Yoga Vidya Journal Nr. 8, Herbst 2003
Yoga und Musik
von Haripriya - Deepa Malavalli
In unserer Yogapraxis richten wir unsere größte Aufmerksamkeit
auf den Körper, die geistigen Regungen, auf den Atem und manchmal
auch auf die Mantren. Dabei nehmen wir jedoch die Symphonie einer Asana
meist gar nicht wahr. Obschon Musik im Yoga inhärent ist. Warum
spüren wir die Musik beispielsweise beim Singen der Mantras oder
beim Musizieren, aber selten bei den Körperübungen? Liegt
es vielleicht daran, dass wir uns während der Körperübungen
nicht immer auf die Anahata-Klänge konzentrieren? Oder hat diese
Wahrnehmung mit unserer Auffassungsgabe oder unserer bedingten musikalischen
Offenheit zu tun?
Diese geistige Ausrichtung könnte eventuell aus unserer manchmal
mangelnden oder nicht ausreichenden musikalischen Erziehung herrühren.
Oder haben uns die Gesellschaft und der Zeitgeist so geprägt, daß
wir dem Materiellen oder dem Sichtbaren mehr Wert beimessen als dem
Hörbaren? Das Auge scheint jedenfalls Vorrang vor dem Ohr zu haben.
Sicherlich spielt dabei auch unsere analytische Denkweise einen Rolle,
bei der wir unsere Sinneseindrücke in Einzelteile zerlegen. Oftmals
geht es dabei nicht einmal um wirklich Erlebtes: Im Zeitalter des Fernsehens
und des Internets
sehen wir nur noch Abbilder unterschiedlicher Aspekte dieser Welt oder
des Lebens. Dadurch wird zwar unsere Neugierde immer mehr angeregt,
aber die Abbilder einer Wirklichkeit können uns nicht wirklich
befriedigen. Außerdem nehmen wir Eindrücke geistig auseinander,
setzen sie aber nicht wieder zusammen und glauben, daß diese Methode
der Auseinandersetzung unseren Horizont erweitert. Somit ist der vermeintliche
Scharfsinn im Grunde lediglich eine unvollkommene Form des Sinneseindrucks.
Untersuchungen haben gezeigt, dass das Ohr - im Gegensatz zum Auge oder
dem Tastsinn - viel sensitiver wahrnimmt. Das Ohr kann im Vergleich
zum Auge mit einer stärkeren Genauigkeit messen, da der Grad der
Wahrnehmungsfähigkeit beim Ohr zehnmal höher liegt als beim
Auge.
1) Die Wichtigkeit des Ohrs ist interessanterweise auch in der Sprache
angelegt: Das Substantiv „Vernunft” lässt sich vom
Infinitiv „vernehmen” herleiten. An diesem Beispiel sehen
wir, dass das Wort „Vernunft”, nicht nur mit dem Verstand,
mit der Intelligenz oder mit dem Auge zu tun hat, sondern im besonderen
mit dem Ohr, da wir mit dem Ohr etwas vernehmen.
Natürlich auch mit dem Geist.
2) Das Ohr steht auch für unsere Fähigkeit zu horchen und
das Wahrgenommene nicht bloß analytisch auseinanderzunehmen, sondern
als Ganzes zu empfangen. Es ist ein Vorgang, bei dem wir einen Klang,
mehrere Klänge, eine Stimme, manchmal viele Stimmen oder gar die
göttliche Stimme empfangen.Vernünftiges Handeln hängt
somit
mit dem Horchen eng zusammen.
1) + 2): Joachim-Ernst Berendt: Nada Brahma Die Welt ist Klang, Hamburg
1985, S. 14 -18
Wenn wir horchen und die göttliche Stimme wahrnehmen, dann fällt
es uns leichter, Selbstvertrauen sowie unser Vertrauen in Gott aufzubauen.
Musik und die Praxis des Horchens bilden dann in uns ein Fundament,
in dem wir verankert sind und aus dem wir unser Leben mit Mut, Kraft
und Liebe meistern. Es ist sicherlich nicht einfach zu hören oder
zu horchen, aber mit Hilfe der reinigenden Wirkung des Yoga haben wir
die ideale Möglichkeit, den Geist klar zu machen, um den Schatz
- die Musik, die Weisheit oder die Stimme Gottes - am Grunde des geistigen
Sees zu vernehmen. Yoga als die Vereinigung mit dem Göttlichen
erleichtert demnach unsere Fähigkeit zur Wahrnehmung der göttlichen
Stimme. Denn wir können Gott
in der ganzen Schöpfung wahrnehmen, aber wenn wir Gott verstehen
wollen (so weit das mit unserem begrenzten Geist möglich ist),
dann sollten wir lernen zu horchen. In vielen Kulturen heißt es
daher: "Und Gott sprach...” Mit den Ohren nehmen wir das
tief in allem verborgene Geheimnis wahr. Das setzt natürlich die
Existenz des höheren Geistes voraus, da wir erst durch ihn wirklich
sehen oder hören können. Auch die Augen können uns eine
Gotteserfahrung ermöglichen, ich glaube aber, dass das Erfahrungspotenzial
mittels der Augen - ernergetisch betrachtet - um ein Vielfaches
grobstofflicher ist, als das der Ohren. Die Ohren nehmen das Göttliche
in viel subtilerer Weise wahr, und die Vereinigung mit dem Göttlichen
wird durch die Auseinandersetzung mit Musik erleichtert. In Indien heißt
es, daß die Sprache Gottes musikalisch sei. Das wird beispielsweise
besonderes an der Musikalität der Mantren oder der ganzen vedischen
Schriften deutlich, die ja ohnehin stets gesungen wurden, was bis heute
noch erhalten geblieben ist. Das soll jedoch nicht den Eindruck erwecken,
dass wir durch die Auseinandersetzung mit Musik weniger analysieren
als vielmehr träumen und zu
gefühlsbetont sind, so dass wir verlernen, uns in dieser harten
Welt zu behaupten. Für unsere persönliche Entwicklung und
zum Überleben ist es natürlich sehr wichtig, die Fähigkeit
zum vernünftigen Denken und Handeln zu kultivieren, um den Alltag
und das Leben erfolgreich zu meistern. Schließlich ist es sehr
wichtig, Einzelheiten zu erkennen, um einem Gesamtzusammenhang gerecht
zu werden. Aber gleichzeitig sollten wir bei der
Analyse der Teilaspekte darauf achten, dass wir uns nicht in Einzelheiten
verstricken und das Ganze aus dem Auge verlieren. Das zeigt sich besonders
daran, dass eine Analyse selten mit einer Synthese endet.
Es ist also gar nicht einfach, den goldenen Mittelweg zu finden oder
zu gehen. Eine starke intellektuelle geistige Ausrichtung birgt oft
die Gefahr, dass wir uns zu komplizierten Menschen entwickeln, die sich
durch die Härte des Lebens innerlich verhärten. Außerdem
wird unser Ego auf diese Weise mehr genährt. Die Ausübung
von Musik kann dieser Fehlentwicklung entgegenwirken. Das hängt
mit der harmonisierenden Wirkung der Musik
und natürlich des Yoga zusammen.
Denn im Yoga lernen wir, uns nicht bloß vom Ego leiten zu lassen,
sondern vielmehr vom höheren Geist. Und diese Übung hat viel
mit Hingabe, Liebe und Vertrauen zu tun. Hierbei dringt die Musik viel
leichter ins Herz als es scharfsinnige Worte je könnten. Scharfsinn
oder Schärfe hat die Qualität eines Messers, dagegen ist Musik
wie eine Salbe. Nichtsdestotrotz haben beide - scharfsinnige Worte und
Musik - in bestimmten Situationen ihre Berechtigung, und durch Yoga
können wir uns so entwickeln, dass wir genau wissen, wann was und
in welcher Form angebracht ist. Denn Yoga strebt immer nach der Einhaltung
von Ahimsa, Gewaltlosigkeit. Dies gilt natürlich besonders für
die Kommunkation. Daher steckt in einer yogischen Scharfsinnigkeit zugleich
auch Musik oder eine Salbe. Betrachten wir die Vereinigung von "Scharfsinn,
Musik und Salbe" am Beispiel einer kleinen Geschichte zwischen
einem Meister und seinem Schüler:
Stellen wir uns vor, dass ein Schüler seit einigen Wochen bei einem
selbstverwirklichten Meister verweilt, viele Vorträge hört
und auch viel Wertvolles und Praktisches für den Alltag beim Guru
lernt. Der Schüler hat zwar nicht die Vollkommenheit erlangt, er
ist vom Guru aber sehr inspiriert und beim Abschied gibt der Meister
dem Schüler noch einen letzten Rat und
sagt: "Be happy!"... Zunächst hört sich der Schüler
den Rat an und denkt erst einmal nicht weiter nach, weil der Rat sehr
einfach und beinah profan klingt. Aber genau diese scheinbare Einfachheit
regt ihn zum Nachdenken an und er fragt
sich, warum der Meister gerade diesen Rat ausgesprochen hat. Dieses
Nachdenken, lässt ihn erkennen, dass er das Gefühl des Unglücklichseins
in seinem Leben viel zu oft zugelassen hat. Diese schmerzliche Erkenntnis
trifft ihn wie der Stich eines Messers und er muss viel weinen. Aber
dann wird ihm bewusst welch unermessliche Weisheit in diesem einfachen
Rat "Be happy" steckt. Diese Weisheit ist wie Musik, sie ist
wie eine heilende Salbe.
Am Beispiel dieser Begebenheit zwischen Meister und Schüler können
wir lernen, dass es ganz gleich ist, wie oft wir unsere Schau der Dinge
durch die verschiedensten Blickwinkel verändern oder die Phänomene
in unterschiedliche
Teilaspekte aufteilen. Es kommt irgendwann einmal der Punkt, der nicht
mehr teilbar ist. Etwas, das immer nur so bleibt wie es ist, egal was
wir darüber denken oder nicht. Dieser Punkt ist die Musik der Wahrheit,
das Bewusstsein und die Wonne, Sat Chit Ananda. So sind Yoga und Musik
wie die zwei Seiten einer Medaille. Yoga ist erfüllt von Musik
und Musik ist ein Ausdruck von Yoga. Sie sind zwei Welten, vollkommen
und daher scheinbar voneinander unabhängig. Alle Formen von Yoga
und so auch Nada Yoga (Yoga, der durch die Auseinandersetzung mit der
Musik zur Selbstverwiklichung führt) gehen scheinbar unterschiedliche
Wege und dennoch haben sie ein gemeinsames Ziel: Am Ende lösen
sie
sich in der Stille des Göttlichen auf.
Man könnte sich an dieser Stelle fragen, warum alle Seinsformen
Musik in sich tragen. Eine Antwort darauf erfahren wir durch den Schöpfungsmythos,
der in den verschiedenen tantrischen Texten zum Ausdruck kommt und auch
im vierten Kapitel der Hatha Yoga Pradipika impliziert wird:
„Gegrüßt sei Shiva der Guru, (...) welcher eine Erscheinungform
von Nada, Bindu und Kala ist. (...) Derjenige, der sich diesem für
immer hingibt, erreicht den vollkommenen Zustand (frei von Maya)".
1) Shiva repräsentiert den endgültigen Zustand der Existenz,
unabhängig davon ob sie nicht existent, manifest oder nicht manifest
ist. Das Srimad Devi Bhagavatam bescheibt Shiva folgendermaßen:
Er steht über den Eigen schaften der Prakriti oder der Natur, d.h.
Shiva seht über Nada, Bindu, Kala und auch über deren Quelle,
aus der sie stammen. Shiva existiert
ewiglich, er ist allmächtig, unveränderlich und unerreichbar,
außer durch Yoga oder Vereinigung.
2) Die Ausdrücke Shiva und Guru sind Synonyme und deuten auf die
Existenz des höchsten Bewusstseins und der höchsten Realität.
Diese Eigenschaft steckt in uns allen und dennoch ist sie über
uns und der objektiven Welt. Wenn wir dies erkennen, wird uns die Existenz
der inneren Gurus oder Shivas bewusst. Ein solcher Mensch ist dann ein
Guru.
3) Den Tantra-Schriften zufolge kann Bewusstsein oder Shiva nicht alleine
existieren, denn er wird vom Shakti-Aspekt begleitet. Shiva oder Bewusstsein
ist inaktiv und regungslos. Demgegenüber ist Shakti aktiv, der
veränderliche
Aspekt, der im Grunde eine Energie Shivas darstellt. Während Bewusstsein
den stillen Zeugen impliziert, ist Shakti die handelnde Kraft. Der Mittelpunkt
zwischen diesen polaren Kräften ist Bindu. Wenn sich beide Kräfte
- Shiva und Shakti im Bindu treffen bzw. vereinen, kommt es zu einer
Explosion, bei der Nada (Klang) und Kala (Ausstrahlung) ausgelöst
wird. Nada ist die erste Form von Prana, der Beginn der Schöpfung.
Wenn sich in einem Menschen Bewusstsein und Prana im Muladhara Chakra treffen, dann werden Bindu, Kala und Nada in ihm entfacht.
4) Dieser Schöpfungsmythos verdeutlicht die Gründe dafür,
warum wir Bandhas und hier im besonderen das Mulabandha anwenden und
uns bemühen das Austreten von Prana aus dem Körper zu verhindern.
Auch die bewusste Lenkung des Bewusstseins auf das Muladhara Chakra
zur Zündung des Feuers und zur Entfachung der Kundalini hängt
sicherlich mit der Vereinigung von Shiva und Shakti zusammen. Die Schöpfung
findet dann - mikrokosmisch betrachtet - in uns statt, da sich die Shiva-
mit der Shakti-Kraft in uns verbindet. Aus der Aktivierung von Bindu,
Kala und Nada gehen somit die diversen Kundalini Erfahrungen hervor.
1). Hatha Yoga Pradipika: Hrg. Sivananda Vedanta Yoga Zentrum München, deutsche
Ausg., 2 Aufl., Muenchen 1993, S. 115
2), 3), 4) .: Swami Muktibodhananda: Hatha Yoga Pradipika, Mungur, Indien
1993, Seite 417 - 419
Klang ist diesen Informationen zufolge der Beginn von allem. Klang
ist Gott und die ganze Schöpfung ist Klang. Klang ist auch Prana
und interessanterweise fließt Prana im Astralkörper durch
ein Kanalsystem, - die Nadis. Sprachwissenschaftlich ist das Wort Nada
mit Nadi verwandt.
1) Nada wird in der altindischen Hochsprache Sanskrit auch als ein Strom,
ähnlich einem Fluss beschieben. Es ist
der Fluss des Prana, der durch die Nadis fließt. So sind unsere
Nadis von Klang erfüllt: Es sind die Anahata-Klänge. Der Schöpfungsmythos
macht auch die weitgreifende Dimensionalität des Yoga deutlich.
Eine Asana ist nicht bloß
eine Körperübung, sie ist Teil der Symphonie der Schöpfung.
Abschliessend möchte ich noch anführen, dass mir die Yogapraxis
in Verbindung mit Musik immer das Gefühl vermittelt, Gott näher
zu kommen. Ich habe dabei immer die Empfindung, dass der Weg zum Göttlichen
durch die Musik vereinfacht wird. In diesem Kontext fällt mir die
Symbolik des göttlichen Aspektes, den die Göttin Saraswati
verkörpert, ein.
2 ) Diese Symbolik hat viel mit Kunst, Wissen und Yoga zu tun: Sarasvathi
ist die Shakti-Kraft, sie ist die Gemahlin von Brahma, dem Schöpfer
und daher auch die Mutter der Schöpfung. Wörtlich heisst Saraswati
"die Fliessende". Im Rgveda repräsentiert sie einen Fluss
und stellt die Göttin dar, die über diesen Fluss präsidiert.
Sie hat unterschiedliche Namen: Sharada (die jenige, die uns die Essenz
in allem vermittelt), Vagisvari (die Gebieterin der Sprechkunst), Brahmi
(die Gemalin von Brahma), Mahavidya (vollkommenes Wissen) usw. Interessant
ist die Tatsache, dass Energie immer fliessen muss. Im Namen Saraswati
vereinen sich daher Wissen, Künste und alle Fähigkeiten, die
alle ineinander fliessen. Wissen, vidya ist der Gegenpol zur Unwissenheit,
avidya - ein Zustand der Dunkelheit. Daher trägt sie einen rein
weissen Sari (das indische Gewand für Frauen). Ausserdem ist sie
von aussergewöhnlicher Schönheit und Anmut, weil sie all die
oben erwähnten Eigenschaften verkörpert. Sie sitzt auf einer
Lotusblüte und trägt in ihren vier Händen eine Vina (ein
südindisches Saiteninstrument), eine Aksamala (eine Japamala als
Symbol für die Askese des Yoga) und eine Pustaka (das Buch als
Symbol für die Wissenschaft). Durch diese Symbolik Saraswatis,
der Göttin des Lernens, können wir erkennen, dass es die Möglichkeit
zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung gibt, aber wenn unser Herz
und unsere Gefühle keinen Raum zur Entfaltung erhalten, dann wird
unsere Praxis des Yoga gewissenmassen zu Staub. Denn die Musik oder
die Künste sind ein Ausdruck unserer Gefühle, die wir im Herzen
empfinden. Daher empfiehlt uns Saraswati neben unserer wissenschaftlichen
Ausbildung auch unsere künstlerische Seite zu entwickeln, da die
spirituelle Weisheit eine harmonische Verbindung von Kunst und Wissenschaft
darstellt. Das ist Yoga oder der Fluss des Göttlichen.
1)Joachim Ernst Berendt: Nada Brahma, Die Welt ist Klang, Hamburg 1985,
Seite 23.
2)Swami Hatshananda: Hindu Gods and Goddesses, 2. Ausgabe, Mysore 1985,
Seite 99 - 103
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