Yoga Vidya Journal Nr. 14, Herbst 2005
Und jeden Morgen denke ich an Abraham
In Kerala könnte sogar der liebe Gott Englisch lernen und dabei die Seele
baumeln lassen
Wir glauben zu träumen. Vor ein paar Stunden saßen wir noch im Flughafen von Bahrain
beim Kaffeetrinken, während weiße Scheichs an uns vorbeischlenderten, und jetzt
stehen wir hier leibhaftig im Paradies.
Engel in farbigen Saris begrüßen uns - zum Teil immer noch in europäischer Winterkleidung
- mit dem schönsten Lächeln, das ich je gesehen habe. Sie malen uns einen Punkt
auf die Stirn und hängen uns eine duftende Blumenkette um den Hals, während wir
am Fruchtcocktail schlürfen. Vor uns eine Bilderbuchkulisse: Ein Garten voller Palmen
und tropischer Pflanzen. Unter dem alten Mangobaum baumelt die breiteste Kinderschaukel,
die je aufgehängt wurde. Das Vogelgezwitscher klingt genauso exotisch wie
die Sprache der Einheimischen am südlichsten Zipfel Indiens - in Kerala.
Hier sprechen die Einheimischen Malyalam - wohl eines der wenigen Worte auf der
Welt, das man sowohl von vorne als auch von hinten lesen kann. Es heißt immer, der
Süden Indiens ist der Norden ohne Fehler (keine Armut, kein Analphabetismus, keine
Krankheiten).
Gleich hinter dem Garten nichts als Wasser und auf der anderen Seite die nächste Insel
der Inselwelt, genannt Backwaters. Beim Eintritt in das Haus, das in den nächsten 2 Wochen
nur uns gehört, hat man das Gefühl, in die Hazienda irgendeiner alten Verwandten
zu kommen, so heimisch und vertraut ist es uns. Auf dem langen Holztisch ist
schon ein Ayurveda-Frühstücksbüffet aufgebaut und wir schlemmen ohne ein schlechtes
Gewissen haben zu müssen, uns falsch zu ernähren oder vielleicht überflüssige
Pfunde mit nach Hause zu bringen. Am Nachmittag treffen wir unseren Ayurveda-Arzt, dessen Vater bereits eine Praxis hatte,
und der jedem Einzelnen nach einem kurzen und schmerzlosen "Pulsmessen" sagt,
wo er im Körper irgendwelche Schwachstellen hat und welches Massageprogramm er
empfiehlt. Es spielt keine Rolle, ob er Stirnguss oder Kräuterbündel verschreibt, Ganzkörpermassagen
mit Kokosöl, die Kräuterdampfsauna - bei welcher der Kopf aus der
Sauna herausgucken darf - ist ohnehin inklusive...jede Massage ist ein Genuss und so
beruhigend, dass sogar einige von uns dabei eingeschlafen sind und geweckt werden
mussten, als das Ritual vorbei war. Unser Doc lacht nur, denn er kennt sich aus mit Europäern,
war er doch selbst einige Male in Europa.
Morgens stehen wir gerne auf, denn wir hören um 7.30 Uhr ein vertrautes Geräusch:
Abrahams Motorrad kommt immer näher und da biegt er schon um die Ecke, seinen
Assistenten auf dem Sozius. Er sieht genauso aus, wie man sich einen echten indischen
Guru vorstellt, doch durch seine Europareisen schätzt man seinen Humor sogar in unseren
Breitengraden. Er bringt uns ALLEN an 10 Vormittagen in je eineinhalb Stunden
bei, wie leicht und beruhigend Yoga sein kann und wider Erwarten bieten unsere Körper
am 10. Vormittag eine einzige fließende Bewegung vom „Sonnengruß“ bis zum „tanzenden Shiva“. Klar, dass wir zu
Hause weitermachen und Yoga nicht
mehr missen möchten.„Englisch-Unterricht open-air“ - so
eine Schule hätten wir uns immer
gewünscht, bei einer Kulisse, die
nicht stillsteht, weil die Fischer in
ihren Kanus vorbeigleiten, ihre Frauen
nach Krabben tauchen, um sie
dann in ihre Wassertöpfe zu legen,
die auf dem Wasser wortlos an uns
vorbeischwimmen.
Unsere in Deutschland gelegten englischen
Grundkenntnisse werden
blitzartig erweitert, wissen wir doch,
dass wir hier Englisch an jeder Ecke
brauchen und auch anwenden können...
sei es im Hotel, beim Riksha-
Fahren (übrigens ein Erlebnis für sich, weil uns - den einzigen Touristen auf der Insel -
fleißig zugewunken und - gerufen wird), im Internet Cafe, beim Schneider und Shopping.
Hier sind wir fern der Heimat, fern von Alltag, Beruf, Familie und können uns auf das
konzentrieren, was uns bei dieser Reise wichtig ist: Ein Auftanken in geistiger und körperlicher
Hinsicht. Die 30 Englischstunden (auf 10 Vormittage verteilt) vergehen wie im
Fluge. Es versteht sich von selbst, dass wir unendlich Spaß haben, während die Lehrerin,
eine Diplom-Übersetzerin, die kleine Gruppe weiterbringt.
Das Nachtleben spielt sich hauptsächlich in unserem Paradiesgarten ab, denn dorthin
kommen sogar viele Musiker und bieten uns klassische indische Musik im Schein der Öllampen.
Zur „Indian -Garden-Party“ laden wir Freunde des Hauses ein. Neben dem Festmenü und Smalltalk ist unser Theater (in 3 Unterrichtsstunden von allen gemeinsam
ausgearbeitet) mit Sketchen zu den Themen „Indien und Ayurveda“ ein Volltreffer
und der Applaus der Inder ist fast so laut wie das Gewitter am Abend zuvor. Nur die
beiden, welche unter einer dicken Wolldecke den Elefanten spiel müssen, als ein anderer
Yogalehrer verkleidet auf ihm reitet, verfluchen in diesem Augenblick die warmen
Sommernächte...
Die Profi-Schauspieler im Kathakali-Theater, wohin uns ein Ausflug führt, scheinen aus
1001 Nacht entsprungen zu sein und führen uns erst einmal in die Geheimsprache dieses
Theaters ein, nachdem wir ihnen schon beim Schminken zuschauen dürfen. Es geht,
wie oft im Theater, um Liebe, Leidenschaft und ähnliche Themen. Der Strom verschwindet
erst, als der letzte Akt schon fast vorbei ist, wenngleich die aufgehängten Fackeln
dem ganzen Stück noch eine romantische Note verleihen.
Beim Stadtrundgang in Fort Cochin und Mattancherry wandern wir auf den Spuren der
Europäer, die bereits vor langer Zeit in dieser Gegend weilten, weil sie von dort
Gewürze importierten. Als wir unsere mitgebrachten Gewürze in Deutschland an unsere
Freunde verteilen, ist deren Lob über die Intensität und Frische der Gewürze so groß,
dass man verstehen kann, warum Portugiesen, Franzosen, Holländer und Engländer
schon früher lange Schiffsreisen nach Kerala unternahmen und Menschen einer bildschönen
Mischung hinterließen, deren Haut verschiedene Brauntöne hat, und das
ganze gepaart mit blauen, grünen, braunen oder grauen Augen, dazu eine fast schon
europäische Denkweise...
Haben sie jemals Delfine beobachtet? Wir schon, aber noch nie haben wir 30 Delfine
in einer Stunde gesehen wie im Hafen von Cochin. Die Kameraführung hat keine Eile,
weil wir wissen, dass gleich daneben ein neuer Delfin auftauchen wird...auch Delfine
scheinen so gastfreundlich zu sein wie unsere Gastgeber und werden uns lange in Erinnerung
bleiben.
Offene Arme empfangen uns auch im Hindutempel: Wenn uns auch der Weg ins Innere
des Heiligtums nicht erlaubt ist, so dürfen wir doch den Tempelelefanten beim Bad zuschauen,
unsere mitgebrachten Minibananen und Melassekugeln auf ihre neugierig
ausgestreckten Rüssel legen, welche die Nahrung dann weiterbefördern in das riesige
Maul. Der Tempeldirektor zeigt uns in seinem Büro Fotos von Vorgängern der heutigen
3 Elefanten. Die vergoldete Dekoration, welche bei festlichen Anlässen vom Elefanten
getragen wird, können wir sogar für umgerechnet 300 Euro mit nach Europa
nehmen.
Doch unsere Koffer sind ohnehin schon voll von unserer Shopping-Tour in Ernakulam,
und wir lassen einen Teil unseres mitgebrachten Gepäcks gleich da, um Pfeffer, Kümmel,
fertige Curry-Gewürzmischungen, Schwarztee, Paprika und Vanille neben die Seidenstoffe
zu packen. Im Stoffhaus auf 4 Etagen fällt die Entscheidung unter Tausenden
von Traum-Seidenstoffen ohnehin schwer genug. Doch als uns Shareen, die Dame des
Hauses, zeigt, wie die 7m Sari-Stoff an unseren europäischen Körpern drapiert werden,
sind wir doch der Ansicht, die richtige Farbe getroffen zu haben.
Ayurveda-Kosmetik gibt es hier zu so
günstigen Preisen, dass wir nicht
widerstehen können, und von Zahnpaste
über Shampoo bis zur Creme
schon vor der Heimreise vor Ort alles
testen.
Die Auswahl in den Geschäften
scheint in einem krassen Gegensatz zu
dem zu stehen, was sich uns auf der 4-
stündigen Bootsfahrt durch die Backwaters
bietet: Wir sind beeindruckt,
wie Fischer in ihren Hütten ohne jegliche
Nachbarschaft leben können...
sogar der nächste Krämerladen ist
immer nur per Boot erreichbar. Doch
auch hier scheint das fröhliche Lachen
der Kinder am Ufer und ihr heftiges Winken unsere Bedenken beiseite zu räumen.
Das Waisenhaus der 50 Mädchen zwischen 5 und 13 Jahren macht einen sehr „aufgeräumten“
Eindruck und nur beim Blick hinter die Kulissen, als die Leiterin erzählt, dass
die finanziellen Mittel vom Ausland leider gestrichen wurden und sie jetzt ums Überleben
kämpfen müssen, scheint dort die heile Welt zu wackeln. Wir lassen einen Obolus,
auch wenn dieser bei weitem nicht den Etat deckt, den das Waisenhaus braucht.
Alles, was wir uns an den Abenden beim Sonnenuntergang noch nicht erzählt haben, erzählt dem Einzelnen ein Astrologe und Muschelleser, denn wir sind schon ganz "indisch" geworden: In Kerala heiratet kein Paar, ohne den Astrologen konsultiert zu
haben und erst dann werden Mann und Frau einander vorgestellt. Wir lassen uns für
ein paar Rupies ein indisches Horoskop ausstellen, und dann hat jeder von uns eine Privatsitzung
bei einem der berühmtesten Astrologen und erfährt, was ihn nach seiner
Heimkehr beruflich und privat erwartet.
Einige der Kunden wird er ohnehin wiedersehen, denn sie sagen schon jetzt, dass es „der gesündeste, schönste und preiswerteste Urlaub“ sei, den sie je erlebt haben...und
bis sie wieder ins Paradies dürfen, versprechen sie immerhin, jeden Morgen an
Abraham zu denken und fleißig ihr Yoga zu machen...
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