Stufen
Orginal: Hermann
Hesse, das Glasperlenspiel
Bearbeitung: Hanspeter
Sperzel
Wie jede Blüte
welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede
Weisheit und auch jede Tugend
Zu ihrer Zeit und
darf nicht ewig dauern.
Wie jede Pflanze
ihrem Ausgangspunkt im Samen und damit im Blühen und Reifen findet,
so reift auch der Mensch in der Zeit der Jugend. Doch diese Zeit ist begrenzt
und wenn auch ewige jJugend der Traum vieler Menschen zu allen Zeiten war
und ist, so endet doch der Traum mit dem Eintritt ins Erwachsensein, und
es beginnt die Zeit, in der die Tugend lebt und die Weisheit sich bildet.
Der Traum der Jugend darf also nicht ewig dauern, wenn Tugend und Weisheit
wirklich gedeihen sollen. Viele Völker dieser Erde feiern diesen Eintritt
als “die Geburt des Menschen”, als “den Tod des Kindes” oder als “Initiation”.
Es muß das
Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied
sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit
und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen
zu geben.
Und jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt
und der uns hilft, zu leben.
Das Leben hält
viele Rufe an uns bereit, und sie alle sind mit Abschied und Neubeginn
belegt. Das Verlassen der Jugendzeit, die Geburt eines Kindes oder der
Tod eines geliebten Menschen, das Ende einer Partnerschaft oder der Beginn
einer neuen Liebe sind hier ebenso angesprochen wie das Heraufdämmern
einer neuen Einsicht oder der Beginn eines neuen, eines anderen Denkens.
Tapferkeit und Trauer sind wichtige Elemente des Wandels. Ihnen den Raum
zu geben, der ihnen gebührt, sie zu leben und loszulassen, wenn die
Zeit gekommen ist, dies ist der Zauber des Anfangs. Dies ist gemeint mit
“in Tapferkeit und ohne trauern”. Wir sollen uns frei machen für den
Neubeginn, uns öffnen für diesen Zauber. Dann beschützt
er uns und dann hilft er uns, zu leben.
Wir sollen heiter
Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an
einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will
nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf'
um Stufe heben, weiten.
“Räume durchschreiten”
und an “keiner Heimat hängen” bedeutet auf dem Weg zu sein, bedeutet,
nicht still zu stehen und Schritt für Schritt und Stufe um Stufe zu
nehmen. Und wir finden diesen Weg, diese Räume und Stufen, in der
Heiterkeit als dem Grundmotiv unseres Handelns. Und diesen Weg zu gehen
ist nicht nur eine Möglichkeit, die das Leben für uns bereit
hält, nein, der Geist, der hinter allem steht, verlangst von uns diese
Anstrengung. Gehen wir diesen Weg nicht, so drohen uns Fesseln und Enge.
Uns zu “heben und zu weiten”, uns zu entwickeln also ist das Motiv unseres
Hierseins.
Kaum sind wir heimisch
einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu
Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender
Gewöhnung sich entraffen.
Wir werden geboren
in einen Kreis und mit jedem Tag wird uns dieser Kreis mehr vertraut, Wird
mehr und mehr zur Heimat. Dieser Kreis bietet uns Schutz und Bequemlichkeit,
und genau hier beginnt die Gefahr von Lähmung und Erschlaffen. Wenn
wir das Lernen einstellen, uns eingraben in die gewonnene Bequemlichkeit,
nichts Neues mehr annehmen, dann verliert das Leben seinen eigentlichen
Sinn. Und dieser Sinn, wir hörten es bereits, ist das auf dem zu Weg
sein; und hierzu gehört das Aufbrechen, daß sich in Bewegung
setzten und das auf die Reise gehen. Und diese Reise besteht nicht nur
darin, ein fernes Land zu besuchen oder sich in einen anderen Kreis von
Menschen zu begeben, sondern hierher gehört auch die Reise nach innen,
der Wandel des Denkens und des Empfindens, das Entwickeln von Höherem
wie Toleranz, Mitgefühl und Liebe.
Es wird vielleicht
auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen
jung entgegensenden,
Der Ruf an uns wird
niemals enden ...
Die Zeit eines Menschen
ist begrenzt, und die Tatsache der Geburt beinhaltet auch immer das Dämmern
des Todes. Beide, “geboren werden” und “sterben” bedeuten, das wir in neue
Räume eintreten, bedeuten einen Neuanfang. Und wenn uns der Tod neuen
Räumen entgegensendet, und wenn wir diese Räume “jung” betreten,
und wenn dann dieses Werden und Vergehen, dieser Ruf, niemals endet, dann
erfahren wir die Wirklichkeit unseres Selbst, das ewiges Sein, Unsterblichkeit
bedeutet. Mit dieser Erkenntnis in unserem Herzen verlieren Angst und Leere
ihre Bedeutung und wir lernen, wieder und wieder neu zu beginnen, lernen,
wirklich zu leben.
Wohlan denn, Herz,
nimm Abschied und gesunde !
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