Yoga Vidya Journal Nr. 14, Herbst 2005
Rabindranath Tagore (1861-1941)
Der Vortrag beschreibt die Persönlichkeit R.T., seinen Lebensweg, stellt Gedichte,
Kurzerzählungen vor und gibt Einblicke in die Kultur Indiens.
„Als Wesen ohne Ende hast du mich geschaffen, weil es Dir so gefiel. Und dieses so
zerbrechliche Gefäß, wird immerzu von Dir geleert und jedes Mal gefüllt mit neuem
Leben“. Würde ich gefragt, wer der größte Dichter sei, den Indien hervorgebracht hat,
einschließlich des Größten im alten Indien -KALIDASA- wäre meine überzeugte
Antwort „TAGORE“. Das Tragische ist jedoch, dass seine Größe als Dichter niemals allgemein
anerkannt sein wird, wie die von Goethe, Huge oder Tolstoi.
Diese Sätze des bekannten bengalischen Schriftstellers, „Nirad Chandhun“, fassen prägnant
zusammen, welches Schicksal Tagore als Dichter wiederfährt. Einerseits betonen
sie seine immense Bedeutung für die Literatur seiner indischen Heimat, vor allem seiner
Muttersprache, dem Bengalischen, andererseits weisen sie auf die Begrenzung von
Tagores Wertschätzung hin, eine Begrenzung, die sich gerade aus dem Gebrauch der
bengalischen Sprache ergibt.
Bengalisch wird zwar von rund 200 Millionen Menschen gesprochen, wie z.B. in der indischen
Provinz West-Bengalen und dem angrenzenden Bangladesh und gehört somit
zu den meistgesprochenen Sprachen der Welt, dennoch ist das Bengalische in Indien
nur eine Religionssprache und nicht einmal die größte und wichtigste. International
fällt es an Bedeutung hinter den europäischen Sprachen weit zurück. Wer lernt schon
Bengalisch in Europa und Amerika?
Bengalisch wird zwar von rund 200 Millionen Menschen gesprochen, wie z.B. in der indischen
Provinz West-Bengalen und dem angrenzenden Bangladesh und gehört somit
zu den meistgesprochenen Sprachen der Welt, dennoch ist das Bengalische in Indien
nur eine Religionssprache und nicht einmal die größte und wichtigste. International
fällt es an Bedeutung hinter den europäischen Sprachen weit zurück. Wer lernt schon
Bengalisch in Europa und Amerika?
bengalische Prosa entwickelt und hat die bengalische Literatur der modernen europäischen
Kultur geöffnet und Anschluss an die Themen und Formen der Weltliteratur erreicht.
Rabindranath Tagore, indischer Nobelpreisträger für Literatur 1913 (Gitanjali = Liedopfer)
gilt als Meilenstein in der bengalischen Lyrik. Eine Gitanjali besteht aus 100 kleinen
Gedichten. Diese Gedichte der Gitanjali-Epoche sind Tagores tiefster Ausdruck seiner religiösen Gefühle:
In einem einzigen Gruß an Dich, mein Gott,
lass alle meine Sinne sich entfalten
und diese Welt zu Deinen Füßen streifen!
Gleich der Regenwolke, die mit der Last von unvergossenen
Schauern tiefer überm Boden hängt,
lass alle meine Sinne,
mein ganzen Denken sich verneigen vor Deiner Tür
in einem einzigen Gruß an Dich!
Lass aller meiner Leiden verschiedene Weisen
zu einem einzigen Strome sich vereinen
und zu dem Meer des Schweigens fließen
in einem einzigen Gruß an Dich!
Gleich einer Schar von Kranichen,
die heimwehkrank zu ihren Nestern
im Gebirge Tag und Nacht nach Hause fliegen,
lass mein ganzes Leben sein Reise tun zum ewigen Heim
in einem einzigen Gruß an Dich!
Gerade auch zur Einführung in Tagores Denken und Schaffen, sind diese Texte gut
geeignet. Sie sind ein Aufruf für den Einklang mit der Natur. Es ist, als wenn das alles
bei offenem Fenster mit Blick auf Wälder und Felder komponiert worden wäre.
Der Nobelpreis belohnte die schönsten Gedichte mit idealistischer Gesinnung.
Der Anfang
„Wo bin ich hergekommen, wo hast du mich aufgelesen?“ fragte das Kind seine Mutter.
Sie antwortete unter Tränen lächelnd, und drückte das Kind an ihre Brust: „Du warst verborgen in meinem Herzen als seine Sehnsucht, Liebling. Du warst in den
Puppen meiner Kinderspiele; und wenn ich aus Lehm das Bildnis meines Gottes formte
jeden Morgen, dann formte ich dich wieder und wieder. Du warst eingeschlossen in der
Gottheit unseres Hauses; sie verehrend, verehrte ich dich. In all meinem Hoffen und
Lieben, in meinem Leben, in dem Leben meiner Mutter hast du gelebt. Im Schoß des
unsterblichen Geistes, der über unserem Hause waltet, bist du genährt worden durch
Menschenalter. In meiner Mädchenzeit, da mein Herz seine Blütenblätter aufschloss,
schwebtest du als ihr Duft darüber. Deine süße Zartheit blühte in meinen jugendlichen
Gliedern wie ein Wolkenglühn vor Sonnenaufgang. Erwählter Liebling des Himmels,
Zwilling des Morgenlichts, du bist den Strom des irdischen Lebens heruntergeschwommen, und zuletzt bist du an meinem Herzen gestrandet. Ich schaue in dein Antlitz und
kann das Wunder nicht fassen: Du, der allen gehört, bist mein geworden.
Vor Angst dich zu verlieren, drück' ich dich fest an meine Brust. Welcher Zauber hat
den Schatz der Welt in diese meine schlanken Arme verstrickt!“
Wie allein eine Gedichtsammlung von Goethe schon genügen könnte, uns von Goethes
Größe zu überzeugen, auch wenn uns der Rest seines Werkes nicht bekannt wäre, so
kann man von Tagores Gedichten sagen, dass uns in ihnen der große Dichter unserer
Zeit begegnet, kommentierte Dr. Gunar Ahlström vom schwedischen Nobelinstitut 1913.
Ich nahm des Augenblicks nicht wahr,
wo ich zum erstenmal die Schwelle
dieses Lebens überschritt.
Ach, welche Macht hat mich geöffnet
in diese Weite voller Geheimnis,
wie eine Knospe sich erschließt
im Wald um Mitternacht!
Als ich am ersten Morgen aufsah
in das Licht, erkannt' ich plötzlich,
dass ich auf dieser Welt kein Fremdling war.
Das Unerforschliche, das weder Form
noch Namen hat, nahm mich in seine Arme -
in meiner lieben Mutter Arme.
Genauso wird im Tod das gleiche Unbekannte
mir erscheinen als etwas, was ich stets gekannt.
Und weil ich dieses Leben liebe,
werd' ich gewiss den Tod genauso lieben.
Das Kind weint auf, wenn es die Mutter
wegnimmt von der rechten Brust,
und findet an der linken schon
im nächsten Augenblick den vollen Trost.
Seine Lyrik als Fest des Geistes, ich kann sie nur mit der Freude vergleichen, die man
beim Trinken frischen und klaren Quellwassers empfindet. All seine Gedanken und Gefühle
prägt das ebenso glühende, wie zarte religiöse Gefühl. Tagore, ein idealistischer
Dichter von großer Spannbreite, ergab sich dem rhythmischen Zauber seiner Gedanken.
Gerade die Suche nach den wirklichen Bezügen zwischen Glauben und Denken reiht
Tagore in die Reihe der großen Dichter ein und hier zeichnet ihn vor allem Tiefe des
Gedankens, Wärme des Gefühls und erregende Kraft der Symbolsprache aus. Ein so
hoher Grad und eine so große Vielfalt von Blickrichtungen und Farben, die Kraft mit
ebensoviel Anmut wie Harmonie, die Empfindungen jenes Seelenzustandes, von der
Ewigkeitssehnsucht bis zur Heiterkeit im Betrachten der kindlichen Unschuld auszudrücken,
war ihm eigen. Auch unter den sozialen Denkern des 20. Jahrhunderts war er
der klarste und eindringlichste. Tagore wurde in seiner geistigen Entwicklung durch die
historischen Ereignisse in Europa stark beeinflusst. Neben seinen gründlichen
Kenntnissen in Anthropologie und Naturwissenschaft, war er ein vielfältiges Genie.
G. Albert-Roulhac schreibt über Leben und Werk Tagores:
Der bedeutendste und bezeichnendste Beitrag, den Tagore für die Gesellschaft des 20
Jh. geleistet hat, ist wohl seine ganz neue Art, den Gedanken einer Einheit der menschlichen
Familie aufzugreifen, der in seiner Vorstellung von einem gemeinsamen und
unteilbaren Schicksal uns erst in jüngster Zeit so recht einleuchtend erscheint.
Geburt und Kindheit
Rabindranath Tagore wurde 1861 in Kalkutta, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates
West-Bengalen geboren. Kalkutta, das war eine wahrhaft im Alten verwurzelte
Stadt. Die Kutschen rollten schwerfällig durch die Stadt und wirbelten Staubwolken auf.
Die wohlhabenden Leute, ließen ihr Monogramm auf das lederne Wagendeck malen.
Der Kutscher pflanzte seinen Turban schief aufs Ohr, von hinten schrien zwei Lakeien
Heijo und scheuchten die hastig auseinanderfahrenden Passanten auf. Die Frauen ließen
sich in der stickigen Finsternis einer geschlossenen Sänfte herumtragen. Keine von
ihnen hätte je gewagt, ein modernes Kleid oder gar Schuhe zu tragen, das galt als anstößig.
Für großes Aufsehen sorgten auch die neuen Petroleumlampen - war man doch
an Rizinuslämpchen gewöhnt.
Tagore gehörte einer traditionsreichen, berühmten Familie an, die wirtschaftlich wie
kulturell die bengalische Gesellschaft anführte. Rabindranaths Großvater, Dwarkanath
Tagore, schuf den Typ des Großindustriellen. Er besaß Fabriken und Dampfschiffe, Kohlengruben
und Ackerland. Man nannte ihn den „Prinzen“ wegen seiner feudalen
Prachtentfaltung. Doch unterstützte er auch gemeinnützige Institutionen in Bengalen,
und er engagierte sich sozialreformerisch, indem er für Erneuerung des Hindusimus
kämpfte. Vor allem arbeitete er mit Ram Mohan Roy, dem Gründer eines reformierten
Hinduismus zusammen.
Mit Dwarkanath Tagore war der wirtschaftliche Höhepunkt der Tagore-Familie überschritten.
Er hinterließ einen Schuldenberg, den sein Sohn Debendranath Tagore
(brahm. Philosoph) durch Sparsamkeit und Disziplin abtrug. Dwarkanath war ein Lebemann
gewesen, luxussüchtig und gesellig, lebenstüchtig und charmant. Debendranath
folgte dagegen seiner religiös-introvertierten Veranlagung. Er lebte asketisch, übte
sich in Meditation, studierte die heiligen Schriften und doch vollzog er nicht den letzten
Schritt, den seine religiöse Kultur weist, den der Weltentsagung durch ein mönchisches Leben. Er war einer der führendsten und eifrigsten Häupter einer religiösen
Gemeinschaft, der auch später Rabindranath angehörte. (Brahma Samaj). Seine, in dem
damals noch vom Kastengeist beherrschten Lande, seltene Toleranz und Freiheitlichkeit
hatten ihm auch die Zuneigung seines Volkes geschenkt. Die Vereinigung „Brahma Samaj“ hatte das Ziel, die hinduistische Tradition so zu interpretieren, dass sie
sich in Geist und Wert mit der christlichen Religion vereinte.
Debendranath arbeitete bei den Geschäften seines Vaters mit und wurde schließlich
Patriarch einer Familie von 14 Kindern.
Rabindranath Tagore wurde als 14. Kind in eine Großfamilie hineingeboren, die zusammen
mit den Familien der älteren Brüder, entfernter Verwandten, einem Schwarm Dienern,
Gästen, Privatlehrern gut 100 Mitglieder zählte. Im Elternhaus trafen verfeinerter
Kunstsinn und tiefe Achtung vor der Wissenschaft und der Weisheit der Ahnen
zusammen.
Die Ernährung der Kinder im Haus D.T. war sehr schlicht. Leckerbissen kamen nicht auf
den Tisch. Außerdem war es im Lande so Brauch, so gut wie ganz fleischlos zu leben,
nicht aus Askese, sondern aus Frömmigkeit.
Man sollte meinen, dass ein Kind in einer solchen Umgebung viele Spielkameraden und
genügend Abwechslung findet.
Ein Kind in fürstlichen Gewändern,
um seinen Hals Juwelenketten,
kennt keine Freude mehr an seinem Spiel.
Das Festgewand beengt es Schritt für Schritt.
Aus Furcht, es zu zerreißen, zu beschmutzen,
hält es sich vor der Welt zurück,
hat Angst sogar, sich zu bewegen.
Mutter, die Gefangenschaft gepflegten Daseins
ist kein Gewinn, wenn sie ein junges Menschenkind
vom Staub der Erde, vom gesunden Staube, fernhält
und ihm das Eintrittsrecht zum großen Jahrmarkt
einfachen Menschenlebens raubt.
Bis ins letzte Lebensjahr schrieb Rabindranath, wie einsam, wie unverstanden und unglücklich
er als „Rabi“ - wie man ihn als Kind rief - gewesen sein. In Rumpelkammern
oder auf dem Dach des weitläufigen Hauses in Kalkutta ging er allein seinen phantasievollen
Spielen nach.
Er dachte sich gefahrenvolle Expeditionen aus, er beobachtete sehnsuchtsvoll die Bäume,
die Wolken und das wenige der Natur, das er in der Stadt erblicken konnte. Beides
hat Tagore tief geprägt - seine unglückliche, einsame Kindheit und seine tiefe, brüderliche
Liebe zur Natur. Bis ins hohe Alter hat er über Kinder und für Kinder geschrieben.
Tagore bemühte sich das Glück des Kindseins zu erwecken und konnte es doch nicht
verhindern, dass die Gedichte von einem Hauch Melancholie überzogen waren. Seine
Jugend verbrachte er in einem weitläufigen Haus, zusammen mit seiner großen Familie.
In den biographischen Büchern beschreibt er die phantasievollen Spiele, die sich in
den Winkeln und Treppen des Hauses anboten.
Nicht etwa die asketische Tradition seiner Religion des Hinduismus zog in an, sondern
das sinnhafte Leben - der Wechsel der Jahreszeiten, der Anblick eines Schwarmes Wildgänse
am Himmel oder das Geheimnis der Bäume. Mit dieser resoluten Diesseitigkeit
brach er mit der starken, weltverneinenden Tradition seiner Kultur - „als ob wir in einer
feindlichen Welt lebten, wo wir alles, was wir uns wünschen, einer feindlichen und
fremden Weltordnung entreißen müssten.“
Die vielen Räume des Elternhauses kamen ihm wie Verliese vor. Schon mit acht Jahren
schrieb er voller Eifer Verse. Diese Leidenschaft ließ ihn nicht mehr los. Außerdem fand
er früh Gefallen an Betrachtungen. Jeden Morgen beim Aufwachen schien sich der Tag
wie ein Brief anzubieten, voll köstlicher Neuigkeiten, die man lesen kann, wenn man nur
den goldumrandeten Umschlag öffnete. Aus Angst auch nur einen Augenblick zu versäumen,
beeilte er sich beim Anziehen, um sich draußen auf dem Stuhl zu postieren.
Die Flut des Ganges stieg, dann sank sie wieder. Zahllose Schiffe zogen mit unterschiedlicher
Fracht vorbei. Der Schatten der großen Bäume wanderte von West nach Ost und
am gegenüberliegenden Ufer. Über den ausgefransten Stämmen, die sich gegen den
Himmel abhoben, ergoss sich im Westen durch Wolkenlücken die goldene Flut des
Lebens in den Abend. „So verrann der Tag“.
Tagore hat keinen Schulabschluss gemacht, hat niemals einen „richtigen“ Beruf ausgeübt...
Freiheitsdrang ist ein wichtiges Thema seines Lebens geblieben: Konventionen
niederbrechen, immer weiter hinausgeschobene Grenzen überschreiten! Darin liegt
der Schlüssel seiner Kreativität. Und darin liegt außerdem auch sein Rang als eine Gestalt
der Weltliteratur begründet.
Weit über 2000 Lieder hat Tagore gedichtet und komponiert. Eine große Anzahl hat er
auf die Jahreszeiten, auf das Wunderbare der Natur geschrieben. Lieder, viele Lieder,
die er auf einem weißen Teppich sitzend, in der goldenen Stille seines kleinen Zimmers
reifen ließ, so wie die Ähre ihre Körner in der Sonne bleicht.
Es entstanden auch Schauspiel, Romane, Gedichte, Tanzdramen, Aphorismen, Vorträge,
Erzählungen, Dramen und Liebeslyrik.
Sag mir, ob das alles wahr ist, Liebster,
sag mir, ob das alles wahr ist.
Wenn diese Augen ihre Blitze sprühen,
geben die dunklen Wolken in deiner Brust
stürmisch Antwort?
Ist es wahr, dass meine Lippen
süß sind wie die aufspringende Knospe
der ersten, eingestandenen Liebe?
Säumen die Erinnerungen entschwundener
Maienmonate in meinen Gliedern?
Erschauert die Erde wie eine Harfe in Liedern,
wenn meine Füße sie berühren?
Ist es wahr, dass die Tautropfen
von den Augen der Nacht fallen,
wenn ich mich zeige,
und dass das Morgenlicht froh ist,
wenn es meinen Körper rings einhüllt?
Ist es wahr, ist es wahr, dass deine Liebe
einsam durch Zeitalter und Welten wanderte,
auf der Suche nach mir?
Dass, da du mich endlich fandest,
dein langes Sehnen letzten Frieden fand
in meiner saften Rede,
in meinen Augen und Lippen
und flutenden Haaren?
Ist es denn wahr, dass das Geheimnis
des Unendlichen auf dieser kleinen Stirn geschrieben steht?
Sag mir, Geliebter, ist denn das alles wahr?
Oft schrieb er Verse auf eine Schiefertafel. Fürchte dich nicht, schien sie zu sagen,
schreib nur was dir gefällt, mit einem Drüberwischen löschst du schnell alles wieder
aus... Herrlich sind seine Kindergedichte, in denen Mutter und Kind intime Zwiesprache
halten.
Flüstern der Seele
Letzte Nacht träumte mir, ich war wieder ein Knabe wie damals, bevor meine Mutter
starb. Sie saß in einem Zimmer eines Gartenhauses am Ufer den Ganges. Ich ging achtlos
vorbei, ohne sie zu bemerken, als es plötzlich in meinem Bewusstsein aufblitzte,
dass meine Mutter da war und eine unsagbare Sehnsucht mich ergriff. Ich wandte mich
sofort und ging zu ihr zurück, und indem ich mich tief vor ihr neigte, berührte ich ihre
Füße mit meiner Stirn. Sie nahm meine Hand, sah mir ins Antlitz und sagte: „Da bist du
ja!“
In dieser großen Welt gehen wir achtlos da vorbei, wo die Mutter sitzt. Ihr Vorratsraum
ist offen, wenn wir Speisen brauchen, unser Bett ist bereit, wenn wir schlafen wollen.
Nur jene Berührung und jene Stimme sind nicht da. Wir gehen umher, aber nie kommen
wir ihr persönlich nahe, dass sie unsere Hand fassen und uns begrüßen kann: „Da
bist du ja!“
In seiner Jugend kam er viel in Indien herum. Er begleitete oft seinen Vater auf dessen
Reisen in den Himalaja und musste dort dann täglich ein Bad im eiskalten Wasser einnehmen.
Diese Abhärtung hat ihm nicht geschadet, sondern ihm geholfen, seinen
Körper ausschließlich zum Werkzeug seiner Seele zu machen. In seiner Jünglingszeit
schlief er oft auf der offenen Veranda in Hitze, Kälte und Regensturm, nur in ein Stück
grobes Tuch gekleidet.
1877, 16-jährig, führte ihn das Jurastudium nach Brighton, England. Später an die Uni
Londons, wo er englische Literatur studierte und sich für Byron und Shakespeare begeisterte.
1871, als 20-jähriger schrieb der die „Briefe eines in Europaweilenden.“ Er erreichte
keinen Universitätsabschluss, hatte aber sein Wissen und seine Kenntnisse bereichert.
Insgesamt hatte er zwei Englandaufenthalte und einen Amerikaaufenthalt. Seine
Haupttätigkeit entfaltete er während des ersten Weltkrieges.
1912 machte er eine Weltreise. Er besuchte verschiedene Schulen in Bengalen, war in
Lehrerseminaren und Akademien aber nur ein mittelmäßiger Schüler. Er konnte sich
nicht der „Disziplin“ unterwerfen, die in Schülern nur Masse und nicht Individuen sah
und auf ihre Persönlichkeit nie Rücksicht nahm.
1921 Dissertation an der Uni Visva-Bharati (Stimme der Welt) in Santiniketan mit dem
Thema „Wo die ganze Welt ihr gemeinsames Nest findet.“
Früher literarischer Ruhm
Tagore wurde rasch zum bedeutendsten Lyriker der bengalischen Sprache. Das lebendige
kulturelle Klima in seiner Familie und ihr gehobener gesellschaftlicher Rang hatten
ihm die bestmöglichen Startchancen gegeben. Im Innenhof des großen Familienhauses
fanden die Theateraufführungen Tagores statt. Von seiner Jungend an schrieb
er Dramen und Musikspiele für den im wörtlichen Sinne „Hausgebrauch“. Er studierte
seine Stücke auch selbst ein, spielte meist eine Hauptrolle, sang und tanzte mit.
Der dandyhafte Jüngling, der seit seiner Kindheit gegen die dürre Routine einer Schulbildung
rebelliert hatte, war viele Jahre lang frei, seiner Muse zu frönen.
Im Alter von 30 Jahren erhielt er von seinem Vater die Aufgabe, die Ländereien der Familie
zu verwalten. In einem Hausboot fuhr er auf dem Fluss Padma zu den Dörfern, in
denen die Pachtbauern der Familie wohnten. Der Stadtjunge wurde zum ersten Mal
der harten Wirklichkeit indischer Dörfer ausgesetzt. Sie bewegte Tagore tief. Die Folge
war ein Strom von Erzählungen über das Leben der kleinen Leute in Dörfern und Kleinstädten.
Damit fanden das Dorf und der Bauer Eintritt in die bengalische Literatur, in
der sich bisher nur die Mittelklasse selbst dargestellt hatte. Er scheute sicht nicht, in oft
hart sozialkritischem Ton gemeine Ehemänner, ausbeuterische Großbauern oder die
vielen menschenverachtenden Sitten rund um eine Hindu-Heirat und Ehe realistisch
unversöhnlich darzustellen.
Tagore war in der emotionalen Religiösität des Vishnuismus zu Hause, in dessen Mittepunkt
die Liebesbeziehung zwischen dem göttlichen Paar Krishna und Radha steht.
Geprägt also von einer romantisch-, melancholischen Stimmung, die sich vorwiegend
in einfachen Bildern ausdrückt.
Schulexperiment in Santiniketan
Tagore besaß eine überwältigende Persönlichkeit mir souveränem Auftreten und großer
Aufrichtigkeit und Menschlichkeit. Wer Tagores Bild betrachtet und dem Mann
ruhig in die Augen schaut, den berührt ganz seltsam wenn jemand fragt: „Ist er ein Asket?“
Der Mann sieht nicht aus wie ein Fakir, der jeder äußeren Bequemlichkeit entsagt,
sich in Wälder flüchtet, und dort von Wind und Wetter sich zerzausen lässt. Sieht
nicht aus wie jemand, der auf jede Freude des Lebens verzichtet und nur grübelnden
Betrachtungen und Andachtsübungen sich hingibt. Tagore hatte eine gepflegte Gestalt
mit wallendem Lockenhaar, eine hohe, fast verklärte Stirn, eine stolze Nase und
samtene Augen. Hier war ein Vertreter höchst entwickelter Männlichkeit und Menschlichkeit.
Seine Kleidung war formvollendet und dem landesüblichen angepasst. In
allem merkte man, dass hier ein Mensch seine Welt aus seiner Seele gestaltet hat. Man
empfindet unmittelbar, dass hier eine Persönlichkeit, ein ausgeglichener Mensch von
quellender Innenkraft seine Umgebung geprägt hat. Hier ist einer von denen, welche
die Menschheit höher heben und vorwärts bringen. Er weiß auch was Liebe ist zu Weib
und Kindern, alle Leiden und Bitterkeit haben ihn durchglüht. Seine Frau, die Königin
seines Palastes und Herzens. Er fragt, ob er Gärtner Ihres Blumengartens werden dürfe, als Ausdruck der in ständiger Verehrung verkleideten Gartenliebe.
Als Tagore 40 Jahre alt war, gründete er für seine 5 Kinder eine Ashram-Schule in
Santiniketan in Bengalen. Seine Abneigung gegen das herrschende britische
Schulsystem war so stark, dass er sie lieber selbst unterrichtete oder Privatlehrer einstellte.
In Santiniketan, 150 km nördlich von Kalkutta, ließ er ein paar Lehmhütten bauen,
sammelte die eigenen Kinder und eine Handvoll Schüler um sich und begann zusammen
mit einigen Lehrern im Schatten der Mangobäume Unterricht zu halten, wie es
die Gurus im klassischen Indien getan hatten.
Er schrieb Fibeln für ABC-Schützen und Schulbücher für die Älteren. Später entwickelte
sich aus der Schule eine internationale Universität (auf dem riesigen Familienbesitz). „Meine Schule ist kein verschlossener Keller, wo der lebendige Geist künstlich genährt
wird. Vielmehr das offene Haus, wo aus Meister und Schüler Einheit wird.“
Die jungen Männer zogen begeistert durchs Land und verkündeten seine Lehre.
Tagore liebte vor allem die Regenzeit und versuchte von seinen Reisen immer pünktlich
zu Beginn der Regenzeit einzutreffen. Zeitweise führte er auch ein kontemplatives
Leben eines Einsiedlers auf einem Boot, das er auf einem der Nebenflüsse des Ganges
hinabtreiben ließ.
So gingen die Jahre dahin. Sein Familienleben war von Unglück überschattet. In einer
Zeitspanne von 5 Jahren starben seine junge Frau und zwei ihrer Kinder. Als er in den
Himalaya-Bergen seine an Tuberkulose sterbenskranke Tochter pflegte, sammelte der
Dichter früher entstandene Gedichte über Kinder und schrieb neue dazu. Manche sind
melancholisch, andere kindlich-heiter.
Besuche in Deutschland (Zwischen Verehrung und Anfeindung)
Tagore besuchte Deutschland dreimal: 1921, 1926 und 1930.
Beim ersten Besuch begegnete er einem deutschen Volk, das durch die Niederlage im
ersten Weltkrieg und das Diktat der Versailler Verträge gedemütigt war und sich in
einer tiefen seelischen und wirtschaftlichen Krise befand.
In dem indischen Dichter sah das Volk spontan eine Art Erlösergestalt, eine Art Weisen
aus dem Morgenland. Tagore bereiste die großen Städte Deutschlands, sprach mit Politikern
und Kulturschaffenden und hielt Vorträge, zu denen Massen hindrängten. Bevor
er zum Beispiel an der Uni Berlin sprach, gab es Prügeleien unter jenen, die den überfüllten
Saal nicht mehr betreten durften; die Polizei musste eingreifen.
Tagore hielt Vorträge, er bot Philosophie an - Trostgedanken. Die Auflagen von Tagores
Büchern schnellten in die Höhe. Einige, wie der Roman „Das Heim und die Welt“,
„Sadhana2 und „die Lyrik des Gärtners2 wurden Besteller. Die Zeitungen waren voll
von Feuilletons über den orientalischen Dichter.
Einerseits zeigten die Journalisten eine erstaunliche Unkenntnis über seine Biographie
und die Gesellschaft, in der er lebte. Einerseits nannten sie ihn gerne einen Maharaja,
einen Fürsten, und malten sich sein Leben hemmungslos wirklichkeitsfremd aus.
Andererseits beklagten sich die Zeitungen über Verletzungen des Selbstbewusstseins,
die Tagore der deutschen Gesellschaft zufügte. In der Presse hieß es z.B. „in diesem Überschwang liegt eine unnötige Selbstherabsetzung und ein beschämender Undank
gegen die großen Führer unseres eigenen Volkes.“ Man glaubte, deutsche Dichter würden
die Ehren, die Tagore entgegennahm, mit dem selben Rechte verdienen.
Damit nicht genug. Der zitierte Zeitungsartikel fährt folgendermaßen fort:
„Denn was da in indischer Verkleidung vor uns auftritt und zuerst fremdartig anmutet,
das ist zu einem sehr wesentlichen Teil Abendland - Deutschland, christliche Mystik.
Darin liegt keine Herabsetzung Tagores, sondern ein Vorwurf auf die kritiklosen Bewunderer,
die vor allem Fremden Kotau machen und die eigenen Schätze nicht kennen.“
Aus diesen Sätzen, die typisch sind für viele Aufsätze über Tagore in den 20iger
Jahren, spricht nicht nur Kulturneid, sondern auch die Verärgerung der Christen, die
sehen, dass der Vertreter einer anderen Religion im eigenen Land missioniert. Tagore
wollte niemanden zum Hinduismus bekehren, er selbst war im orthodoxen Sinne kein
Hindu. Aber er propagierte hinduistische Vorstellungen und Werte, und das ging vielen
Christen gegen den Strich. Die „asiatische Milde“ die „pazifistische Entrücktheit“
eines Tagores sei nicht angemessen für ein Volk, das nach einem zerstörerischen Krieg
seine Kräfte sammeln muss, um das Land wieder aufzubauen.
Nur sein erster Besuch war von Tagores Rummel geprägt. Die Reisen im Jahr 1926 und
1930 verliefen ruhiger. Auch die Verkaufszahlen seiner Bücher und die
Aufführungszahlen der Theaterstücke auf deutschen Bühnen gingen seit Mitte der
20er Jahre stark zurück. Jetzt nannten einige ihn witzelnd „Klimbimdranath“ oder „Gangeshofer“.
Während des dritten Reiches ist Tagore totgeschwiegen worden. Nach dem Krieg gab
es nicht die Tagore-Renaissance, die zu erwarten gewesen wäre. Dem indischen Dichter
haftete auch nach dem zweiten Weltkrieg die Aura des „Propheten“ und „Mystikers“
an. Tagore führt in der deutschen Nachkriegsdichtung das vernachlässigte Dasein eines
Albumpoeten, eines Dichters „vom Abreißkalender“, für ein paar erbauliche Sprüche
gut genug, doch als Lyriker nicht ernst zu nehmen.
Der Nobelpreis
Er verursachte den tiefsten Einschnitt im Leben des bengalischen Dichters. Im Nu wurde
aus dem Provinzdichter eine internationale Berühmtheit. Er war der erste, der außerhalb
Europas und Amerikas den Nobelpreis für Literatur erhielt. Der Nobelpreis für Tagore
heilte den verwundeten Stolz der politisch unterdrückten Völker ein wenig. Nicht
nur sein Heimatland Indien durfte sich geehrt fühlen, sonder das gesamte Asien - oder
politisch gesprochen - die von Europa kolonisierten und beherrschten Völker.
Eine Übersetzung ins Englische nach der anderen erschien: Gedichtbände, Theaterstücke,
Erzählungen, Romane. Er war besonders bemüht sein Werk der englischsprachigen Öffentlichkeit vorzustellen.
Nachdem Tagore mit 53 Jahren den Nobelpreis erhalten hatte, widmete er einen großen
Teil seiner Energie und Zeit dem Gedanken der Völkerverständigung.
Von 1916 bis 1932 unternahm er über 70jährig neun ausgedehnte Auslandsreisen.
Sie führten ihn wiederholt nach Europa, nach Nord- und Südamerika, sowie in die
Länder Ostasiens bis nach Japan und westlich bis in den Iran und Irak. Diese Reisen
dauerten oft Monate, es waren beschwerliche lange Schiffs- und Eisenbahnfahrten.
Er begegnete den Großen aus Kultur und Politik. Darin zeigte sich nicht nur sein eigener
Anspruch „als Repräsentant Indiens und Asiens“ aufzutreten, sondern auch die
Bereitschaft dieser Großen, Tagore als Repräsentanten anzuerkennen.
In seiner zweiten Lebenshälfte wurde Santiniketan Tagores Wohnort. Er mochte nun
nicht nur Dichter sein, es wollte Menschen unmittelbar formen. Er hielt in dieser Zeit
viele Vorträge über Erziehungsfragen. In diesen Jahren griff er auch aktiv in die
Tagespolitik ein und wurde zum Anführer der nationalen Befreiungsbewegung.
Doch dauerte es nur ein paar Jahre, bis er sich enttäuscht vom politischen Geschäft zurückzog.
Er war Dichter, ein Visionär, sein Reich war die Phantasie und die poetische
Sehnsucht. Erschöpft von Arbeit, bedrückt von Sorgen, belastet von mehreren tragischen
Todesfällen in seiner Familie, hatte sich der Dichter in die Stille der Familien-
Landgüter zurückgezogen. Freunde rieten ihm zu einem Erholungsaufenthalt im Ausland.
Auf dem Schiff nach England übersetzte er Dutzende seiner Gedichte in englische
Prosa. In England war man begeistert. Der berühmteste irische Dichter Yeats setzte sich
dafür ein, dass es gedruckt wurde. 1912 erschien „Gitanjali.“
Die letzten Jahre
Gegen Ende seines Lebens war Rabindranath Tagore fast bewegungsunfähig, doch er
fand immer noch die Kraft, jeden Morgen bei Tagesanbruch seine Baumkulturen zum
Gutenmorgengruß zu besuchen. Auch mit 80 Jahren war er noch der leidenschaftliche,
in der Lebensschule lebende Student. Sein Herz war voller Spannung, voller Verwunderung über das, was auf ihn zukam.
Letzte Erfüllung meines Lebens, Tod,
mein Tod, komm du und flüstere mir zu!
Tag um Tag hab ich für dich gewacht,
für dich ertrug ich Freud und Leid des Lebens.
Alles, was ich bin und was ich habe, was ich erhoffte,
alle meine Liebe ist immer schon zu dir geströmt
in den geheimsten Tiefen.
Ein letzter Blick aus deinen Augen,
und mein Leben wird für immer
dir zu eigen sein.
Die Blumen sind zur Blütenkette schon geflochten
für den Bräutigam.
Nach der Vermählung wird die Braut ihr Heim verlassen
und ihrem Herrn alleine sich vereinen in der Einsamkeit der
Nacht.
Was willst du ihm bieten an jenem Tage,
wenn der Tod an deine Türe pocht?
Oh, ich will vor meinen Gast die volle Schale
meines Lebens stellen,
will ihn nicht mit leeren Händen gehen lassen.
Die volle, süße Lese aller meiner Herbstestage,
aller meiner Sommernächte, jeden Gewinn
und jede späte Ernte erfüllten Lebens
will ich vor ihn stellen am Ende meiner Tage,
wenn der Tod an meine Türe pocht.
Ich weiß, der Tag wird kommen, wo ich den Anblick dieser Welt
verloren habe. Das Leben wird in Schweigen Abschied nehmen,
den letzten Vorhang über meine Augen ziehn.
Doch Sterne werden wachen in den Nächten
und neue Morgen sich erheben wie zuvor
und Stunden sich wie Meereswogen türmen,
um Freuden so wie Leiden hoch zu tragen.
Denk' ich an dieses Ende meiner Stunden,
so stürzt der Stunde Schranke ein,
und bei des Todes Lichtenschein darf ich schauen,
was Deine Welt an unerkannten Schätzen birgt.
Erlesen ist das ärmlichste Geschick,
erlesen das geringste ihrer Leben.
Was ich umsonst ersehnt, was ich bekam,
es fahr dahin!
Lass mich in Wahrheit nur das haben,
was ich seit je verächtlich übersah.
Schon mehrere Jahre hatte er in immer neuen Gedichtsammlungen Abschied vom Leben
genommen, sich dankbar und wehmütig dem göttlichen Geist anvertrauend. „Jetzt am Ende der Jugend, ist mein Leben wie eine Frucht, die mir nichts mehr zu sparen
braucht und die nur wartet, um sich ganz darzubringen in voller Lust und Süße.“
Plötzlich, erzählte Tagore, bemächtigte sich meiner das Gefühl für das Weben der Dinge
um mich herum. Das unsichtbare Weben der Schöpfung - und ich begann zu schreiben.
Zm 82. Gesang von „Gitanjali“ kommt das am deutlichsten zum Ausdruck:
Zeit ist endlos, Herr, in Deinen Händen.
Keinen gibt's, der Deine Stunden zählt.
Tage, Nächte fliehen vorbei,
und die Jahrtausende erblühn und welken hin
gleich Blumen, doch du kannst warten.
Deine Jahrhunderte gehen hin, eines nach dem anderen -
Und eine kleine Wiesenblume ist das Werk,
das sie vollendet haben.
Wir aber dürfen keine Zeit verlieren,
wir haben keine Zeit.
Und deshalb müssen wir uns um unseren Vorteil raufen.
Wir sind zu arm, als dass wir uns verspäten dürften.
Und daher kommt es, dass meine Zeit vorübergeht;
ich geb sie jedem zänkerischen Mann,
der sie erheischt:
Indessen ist zuletzt dein Altar
leer von Opfergaben.
Doch wenn der Tag zu Ende ist,
da haste ich vor Furcht,
es könnte dein Tempeltor geschlossen sein -
und finde, es ist immer noch Zeit.
Bis zum Ende seines Lebens blieb er als Lyriker und Liebeskomponist schöpferisch, einige
seiner tiefsten Gedichte entstanden im hohen Alter. Das Ende des 2. Weltkrieges,
der ihn verzweifeln ließ und das Ende der Kolonialherrschaft in Indien sollte Tagore
nicht mehr erleben.
Rabindranath Tagore starb im Alter von 80 Jahren hochgeehrt in Kalkutta. Am Tag vor
seinem Tode schrieb der große Mystiker, der die Dichtung zur Dienerin der Liebe und
der geistigen Verinnerlichung gemacht hatte, noch an seinen Freund:
„Man muss sein Bestes tun, um zu zeigen, dass der Mensch nicht der größte Fehltritt
der Schöpfung ist.“
„Alles Große und Wahre steht vor unserer Tür, wie ein Gast, bereit, unsere Einladung
anzunehmen.“
Die Botschaft
Wie schon zur Jahrhundertwende Swami Vivekananda, wollte Tagore „den Westen“
mit den Waffen des Geistes „erobern“, nachdem dieser „den Osten“ mit groben materiellen
Waffen niedergezwungen hatte. Diese stark vereinfachte, ja verfälschte Polarität
vom „geistigen Osten“ und „materialistischen Westen“ kam Mitte des letzten Jahrhunderts
auf und Tagore ist einer ihrer Verfechter und Interpreten gewesen.
Tagore verbreitete auf seinen Reisen durch Asien die Vision einer pan-asiatischen
Einheit und forderte seine Zuhörer dazu auf, dass Asien durch seine geistige Macht „den Westen“ beeinflussen sollte. Voraussetzung dafür sei, den materialistischen Einflüssen
des Westens zu widerstehen und die eigene Einheit wahrzunehmen und politisch
wie kulturell zu entfalten.
In Europa und Nordamerika verkündete er folgerichtig, dass „der Westen“ den Trost
der altindischen Philosophie brauche, um ein ausgeglichenes, erfülltes Leben führen zu
können. Tagore als Repräsentant des „Ostens“ hat zwar die eigene spirituelle und kulturelle
Selbstbehauptung verkündet, jedoch niemals antagonistisch, niemals arrogant.
Auch in Deutschland trat Tagore eher als Versöhner und Tröster auf, denn als Verteidiger
der eigenen Kultur.
Eingereicht von Ursula Schröder-Meyer, Koppelweg 1, 31199 Diekholzen
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