Christentum und Reinkarnation

Zur Zeit Jesu in zwei der drei jüdischen Hauptrichtungen, nämlich den Essenern und den Pharisäern, war der Reinkarnationsglaube weit verbreitet, ebenso in der griechisch-römischen Welt und im Manichäismus, durch welchen wiederum die Essener stark beeinflusst waren. So wundert es wenig, dass es eine Reihe von Textstellen im Neuen Testament gibt, welche vom Standpunkt der Reinkarnationslehre interpretiert werden können. Ebenso ist es ganz verständlich, dass eine Reihe von frühchristlichen Strömungen von Reinkarnation ausgegangen sind. Man wird nicht sagen können, dass Jesus und alle Frühchristen an Reinkarnation geglaubt haben. Jede Bibelstelle, die Reinkarnation nahezulegen scheint, kann auch anders interpretiert werden. Und es gibt einige Bibelstellen, welche dem Glauben an Reinkarnation entgegengesetzt sind.

Reinkarnation im Neuen Testament: Bibelzitate

Da dieses Buch jedoch eher ein Plädoyer für Reinkarnation ist, will ich, meiner Einseitigkeit bewusst, zunächst einige Bibelstellen zitieren:
(Jesus über Johannes den Täufer:) Und wenn ihr es gelten lassen wollt: Ja, er ist Elija, der wiederkommen soll. (Mt 11,14)
(Jesus fragte seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn?) Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. (Mt 16,14)
(Über Johannes den Täufer:) Andere sagten: Er ist Elija. Wieder andere: Er ist ein Prophet wie einer von den alten Propheten. (Mk 6,15)
(Johannes der Täufer über sich selbst:) Sie fragten ihn: Wer bist du dann? Bist du Elija? Und er sagte: Ich bin es nicht. Bist du der Prophet? Er antwortete: Nein. (Joh. 1,21)

All diese Zitate legen nahe, dass zur Zeit Jesu ganz selbstverständlich über frühere Leben gesprochen wurde und diskutiert wurde, wer wessen Reinkarnation war.
Die vielen Stellen in der Bibel, die darüber sprechen, dass der Mensch erntet, was er sät,  machen am meisten Sinn, wenn sie mit Reinkarnation verknüpft werden. Denn es ist offensichtlich, dass in diesem Leben Menschen nicht ernten, was sie in diesem Leben gesät haben. Nur wenn man versteht, dass mindestens einige der Jünger von Reinkarnation ausgingen, kann man die ständigen Fragen der Jünger nach der Schuld der Menschen an ihrem eigenen Leid verstehen.

Karma, Schuld und Sühne im Neuen Testament – Wiedergeburtsglaube?

„Und als er vorbeiging, sah er einen Menschen, der blind war von Geburt an. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, so dass er blind geboren ist, dieser oder seine Eltern? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern; sondern an ihm sollten die Werke Gottes offenbar werden!“ (Joh. 9,1-3). Hier wendet sich Jesus gegen einen zu kurz gegriffenen Karmabegriff. Aber es scheint so, dass die Jünger selbstverständlich von Reinkarnation ausgehen. Wie sonst könnte jemand aus eigener Sünde heraus blind geboren werden?
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden." (Matthäus 7, 1-2).
„Sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht Schlimmeres widerfahre." (Johannes 5, 1)
„Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meinet ihr, dass diese Galiläer vor allen Galiläern Sünder gewesen sind, dieweil sie das erlitten haben? Oder meinet ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm von Siloah fiel und sie erschlug, seien schuldig gewesen vor allen Menschen, die zu Jerusalem wohnen?“ (Lukas 13,3-4)
„Womit jemand sündigt, damit wird er auch bestraft." (Weisheit 11, 16)

Reinkarnationslehre in den Apokryphen Schriften

In apokryphen Schriften, also frühchristlichen Schriften, die später nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden, gibt es eine Reihe von Bezügen zu Reinkarnation. Hier nur ein Beispiel:
„Jesus sprach: Heute wenn ihr euer Ebenbild seht, freut ihr euch. Wenn ihr aber eure Bilder seht, die vor euch geworden sind, ... wie viel werdet ihr ertragen?" (Thomas Evangelium V. 84)

Frühe Kirchenlehrer und ihre Aussagen zur Wiedergeburt

In den ersten Jahrhunderten nach Christus wurde viel über die Präexistenz der Seele, also über die Existenz der Seele vor der Geburt des Körpers gestritten. Diese Lehre wurde mindestens stellenweise vertreten u.a. von Justinus dem Märtyrer (100-165), Tatian (2. Jhd.), Clemens von Alexandria (150-214), Gregorios von Nyssa (334-395), Synesios von Kyrene (370-413) oder auch dem Hl. Augustinus (354-430) und Bischof Nemesios von Emesa (um 400-450). Eine Präexistenz der Seele ist natürlich Voraussetzung für die Reinkarnation der Seele.
Der Kirchenlehrer Origenes formulierte es wie folgt explizit in seinem Werk „De Principiis“:
„Wenn man wissen will, weshalb die menschliche Seele das eine Mal dem Guten gehorcht, das andere Mal dem Bösen, so hat man die Ursache in einem Leben zu suchen, das dem jetzigen Leben voranging. Jeder von uns eilt der Vollkommenheit durch eine Aufeinanderfolge von Lebensläufen zu. Wir sind gebunden, stets neue und stets bessere Lebensläufe zu führen, sei es auf Erden, sei es in anderen Welten. Unsere Hingabe an Gott, die uns von allem Übel reinigt, bedeutet das Ende unserer Wiedergeburt.“
Und an einer anderen Stelle schreibt er:
„Aufgrund einer Anziehung an das Böse nehmen bestimmte Seelen Körper an, zunächst einen menschlichen. Nachdem ihre Lebensspanne als Mensch dann abgelaufen ist, wechseln sie aufgrund irrationaler Begierden in einen Tierkörper über, von wo sie auf die Ebene von Pflanzen sinken. Aus diesem Zustand erheben sie sich wieder, indem sie die gleichen Stufen durchlaufen  und kehren zu ihren himmlischen Orten zurück.“

Reinkarnationslehre bei den Christen Südeuropas

Nach Stevenson (a. a. O. S. 56) hat mindestens ein Teil der Christen Südeuropas bis zum 6. Jahrhundert die Reinkarnationslehre befürwortet. Sie war zwar kein Teil der „offiziellen“ kirchlichen Lehrmeinung, scheint aber bis zum Konzil von Konstantinopel 553 als annehmbare Lehre toleriert worden zu sein. Erst im Gefolge des Konzils zu Konstantinopel ist die Lehre der Reinkarnation in den offiziellen Kirchen immer mehr verschwunden, nach Meinung mancher Kenner der Kirchengeschichte aber nie offiziell verboten worden.

Widerspricht die Reinkarnationslehre kirchlichen Lehren?

Geddy McGregor z.B. hat in seinem Buch „Reinkarnation und Karma im Christentum“ aufzuzeigen versucht, dass die Kirche Reinkarnation niemals offiziell verdammt habe, weder die katholische noch die evangelische und man daher als Christ, unabhängig davon, was einzelne Pfarrer oder Theologen sagen, durchaus an Reinkarnation glauben könne. Anscheinend gab es über viele Jahrhunderte immer wieder Bischöfe und sogar Päpste, die sich positiv über Reinkarnation geäußert haben.

Gnostiker und Katharer zur Wiedergeburtslehre

Bis sie durch Verfolgungen ausgelöscht wurden, gab es viele Jahrhunderte sogenannte christliche Gnostiker, welche sich auf die Evangelien und apokryphe Schriften stützten und von Evolution über viele Leben ausgingen.
Die Katharer, eine christliche Sekte in Südfrankreich und Italien (12. bis 15. Jahrhundert), vertraten noch im Mittelalter die Reinkarnationslehre. Mindestens aus den Aufzeichnungen ihrer katholischen Verfolger, von denen sie schließlich ausgerottet wurden, geht hervor, dass manche der Katharer von Erinnerungen an frühere Leben sprachen.

Zurückdrängen des Reinkarnationsglauben aus Machtgründen?

Manche nichtkirchliche Kenner der Kirchengeschichte meinen, dass das schrittweise Zurückdrängen des Reinkarnationsglaubens letztlich eine Machtfrage war. Im Lauf der Jahrhunderte hat die katholische Kirche sich die Macht angeeignet, Sünden vergeben zu können und damit Mittlerin des Heils zu werden. Diese Macht, Seelen vor Fegefeuer und Ewiger Verdammnis zu bewahren, wäre durch die Möglichkeit der Wiedergeburt erheblich eingeschränkt worden. Man braucht sich nur darüber bewusst zu werden, dass ein großer Teil der wunderschönen kirchlichen Gebäude in Rom, darunter der Petersdom, mit dem Ablass-Handel bezahlt wurden.

Die Bibel enthält viele Vorstellungen für das Leben nach dem Tod

Es wäre allerdings vermessen zu behaupten, dass Jesus Reinkarnation gelehrt hätte und die Kirche diesen Glauben verfälscht und umgekehrt hätte. Die Größe der Bibel (wie auch der Bhagavad Gita) liegt unter anderem darin, dass sie widersprüchliche Aussagen zu vielen Aspekten des Lebens und des Glaubens verbindet. So konnten und können sich verschiedenste Menschen in der Bibel wieder finden. Ich meine, dass man sehr wohl Christ sein und an Reinkarnation glauben kann. Ich meine auch, dass man Yoga praktizieren kann, ohne an Reinkarnation zu glauben...