aus?
Durch Viveka Kyati. Das Mittel, Avidya zu zerstören, ist ungebrochenes
Unterscheidungsvermögen.
Daher beschränkt
sich die Samkhya-Praxis auch auf drei Grundprinzipien: Unterscheidungskraft,
Beobachtung, Entsagung.
Auch Krishna
nimmt in der Bhagavad Gita relativ häufig Bezug auf den Samkhya.
Im Rahmen
der Darshanas versteht man unter Yoga das durch Patanjali bekanntgewordene
Yogasystem, das an sich natürlich historisch weiter zurückgeht.
Wenn eine Sutra geschrieben wurde, ist das immer ein Zeichen dafür,
daß es das System zuvor schon jahrhundertelang gegeben hat. Es
war schon ausgefeilt genug, um es in diese prägnante Form bringen
zu können.
Yoga basiert
auf der Samkhya-Philosophie, mit ein paar einschneidenden Unterschieden.
Der erste
Unterschied ist rein praktischer Art. Laut Samkhya kommen wir über
Viveka, Unterscheidungskraft, zur Ruhe des Geistes und zur Befreiung.
Patanjali
hat einen etwas anderen Ansatz. Er beginnt gleich am Anfang der Yoga-Sutras: "Yoga
ist das Zur-Ruhe-Bringen der Gedanken im Geist. Dann ruht der Sehende
in seinem wahren Wesen." Patanjali empfiehlt zwar unter anderem auch,
Viveka Kyati zu üben, aber es ist nicht seine einzige Methode. Wir
müssen irgendwie unseren Geist zur Ruhe bringen. Ist unser Geist
ruhig, dann ruht Purusha in sich selbst. Und alles, was uns dabei hilft,
den Geist zur Ruhe zu bringen, ist Yoga. Und so übernimmt Patanjali
aus den Schriften, den Upanishaden, den Veden, der Mahabharata und anderen
Traditionen umfangreiche Übungspraktiken, Abhyasa, die es im Samkhya
nicht gibt. Er integriert zusätzlich zu den psychischen auch
physische Hatha-Yoga-Praktiken.
Manchmal
bezieht sich das Wort Yoga aber auch nicht nur auf das Raja-Yoga-System
von Patanjali. Krishna gebraucht den Ausdruck Yoga in der Bhagavad
Gita im Sinn von Karma Yoga, dem Yoga des selbstlosen Handelns, in
bewußtem
Gegensatz zum Samkhya als reinem Jnana Yoga. Anstatt allem zu entsagen
wie im Samkhya oder zu handeln, um etwas Konkretes zu erreichen wie im
Purva-Mimamsa-System, handeln wir im Karma Yoga ohne Wünsche und
Verhaftungen und kommen so zur Befreiung. Krishna sagt aber auch, nur
die Unweisen sprechen von Samkhya und Yoga als getrennte. Im Grunde genommen
führt beides zum Ziel und es hat beides seinen Sinn. Auch im Yoga
gibt es Entsagung und auch ein Samkhya-Anhänger muß Handlungen
tun ohne Verhaftung. Denn selbst die Aufrechterhaltung des physischen
Körpers bedingt Handlung.
Eigentlich
wird jedes Kapitel der Bhagavad Gita als Yoga bezeichnet. Es gibt
18 Kapitel, die zum Beispiel "Yoga der Mutlosigkeit und Verzweiflung Arjunas" (1.
Kapitel) heißen oder "Yoga der unsterblichen Seele" (2. Kapitel)
usw.
Der zweite
Unterschied zum Samkhya ist, daß es im Yoga Ishwara gibt, einen
persönlichen Gott. Patanjali läßt sich zwar nicht zu
sehr auf Details ein; auf diese Weise vermeidet er es, jemandem zu nahe
zu treten, denn bekanntlich entsteht bezüglich religiöser Themen
am schnellsten Streit. Patanjali spricht von Ishwara als einer besonderen
Manifestation von Purusha, die frei ist von Verhaftungen, Karma, Kleshas
(Leiden), Unwissenheit und Wünschen. Ishwara ist der ursprüngliche
Lehrer. Wenn man sich Ishwara hingibt, ist die Verwirklichung schnell.
Man muß allerdings zugeben, es paßt nicht ganz in die Logik
des Yogasystems hinein. Aber Patanjali war ein Praktiker. Er hat festgestellt,
Menschen, die Gott hingegeben sind, erreichen die Selbstverwirklichung
schneller als andere. Wer es allein versucht, ohne Zuflucht zu Gott zu
nehmen, verwickelt sich in alle möglichen Schwierigkeiten. Irgendwann
kommt das Ego ins Spiel, man kommt nicht mehr weiter, Versuchungen, Prüfungen
stellen sich ein – ohne Glauben an Gott ist alles schwierig. Glaubt man
dagegen an Gott, dann hilft er über das Ego hinweg, leitet durch
Prüfungen; wenn man verzweifelt ist, weint man zu Gott, dann kommt
er und hilft – es gelingt eigentlich alles viel besser.
In Kanada
im Ashram von Swami Vishnu ist mir zum erstenmal richtig klargeworden,
was eigentlich Ego ist – und zwar so klar geworden, daß ich mir überhaupt
nicht vorstellen konnte, mich je vom Ego zu befreien. Denn das Ego kann
sich überall manifestieren. Man kann zum Beispiel stolz auf seine
Asana-Praxis oder auf seine Meditation sein, man kann sogar stolz darauf
sein, daß es einem nichts ausmacht, die Toilette zu putzen, notfalls
auch um Mitternacht, wenn es kein anderer macht und sogar, ohne daß es
jemand merkt, einfach weil es getan werden muß. Man kann stolz
darauf sein, daß man einfach nachgibt. Das Ego kann sich tatsächlich überall
hineinsetzen. Nachdem ich also ein paar Wochen lang – in meiner damaligen
Naivität dachte ich, das sei schon sehr lange – wirklich systematisch
versucht hatte, das Ego zu überwinden und es mir nicht gelungen
war, eine einzige wirklich egolose Handlung auszuführen – und wenn
ich fast daran war, dann war ich stolz darauf, daß sie egolos war
und dann war das Ego wieder drin! –, habe ich einem indischen Gastlehrer,
der gerade da war, das Problem geschildert. Und er hat gesagt, ich solle
mir nicht so viel Sorgen machen. Jeder müsse seine Aufgabe erfüllen.
Meine Aufgabe sei Sadhana, spirituelle Praxis und Seva, Dienen. Gottes
Aufgabe sei es, mich vom Ego zu befreien. Und vielleicht bin ich dadurch
etwas egoloser geworden als durch den ständigen Versuch, mein Ego
zu reduzieren, denn das war letztlich nur Egospiel. Es ist sehr wichtig
und hilfreich, einfach diese Demut zu entwickeln, sich einzugestehen,
ich tue zwar mein Bestes, ich mache Sadhana, Asanas, Pranayama, Meditation,
Mantrasingen, Pujas und was auch immer, aber letztlich weiß ich,
das, was wesentlich ist auf dem spirituellen Weg, das kann ich nicht
selbst machen, dazu brauche ich die Gnade Gottes. Man verehrt Gott, betet
zu Gott, versucht, anderen zu dienen, seinen Geist zu schulen und dann
wird Gott einen ausreichend durchschütteln, so daß das
Ego schrittweise nachgibt. Wenn man Vertrauen hat und darum betet,
geschieht
es auch irgendwie.
Eine Ausprägung
von Samkhya besagt, daß jeder Mensch ein eigener Purusha ist, es
also nicht nur einen einzigen Purusha gibt, sondern Tausende, Millionen
und Milliarden von Einzel-Purushas. Und das Ziel ist, zu unserem eigenen
Purusha zurückzukehren. Im Yoga hingegen gibt es nur einen Purusha
und die einzelnen Seelen sind Auswirkungen des Rajas-Prinzips, wo das
eine Kosmische in Splittern eines großen Spiegels gespiegelt
wird. Das ist der dritte Unterschied zwischen Samkhya und Yoga.
Uttara
Mimamsa = Vedanta
Uttara Mimamsa,
Vedanta, ist das großartigste aller Philosophiesysteme. Sie beginnen
also mit Purva Mimamsa und hören mit Uttara Mimamsa auf.
Vedanta,
die höchste aller Philosophien, bedeutet das Ende allen Wissens.
Antar = Ende, Veda = Wissen. Die Vedanta-Philosophie kommt dem Wissen,
das man aus der Verwirklichung gewinnt, am nächsten. Sie ist am
schwierigsten zu verstehen und für viele Menschen am schwersten
zu akzeptieren.
Vedanta hat
durchaus Ähnlichkeit mit dem Samkhya-System. Im Vedanta gibt es
die beiden Hauptpole Brahman und Maya. Nur, der Vedanta sagt, Brahman
und Maya sind nichts Unterschiedliches, sondern Maya ist nur eine scheinbare
Kraft der Illusion aus Brahman heraus. In Wahrheit gibt es nur Brahman.
Nichts existiert, nichts ist geschaffen, ich bin weder Körper
noch Geist, ich bin das unsterbliche Selbst.
Das ist in
den drei Hauptsätzen postuliert: Brahma satyam = Brahman allein
ist wirklich; Jagat mithya = die Welt ist unwirklich; Jivo brahmaiva
napara = die individuelle Seele ist nichts anderes als Brahman. Das geht
sogar soweit, daß Uttara Mimamsa sagt, die Welt sei nicht geschaffen
worden. Es gibt gar keine Welt. Die Welt ist eine Illusion, sie scheint
nur so. Sie ist nur ein Traum. Woraus besteht die Traumwelt? Woraus bestehen
die Berge, Flüsse und andere Menschen im Traum? Sie bestehen nur
aus dem Geist, der träumt. Woraus besteht diese Welt? Sie besteht
eigentlich nur aus Brahman. Es gibt nur Brahman. Und die Welt bleibt
immer Brahman. Es gibt keine geschaffene Welt. Es erscheint nur so, als
ob sie geschaffen sei. Aber es erscheint nur so lange so, wie unser Bewußtsein
es so erfaßt. Genauso wie die Traumwelt nur so lange vorhanden
ist, wie wir im Traum sind. Wenn wir in den Tiefschlaf abgleiten, sind
sowohl Traumwelt als auch Wachwelt verschwunden. Wenn wir in die Wachwelt
kommen, verschwindet die Traumwelt und die Tiefschlaferfahrung wird ebenfalls
unwirklich für uns. Und wenn wir in Turiya, den vierten Bewußtseinszustand
kommen, wachen wir auf und erkennen, es war alles nur ein langer
Traum. Das ist der Hauptunterschied zwischen Samkhya und Uttara Mimamsa.
Auf der relativen
Ebene kann das Uttara-Mimamsa-System mit allen in den vorherigen
Systemen beschriebenen Aspekten arbeiten. Die Gesetze des Karmas im
engeren Sinne
werden nicht abgestritten. Daß die materielle Welt ihre Gesetzmäßigkeiten
hat, an die man sich halten kann, mag auch sein. Daß es einen Ishwara
gibt, der auch ein Produkt der Maya ist, zu dem man beten kann, in dessen
Händen man sein kann, wird akzeptiert. Es wird sogar empfohlen,
diese Praktiken zu üben, Hingabe, Liebe zu entfalten, um uns überhaupt
bereit zu machen, Jnana Yoga zu verstehen. Das hilft, den Geist zu reinigen.
Auch Viveka, die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen,
spielt im Jnana Yoga natürlich eine wichtige Rolle, ebenso wie Vairagya,
die Entsagung. Zu einer Ausprägung von Vedanta gehört auch
das Mönchtum, zwar nicht notwendigerweise, aber die Hauptbefürworter
der Vedanta-Philosophie waren alle Mönche. Man kann natürlich
auch Vedanta-Anhänger sein und im Berufs- und Familienleben stehen,
aber eine konsequente Vedanta-Philosophie führt durchaus zu einer
Abkehr von der Welt. Wenn die Welt unwirklich ist, warum soll man sich
hineinverstricken? Aber Uttara Mimamsa Vedanta als praktisches System
sagt eben auch, der Yoga-Weg ist eine Vorbereitung, ein Mittel, um uns überhaupt
erst in die Lage zu versetzen, unseren Geist kennenzulernen, zu kontrollieren,
fähig zu machen zur Unterscheidung.
Die verschiedenen Darshanas, so unterschiedlich ihr Ansatz auch ist und so widersprüchlich sie scheinen, ergänzen sich und haben jedes für sich je nach Situation ihre Berechtigung. Krishna selbst
macht übrigens diesen Standpunktwechsel. Er widerspricht sich ja öfter.
Er argumentiert an verschiedenen Stellen aus unterschiedlichen Blickrichtungen.
So wie das
Licht gleichzeitig Welle und Teilchen ist – obgleich ein physikalisches
Phänomen nach Gesetzen der Physik niemals gleichzeitig Welle und
Teilchen sein kann –, so können verschiedene sich augenscheinlich
widersprechende Gesichtspunkte trotzdem ihre Gültigkeit haben. Man
hat die Gesetze der Welle und die Gesetze der Teilchen analysiert. Anhand
der Teilchenphysik kann man Licht zum Beispiel als Laserstrahlen oder
Photonentechnologie nutzen. Andere Anwendungsmöglichkeiten ergeben
sich, wenn man Licht als Welle sieht.
Genauso verhält
es sich mit unserem spirituellen Sadhana. Für unser spirituelles
Leben hilft es manchmal, einen bestimmten Standpunkt einzunehmen,
ein anderes Mal einen anderen und in einer neuen Situation einen
dritten.
Scheinbar widersprechen sie sich, aber sie sind praktisch, man kann
sich danach richten und dadurch Fortschritte machen.
Man kann
auf dem spirituellen Weg keine lineare Logik erwarten. Es ist aber
auch nicht unlogisch. Alles hat irgendwo seinen Platz und seinen Sinn.
Und
es ist nicht beliebig, sondern in bestimmten Momenten muß man
das eine oder das andere anwenden. Manchmal muß man diesen
Standortwechsel recht schnell vollziehen.
Krishna widerspricht
sich ja scheinbar in der Bhagavad Gita auch ununterbrochen. Im 11.
Kapitel zum Beispiel nimmt er den Standpunkt des Bhakti ein. Arjuna
stellt fest,
ich bin nur ein Instrument, ich tue gar nichts, Gott macht alles.
Krishna sagt ja sogar, selbst wenn du nichts tun willst, ich werde
dich zwingen.
Der Mensch hat keinen freien Willen. Man hat im Grunde genommen keine
Wahl. Im 18. Kapitel sagt er, die Na-tur wird dich zwingen. Und kurz
danach: "Und jetzt tue, was du willst!"
HARI OM TAT SAT |
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