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Yoga Vidya Journal
Ausgabe 4 Herbst 2000
Herausgegeben vom Bund der Yoga Vidya Lehrer DIE
ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT
Im Juli 2000 besuchte ich zwei Wochen ein Retreat in Südwestfrankreich, geleitet von dem vietnamesischem, buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit (über 40 Bücher in Englisch, viele davon ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt) engagiert er sich in der Friedensarbeit, Flüchtlingsbetreuung und in der sozialen Betreuung von vietnamesischen Kindern. In Europa und Nordamerika gibt er regelmäßig meditative Seminare des Rückzugs, der Besinnung und des achtsamen Lebens. Hier vermittelt er u.a. die kleinen Schritte der Bewußtseinserweiterung, des Innehaltens und der Achtsamkeit im Alltag auf klare und pragmatische Weise. In meinem folgenden Reisebericht habe ich meine Erlebnisse und Erfahrungen während dieser zwei Wochen niedergeschrieben. ANREISETAG Im strömenden Regen stehe ich am Bahnhof von St.-Foie de Grande in Südwestfrankreich und warte auf den Shuttle-Bus, der mich nach Plum Village bringen soll, dem Ort, wo ich die nächsten vierzehn Tage Achtsamkeit praktizieren und in das meditative Leben eintauchen möchte. Im Augenblick starre ich allerdings etwas zweifelnd in den kalten Regen und frage mich, warum ich hier bin. Gut, daß ich kurzfristig noch ein Bett gebucht habe, Zelten wäre im Moment eine mehr als naßkalte Angelegenheit! Als jedoch die Autos vorfahren und Nonnen mit freundlichen Gesichtern uns begrüßen (es haben sich mittlerweile mehrere Personen versammelt), vergeht die trübe Stimmung. Auf der Fahrt komme ich mit einer Amerikanerin ins Gespräch und fühle mich gleich besser. Nach ca. 45 Minuten sind wir in Lower Hamlet angekommen Es gibt vier sog. Hamlets in Plum Village, die einige Kilometer voneinander entfernt sind. Männer und Frauen sind getrennt untergebracht (außer Paare und Familien). Wir Frauen wohnen in Lower Hamlet, die Männer in Upper Hamlet, Familien und Paare sind auf alle Hamlets verteilt. Bei der Anmeldung erklärt mir eine Nonne den Weg zu meinem Zimmer. Als das Telefon klingelt, hält sie kurz inne und schließt für einen Moment die Augen. Auf meinen neugierigen Blick erklärt sie mir, daß bei jedem Läuten, ob Glocke oder Telefon, alle in ihrer Arbeit innehalten, drei Atemzüge lang. Und das wird mich die nächsten vierzehn Tage begleiten. Sobald eine Glocke angeschlagen wird (oder eingeladen, wie man hier sagt), halten alle inne, egal, ob sie gehen, kochen, sprechen oder essen und atmen dreimal, um sich des Augenblicks bewußt zu werden. Am Anfang etwas ungewohnt, und ich ertappe mich oft dabei, daß ich einfach weitergehe oder esse, aber ich gewöhne mich daran und es gefällt mir. Eine gute Möglichkeit, kurz zu sich zu kommen und Ruhe zu finden. Ich beziehe mein Zimmer, das ich mit vier anderen Frauen teile, schlucke kurz bei der Enge, aber auch das spielt schnell keine Rolle mehr. Nach dem Abendessen gibt es eine allgemeine Einführung, in der ich erfahre, was mich die nächsten Tage erwartet. Die leise Skepsis schleicht sich bei mir wieder ein, als ich das Tagesprogramm studiere. Der Tag ist gefüllt, das steht fest. Um 5.00 Uhr (!) weckt die Glocke, 5.00-5.30 Sitzmediation, danach ca. 15 Minuten Gehmeditation. 6.30 Uhr Frühstück, 8.30 -11.00 Uhr Dharma Talk (Vorträge von Thich Nhat Hanh in einem der Hamlets), danach Gehmeditation, 13.00 Uhr Mittagessen, von 15.-16.30 Uhr Arbeitsmeditation, 16.30-18.00 Uhr diverse Programme, 18.00-19.00 Uhr Abendessen, 19.45-21.15 Uhr Dharma Diskussion in der Gruppe, 21.30-22.00 Uhr Sitzmeditation, 22.30 Uhr Lichter aus. Ab 21.30 Uhr bis nach dem Frühstück wird nicht gesprochen (Noble Silence). Etwas erschlagen und mit der Frage, wo Zeit für mich ist, gehe ich schlafen. 1. TAG Um 6.00 Uhr werde ich von den Geräuschen meiner Mitbewohnerinnen geweckt und stelle fest, daß ich total verschlafen habe, keine Glocke gehört, Wecker falsch gestellt. Nicht weiter schlimm, sage ich mir, es wird noch genug Gelegenheit zum Meditieren geben. Nach dem Frühstück gehe ich die drei Kilometer zum Upper Hamlet, wo Thây ( der Lehrer, wie Thich Nhat Hanh hier liebevoll genannt wird) heute seinen ersten Vortrag halten wird. Nebelschwaden gehen durch die Täler, die Sonne kommt langsam durch, die frische Luft macht mich munter. Ich freue mich auf ein paar vertraute Gesichter aus meiner Meditationsgruppe in Frankfurt, die in Upper Hamlet wohnen. Als ich ankomme, sind schon alle in der großen Meditationhalle versammelt (zusammen etwa 400 Leute aus allen Ländern) und warten. Thây hält seine Vorträge abwechselnd auf Vietnamesisch, Englisch und Französisch, es wird simultan ins Deutsche und andere Sprachen übersetzt. Kaum habe ich meine Freunde begrüßt, erklingt auch schon die Glocke. Ein kleiner Mann, eingehüllt in einen Anorak, betritt die Halle und geht zu seinem Pult. Ich betrachte neugierig Thây, und fühle sofort, daß eine starke Ausstrahlung von ihm ausgeht. Er begrüßt uns mit Verbeugung, was wir erwidern und beginnt mit seinemVortrag. Er spricht über unsere Schönheit, die wir so oft vergessen, über die Liebe, über Achtsamkeit und über den Wert der Meditation. Einfache Sätze mit großer Wirkung. Ich muß ihn immer wieder anschauen, seine Augen strahlen ein helles Licht aus. Er ist so einfach und klar, daß es einfach Spaß macht, ihm zuzuhören. Die ersten dreißig Minuten spricht er für die Kinder, die die vordersten Reihen belegen, um in seiner Nähe zu sein. Daß er Kinder liebt, ist mir die ganze Zeit über aufgefallen, egal ob bei den Vorträgen, beim Fragenstellen oder bei der Gehmeditation, die Kinder waren immer an erster Stelle. Nach dem Vortrag
gibt es eine Gehmeditation von ca. 30 Minuten, Thay vorneweg mit Kindern
an der Hand. Sehr beeindruckt von der friedlichen Atmosphäre lasse
ich mich auf mein Gehen ein, langsam und achtsam, jeder Schritt eine bewußte
Handlung. Am Abend lerne ich dann meine „Familie“ kennen. Man ist in sog. Familien oder Gruppen aufgeteilt, mit denen man seine Erfahrungen teilt, zusammen ißt und über die Vorträge und alles, was einen bewegt, sprechen kann. Vorstellungsrunde: Neun Frauen aus sechs verschiedenen Ländern, neugierig mustern wir uns. Unsere beiden Sisters (Nonnen aus Lower Hamlet, die unsere Gruppe anleiten) erklären uns, daß wir nun die Woche zusammen arbeiten, essen und diskutieren werden. Ich beäuge „unsere“ Nonnen, sie kommen mir so jung vor. Das Wetter wird schön!
Wir machen uns auf zur Vollmondmeditation, sitzen auf einer großen
Terasse und betrachten eine Stunde schweigend und meditierend den Mond.
Es ist so hell, daß man weit ins Land schauen kann, ein Mönch
spielt Flöte, es ist unglaublich friedlich. 2. TAG Es wird warm und schön! Ich beschließe, doch in mein Zelt umzuziehen, so daß ich auch mal ein bißchen alleine sein kann. Ich habe die Morgenmeditation schon wieder verschlafen. Aber hier ist keiner streng, alles ist freiwillig und ich weiß, ab morgen bin ich dabei. Um 7.30 Uhr werden wir mit Bussen abgeholt und zum 13 km entfernten New Hamlet gebracht, wo Thay heute seinen Vortrag hält. Diesmal spricht er über die Samen, die jeder Mensch in sich hat, positive und negative. Der Mensch entwickelt sich, wie seine Samen gewässert werden. Samen des Ärgers und der Eifersucht z.B. entstehen, wenn diese durch andere Personen gewässert werden, umgekehrt entwickeln sich die positiven Samen wie Liebe und Glück! Seine Botschaft: „Laß nicht zu, daß jemand Deine negativen Samen wässert, erlaube es niemandem!“ Seine Aussagen und Bilder sind wieder so verblüffend einfach und klar, daß ich meinen „bewässerten“ Geist praktisch vor meinen Augen sehe. Ich gebe hier nur kurze Eindrücke wieder, wer mehr über die Inhalte der Dharmavorträge wissen möchte, siehe bitte Literaturliste am Ende. Nach der Rückfahrt
und dem Mittagessen gibt es die sog. working meditation, im Ashram bestens
als KarmaYoga bekannt. Meine Familie ist für die Meditationshalle
zuständig, wir fegen, putzen, gießen Blumen, klopfen Matten
aus usw., alles mit Bewußtsein und Acht-samkeit. In Plum Village
wird jede Tätigkeit als Meditation verstanden, nicht nur das Sitzen.
Arbeiten, essen, gehen, aufs Klo gehen, Zähneputzen, alles ist eine
meditative Handlung voller Achtsamkeit, jeden Moment Bewußtsein.
Daß jede Aktion langsam und bewußt ausgeführt wird, ist
für eine „schnelle“ Frau wie mich eine echte Herausforderung. Hausarbeit
normalerweise so schnell wie möglich, essen zack, zack, bloß
nicht so lange trödeln, hier ist alles anders. Die ersten 15 Minuten
des Essens werden nicht gesprochen, sondern jeder Bissen bewußt wahrgenommen,
im Bewußtsein darüber, wie viele Hände Arbeit nötig
sind, bis das Essen auf meinem Teller landet. Das ganze Universum ist hier
vereint, die Sonne, der Regen, die Arbeit, alle Elemente dieser Erde. Ich
beginne, mein Essen mit anderen Sinnen wahrzunehmen. Nach der Sitzmeditation krieche ich in mein Zelt, lausche noch etwas in die Nacht und bin eingeschlafen. 3. TAG Heute ist Lazy Day!
Das heißt, es ist kein Programm, Frühstück erst um 8.00
Uhr und erst abends werden wir uns wieder treffen. Am Ende der Woche
gibt es die Möglichkeit, in einer Zeremonie diese Übungen „anzunehmen“.
d.h. sich vorzunehmen, sie ins Leben und in den Alltag zu integrieren und
so seine Lebens- und Denkweisen genauer zu verstehen. Viele schrecken erst
mal davor zurück, da sie fürchten zu „versagen“ oder „die Regeln
zu brechen“. Ich verstehe die Übungen nicht als Regeln, sondern als
eine Art der Bewußtseinswerdung. Je länger ich mich damit beschäftige,
muß ich feststellen, daß sie sehr den Yamas und Niyamas ähneln.
Überhaupt sehe ich in dieser Zeit viele Parallelen zur Vedantaphilosophie,
allerdings oft auch Differenzen wie z.B. in der Reinkarnationstheorie.
Dennoch sehe ich eine gute Möglichkeit, die Fünf-Achtsamkeits-Übungen
in mein Yogaleben zu integrieren und es zu bereichern. Ich beschließe,
sie in der zweiten Woche anzunehmen. 4. UND 5. TAG Mittlerweile schaffe
ich es fast problemlos zur Morgenmeditation, manchmal laufe ich danach
ein bißchen in den Sonnenaufgang. Wieso geht das hier so leicht,
zu Hause würde ich jeden, der mich auffordert, um 6.00 Uhr zu joggen,
für verrückt erklären. 6. TAG Ich bin schlecht
drauf. Habe Alpträume gehabt, nachts gefroren. Irgendwas ist los mit
mir, der Aufenthalt zeigt therapeutische Wirkung. Lustlos gehe ich zum
Vortrag. Abends in der Runde
praktizieren wir das sog. „Beginning Anew“. Das bedeutet, daß alles,
was sich in der Woche aufgestaut hat, Schönes und weniger Schönes,
besonders innerhalb der Familie, angesprochen wird. Thây empfiehlt
es besonders Familien und Paaren, regelmäßig einmal die Woche.
Ich finde, eine gute Idee, um die Dinge konkret und klar anzusprechen und
keine Probleme „unter den Teppich zu kehren“, wie es in unserer „sprachlosen“
Gesellschaft meist üblich ist. Ich bin erstaunt, wie ich von den Frauen
in der Woche wahrgenommen werde und ich freue mich sehr über die Offenheit.
Die trübe Stimmung vom Morgen ist verschwunden. 7. - 14. TAG Die zweite Woche ähnelt vom Programm her der ersten. Thâys Vorträge handeln von falschen Wahrnehmungen, denen wir oft ausgesetzt sind, von der Frage: Wer bin ich?, von Reinkarnation, vom Sein und Nichtsein. Vieles wiederholt sich, aber das macht nichts, ich kann es immer wieder hören und es festigt das Aufgenommene der ersten Woche. Ich stelle fest, daß ich langsamer geworden bin, die Hektik aus meinem Tag genommen habe. Ich esse bewußter, spreche bewußter und achte bewußter auf die „kleinen“ Dinge des Lebens, ein Spinnennetz, auf dem sich Tau bildet, die Formen der Wolken am Himmel, das Heranreifen der Pflaumen. Ich fühle mich etwas wie diese Pflaumen, am Anfang des Retreats noch grün und hart, jetzt sonnengereift und weich. Es gibt aber auch Tage, wo mich das ewige Anhalten beim Glockenklang nervt, ich mal wieder allein sein will, mich durch unachtsames Verhalten verletzt fühle. Aber warum sollte es hier anders sein als „draußen“, schließlich praktiziere ich ja für mein Alltagsleben, also auch die nicht so angenehmen Augenblicke anzunehmen und zu akzeptieren. Die letzten vierzehn Tage waren eine Bereicherung meines Lebens, ich glaube, mich wieder ein bißchen besser kennengelernt zu haben. Ich habe neue Freundschaften geschlossen und meine Langsamkeit entdeckt, in mein Herz geschaut und bin ein Stück weiter auf meinem Weg gegangen. Jetzt sitze ich hier
am Atlantik und schreibe diesen Bericht. Ich bin noch sehr oft im Augenblick
und hoffe, daß ich das weiterhin praktizieren werde. Aber allein
ist es oft schwierig, man braucht Gleichgesinnte, wie beim Yoga, um gemeinsam
zu praktizieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Thây nennt
das eine Sangha (Gemeinschaft). Und während ich auf das Meer schaue,
hoffe ich, irgendwann meine Sangha zu finden. Anhang: Zentrum von Thich
Nhat Hanh: Literaturbeispiele: Das Herz von Buddhas
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