Yoga Artikel

von Sukadev Bretz

Yoga und Sexualität von Sukadev Bretz

Inhalt:

1. Kundalini Yoga: Das Konzept der Sublimierung der sexuellen Energie
2. Die 4 Purusharthas: Das Konzept der sattwigen Bedürfnisbefriedigung
3. Das Konzept der Enthaltsamkeit - Brahmacharya
4. Das Konzept der vier Lebensstadien
5. Das Konzept des roten Tantra
Zusammenfassung
 

In der Yogaliteratur und bei den verschiedenen Yogameistern findet man unterschiedliche Ansätze, wie Spiritualität und Sexualität zusammen gehen oder auch nicht und wie man damit umgehen kann. Ich möchte hier fünf Hauptansätze vorstellen und auch versuchen, aufzuzeigen, dass sie sich nicht widersprechen, sondern das Thema jeweils nur aus einem anderen Blickwinkel heraus angehen. Es geht dabei nicht um Wertungen oder Moral – manchmal entsteht ja aus dieser Thematik das Vorurteil, aus yogischer bzw. spiritueller Sicht sei Sexualität etwas „Schlechtes“ -, sondern um eine Präsentation verschiedener Konzepte, Sichtweisen und Idealvorstellungen. Gleichzeitig sollen Vor- und Nachteile der einzelnen Konzepte sowie mögliche Interpretationen und Umsetzungen für den spirituellen Sucher der heutigen Zeit beleuchtet werden. 



1. Kundalini Yoga: Das Konzept der Sublimierung der sexuellen Energie

Sexualität ist eine Form von Energie. Im Yoga wird das prana, die Lebensenergie, in fünf hauptsächliche Energieströme, vayus, unterteilt. Dabei ist zum Beispiel prana vayu die Energie hinter dem Atemsystem und dem Überlebensinstinkt, apana vayu die Energie hinter der Ausscheidung sowie der Sexualenergie und Arterhaltung. Selbsterhaltung und Arterhaltung sind wohl auch die ausgeprägtesten Instinkte. 

Wenn apana vayu vom untersten Energiezentrum, dem muladhara chakra aus aktiv wird, ist es die Energie hinter allen Ausscheidungsvorgängen. Wirkt apana vayu vom zweiten, dem Swadhistana Chakra aus, dann manifestiert diese Energie sich als sexuelle Energie. Aus yogischer Sicht ist das eine sehr machtvolle Energie, nämlich die schöpferische Energie, mit der neues Leben geschaffen wird und die letztlich hinter jeder kreativen Leistung und auch hinter dem ganzen Universum, der Schöpfung als Ganzes, steht. Diese Energie ist auch eine Manifestation von Liebe. Sie kann eine Grundlage sein zur Entfaltung aller Aspekte von Liebe. Diese Energie kann man nun entweder frei fließen lassen – in die Sexualität hinein - oder man kann ihr eine Bahn vorgeben, in die sie fließen soll – zum Beispiel in ein kreatives Kunstwerk oder die Entfaltung von Talenten - oder man kann versuchen, sie vollständig für spirituelle Zwecke umzuwandeln. Ein Ziel bei aller Energiearbeit ist ganz sicher, mindestens einen Teil der Energie umzuwandeln in ojas (spirituelle transformierte Energie). Denn wir brauchen viel von dieser spirituellen Energie, um den Geist in andere Bewusstseinsebenen zu bringen, unsere wahre Seinsnatur zu erkennen und schließlich zur Selbstverwirklichung zu kommen.

Apana vayu lässt sich zum Beispiel umwandeln in ojas durch pranayama (Atemübungen), Mula bandha (Wuzelverschluß, Zusammenziehen der Beckenbodenmuskeln), ashwini mudra (schnelles mehrfaches Zusammenziehen und Loslassen der Anusschließmuskeln) sowie Umkehrstellungen, längeres Halten der Stellungen, Meditation, Mantrawiederholung und viele andere praktische Übungen aus dem Kundalini Yoga. 

 

2. Die 4 Purusharthas: Das Konzept der sattwigen Bedürfnisbefriedigung

Die Funktion von apana vayu vom Swadhistana Chakra her können wir auf sattwige (sattwig: rein, klar, leicht, hell) Weise ausleben, im Rahmen einer auf gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung basierenden Partnerschaft. Sexualität gehört zur ersten der 4 Kategorien menschlicher Bedürfnisse, nämlich der Kategorie der sinnlichen Bedürfnisse. Es wird empfohlen, die Bedürfnisse aller 4 Kategorien auf sattwige, d.h. reine Weise zu leben, und auf rajassige (egoistische, gierige) und tamassige (rücksichtslose, träge, unwissende) Weisen der Bedürfnisbefriedigung zu verzichten. Und auch bei sattwiger Lebensweise sollte man Identifikation und Anhaftung vermeiden.

Diese vier Bedürfniskategorien, auf Sanskrit Purusharthas genannt, sind: 


Eine ideale Partnerschaft hilft erstens, Bedürfnisse auf sattwige Weise zu leben. Zweitens ermöglicht sie es, Liebe auf allen Ebenen zu erfahren und zu geben. Drittens und letztendlich dehnt sich die Liebe über Partnerschaft und Familie aus zur allumfassenden Liebe aller Geschöpfe.

Im klassischen Indien ist die praktische Umsetzung dieses Konzepts ähnlich wie in der christlichen Kultur, nämlich in Form einer Ehe mit Kindern – mit dem Unterschied, dass das Sakrament der Ehe nicht bis zum Tod gilt sondern bis ins hohe Alter, wie wir später noch sehen werden. Von einem moderneren yogischen Standpunkt wären, losgelöst von gesellschaftlichen Konventionen, auch andere Formen des Zusammenlebens denkbar, auch z.B. homosexuelle Partnerschaft oder andere Formen des Zusammenlebens. 

Sexualität wird als Grundlage einer Partnerschaft gesehen, die Liebe auf alle Ebenen des Seins ermöglicht. Körperliche Liebe entwickelt sich weiter zu emotioneller, geistiger und spiritueller Liebe. Liebe in der Partnerschaft wird schließlich Grundlage für sogenannte selbstlose Liebe, wobei vielleicht unbedingte, bedingungslose, unbegrenzte Liebe bessere Ausdrücke dafür wären. Man soll lernen, sich für einen anderen zu öffnen, für einen anderen auch Opfer zu bringen, für den anderen da zu sein. Idealerweise ist das natürlich beidseitig. Wenn beide füreinander da sind, ist das eine wunderbare Weise, das Ego etwas zu überwinden und an sich zu arbeiten. 

Hier zunächst ein paar Anregungen, wie eine Partnerschaft der Bedürfnisbefriedigung bei allen vier Purusharthas helfen kann.

Kama: Natürlich soll sie einmal das Bedürfnis nach sexuellem Kontakt, aber auch nach Zärtlichkeit, Geborgenheit usw. befriedigen und zwar auf eine sattwige Weise, das heißt, dass man in dem anderen nicht nur das Sexualobjekt sieht, sondern auf seine Wünsche und Bedürfnisse auf jeder Ebene eingeht. 

Artha: Gleichzeitig ist eine Partnerschaft auch irgendwie eine Wirtschaftsgemeinschaft, wobei jede Familie ihre Art der Aufgabenteilung finden muß. 

Der nächste Aspekt, Dharma, bedeutet, auch für andere da zu sein. Eine Partnerschaft sollte sich nicht exklusiv auf die Zweiterbeziehung beschränken. Das kann heißen, Kinder zu bekommen und aufzuziehen. Das ist eine ausgezeichnete Weise, das Ego etwas zu überwinden, selbstloser zu werden. Diese Grundliebe, die man für einander und für die eigenen Kinder entwickelt, sollte man dann weiter ausdehnen auf andere Menschen, auf Arme, Kranke, Bedürftige, die Gesellschaft und sich für das Allgemeinwohl einsetzen. Eine Partnerschaft wie auch das eigene Leben sind nicht erfüllt, wenn dieser Aspekt nicht dabei ist. Es tut auch der Partnerschaft und der persönlichen Entwicklung nicht gut, wenn man sich von allem abkapselt und sich nur aufeinander konzentriert. Man erwartet dann von einem Menschen alles – und ein einziger Mensch kann nun einmal nicht alles gleichzeitig sein. 

Also nicht: „My home is my castle“, und ich muss mich gegen alle Einflüsse von außen wehren, sondern im Gegenteil: Mein Heim, meine Familie, ist die Grundlage für alles andere, die Zelle, von der aus man wachsen und sich weiter entfalten kann. 

Der vierten Aspekt, moksha, bedeutet, dass Partnerschaft auf dem Weg zur Einheit, zur Befreiung, hilft. Indem sich die Egos aneinander reiben, kommt das Tiefere zum Vorschein. Der eine unterstützt den andern auf dem spirituellen Weg. Der eine ist der Guru, der Lehrer, des anderen. Ideal ist es dabei natürlich, wenn beide Partner bewusst auf dem spirituellen Weg gehen und sich gegenseitig unterstützen. Wer eine solche spirituelle Partnerschaft hat, kann sich glücklich schätzen. Auch dabei kann es Probleme geben: Zum einen inspirieren sich die Partner nicht immer gegenseitig auf dem Weg, sondern liefern sich Entschuldigungen, nicht zu praktizieren, oder machen den anderen dafür verantwortlich, dass es auf dem Weg nicht so voran geht. Zum anderen ist bei jeder Partnerschaft natürlich die Gefahr einer starken Anhaftung an den Partner und statt einer Grundlage für mehr Liebe kann auch die Grundlage für emotionelle Schwierigkeiten geschaffen werden. Aber nichts im Leben ist immer einfach. Das Leben ist vielmehr dazu da, dass wir lernen und wachsen. 

Es ist eine besondere Herausforderung, wenn nur einer der Partner bewusst auf dem spirituellen Weg ist. Der eine wird regelmäßig seine Praxis machen wollen – Meditation, asanas, pranayama - seine Ernährung umstellen, keinen Alkohol mehr trinken wollen. Da wird es schon etwas schwierig, wenn der andere bei den bisherigen Gewohnheiten bleibt. Aber ich kenne eine ganze Reihe gut funktionierender Partnerschaften, die nach ein oder zwei Jahren die Anpassungsschwierigkeiten überwunden hatten und auf einen guten Weg gekommen sind. So lange der grundlegende Respekt, Liebe, Achtung und die Überzeugung da sind, dass der andere auf seine Weise ein guter Mensch und eigentlich auch spirituell ist, ohne es eben zu seinem Lebensstil zu machen, kann man miteinander wachsen. 

Für die meisten Menschen ist eine Partnerbeziehung das Normale und Wünschenswerte.


3. Das Konzept der Enthaltsamkeit - Brahmacharya

Das Gegenteil des Konzepts der sattwigen Bedürfnisbefriedigung ist Brahmacharya, der totale Verzicht auf Liebe und Zärtlichkeit in einer Partnerbeziehung, um so apana vayu vollständig in ojas, reine spirituelle Energie, umzuwandeln. Frei von emotionellen Bindungen und Verstrickungen kann der/die Enthaltsame seine/ihre ganze Energie für den spirituellen Weg und den Dienst an der Menschheit nutzen und diese so in höhere spirituelle Kraft umwandeln.

Dieser Weg ist für Menschen, die ein Bedürfnis nach partnerschaftlicher Beziehung nicht stark haben. Sie können ganz darauf verzichten und bewusst den Weg der Enthaltsamkeit und Entsagung wählen, zum Beispiel als Mönch, Nonne, Swami. Dieses Konzept findet man in den meisten spirituellen Systemen auf der ganzen Welt. Denn die oben beschriebene ideale Partnerschaft ist in der Realität oft nicht immer eine Quelle von Kraft für alle anderen Aspekte des spirituellen Lebens, sondern manchmal eine Quelle von Sich-Nicht-Wohlfühlen, emotionellen Konflikten, Verzweiflung, Unzufriedenheit, bis hin zum Selbstmord. Und wer keine starken sexuellen Bedürfnisse hat, kann sich sagen: Um zur vollen Verwirklichung zu kommen, verzichte ich auf die geringen Bedürfnisse, die ich auf dieser Ebene habe und widme mein ganzes Leben Gott. Gott ist mein Partner. Statt meine ganze Energie auf einen Partner oder die Familie zu richten, entwickle ich universelle Liebe zu allen Menschen und Wesen. 

Oft findet man da auch tatsächlich Menschen, von denen eine große Herzenswärme ausgeht, die sich nicht auf den engen Kreis beschränkt. 

Aber für viele ist es nicht damit getan, einfach zu sagen, jetzt verzichte ich auf die Bedürfnisse. In dem Moment, wo sie das Gelübde ablegen, meinen sie es natürlich ernst und diese Bedürfnisse sind auch nicht da. Aber nach einer Weile können die Wünsche auch wieder kommen. Und manche müssen sich dann distanzieren, um nicht in Versuchung geführt zu werden, sind frustriert oder resigniert. Oder sie haben dann doch eine Freundin oder einen Freund, was Gewissenskonflikte und Leid mit sich bringen.

Für einige wenige ist das Mönchtum sehr leicht und sehr natürlich, für einige wenige ist die Partnerschaft sehr leicht und ganz natürlich. Für die Mehrheit ist beides sehr viel Arbeit. Man kann sich auf beiden Wegen bemühen, zur Verwirklichung zu kommen und sollte gegenüber anderen tolerant sein. 

Auch wer den Weg der Partnerschaft geht, kann Gelegenheiten nutzen, brahmacharya im Sinne von Enthaltsamkeit eine Weile lang zu erleben, z.B. wenn man aus beruflichen oder sonstigen Gründen mal eine Weile vom Partner entfernt ist oder gerade nach einer Trennung eine Weile allein lebt. Gefährlich für die Beziehung kann es werden, wenn ein Partner auf Sex verzichten will und der andere nicht. Manchmal kann während einer bestimmten Phase der spirituellen Praxis die sexuelle Libido verschwinden, weil apana vayu vollständig sublimiert wird. Dann muss man sehr einfühlsam sein, und keinesfalls dem anderen sagen: „Ich bin über Sex hinausgewachsen und brauche es nicht mehr“. Dies kann eine Partnerschaft zerrütten. Vielmehr sollten man sich bewusst machen: Meist kommt die Libido nach ein paar Wochen oder Monaten (manchmal auch erst nach 1-2 Jahren) wieder. Und eine vorübergehende Unlust ist in einer guten Partnerschaft dem anderen sicherlich vermittelbar.

4. Das Konzept der vier Lebensstadien

Dieses klassische indische Konzept der vier Stadien im Leben eines Menschen kombiniert Entsagung und sattwige Bedürfnisbefriedigung. Es besagt, dass der Mensch verschiedene Lebensphasen durchläuft, in denen verschiedene Dinge wichtig sind und erfahren und gelebt werden wollen. Die vier Phasen sind:

- Brahmacharya, Schülerschaft (10/14 bis 20/25 Jahre)
- Grihastya, Berufs- und Familienleben (20/25 bis 50/60 Jahre)
- Vanaprastha, Vorruhestand (50/60 bis 70/75 Jahre)
- Sannyas, Entsagung (70/75 Jahre bis zum Tod)
 

Brahmacharya

Das erste ist die sogenannte Brahmacharya, die Schüler-Phase bei einem Lehrer. Sie beginnt im Alter von etwa zehn bis vierzehn Jahren und dauert bis etwa zum 20. oder 25. Lebensjahr. Brahmacharya hat verschiedene Bedeutungen. In einem Sinn ist brahmacharya die sexuelle Enthaltsamkeit. Im Rahmen der fünf yamas (ethisch-moralische Grundlegen im Zusammenleben mit anderen) bedeutet brahmacharya in etwa die Vermeidung von sexuellem Fehlverhalten. Im Rahmen der vier Ashramas ist brahmacharya die Lernperiode, wo der Schüler sein Elternhaus verlässt und beim Lehrer lebt – das kann man sich vorstellen wie eine Art Internat: Der/die Brahmachari lebt beim Lehrer, arbeitet für ihn und lernt dabei seinen Beruf, seine Berufung und die Grundlagen des spirituellen Lebens. Dabei lebt der/die Brahmachari enthaltsam und wandelt so die Energie des apana vayu in ojas, spirituelle Energie um.

Als spirituelle Hauptpraktiken in dieser Periode galten pranayama, Atemübungen,  asanas (Yogastellungen), Rituale, Mantras und Karma Yoga, also dem Meister zu dienen und notwendige Arbeiten in Haushalt, Garten und Landwirtschaft zu erledigen. Die Schüler lernen auch zu meditieren, aber da der Geist in jungen Jahren sich nicht so gut konzentrieren kann, ist Meditation in dieser Phase nicht die Hauptpraxis. 

Grihastya

Mit etwa 20, 25 Jahren beginnt die zweite Phase, das Berufs- und Familienleben. Der Schüler kehrt nach Hause zurück und heiratet, wobei in Indien die klassische Heirat arrangiert ist. Idealerweise werden die Lehrer (gurus) und Astrologen von den Eltern zu Rate gezogen, um den geeigneten Partner/die geeignete Partnerin zu finden. Und die beiden sollen sich auch mögen. Also müssen eigentlich vier Seiten übereinstimmen. Da das realistischerweise selten zutrifft, wurde in der Praxis der vierte Punkt weggelassen, und die arrangierte Heirat überwog.

Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass Liebe nicht zuerst da ist, sondern dass Liebe entwickelt werden muss. Im Westen ist die Vorstellung, die Liebe müsse zuerst da sein und dann müsse sie auch ewig halten. In Indien lernten die Schüler, dass eine wichtige Aufgabe in der Beziehung ist, Liebe füreinander zu entwickeln. Liebe ist etwas, was immer wieder wachsen kann, indem man Arbeit und Energie hineinsteckt. Und das ist eine Aufgabe, die man systematisch angehen muss. 

Im Grihastya-Stand ist die Aufgabe, ein sattwiges Leben zu führen. Das gilt sowohl für die Partnerschaft als auch für das Berufsleben. Im Beruf soll man sein Bedürfnis nach Anerkennung und seine Talente ausleben, auch nach Karriere, Geld, Macht, Ansehen streben – also das, was man unter Selbstverwirklichung im westlichen, humanistischen Sinn verstehen würde, sofern das im Beruf auf eine sattwige Art und Weise möglich ist und es einem ein Bedürfnis ist. Sattwig in diesem Zusammenhang heißt, es soll ethisch-moralisch vertretbar sein, man soll nicht auf Kosten anderer vorankommen wollen, soll sich dabei an die Einhaltung der yamas halten, also nicht lügen, nichts für sich beanspruchen, was einem nicht zusteht, Rücksicht auf andere nehmen usw. 

Für manche Menschen ist der Beruf einfach Broterwerb. So lange man dabei nichts Unethisches macht, es einem nicht zu viel Energie raubt und man daneben noch genügend Kraft hat zum Beispiel für soziales Engagement, seine Yogapraxis oder sonstige sinnvolle Freizeitbeschäftigungen, ist das als Existenzgrundlage vollkommen in Ordnung, sofern man sich dabei einigermaßen wohl fühlt. 

Für spirituelle Praktiken ist naturgemäß in der Grihastya-Phase weniger Zeit. Man sollte aber trotzdem täglich 1-2 Stunden asanas, pranayama und Meditation üben. Und vor allen Dingen ist es wichtig, Spiritualität in den Alltag zu bringen, über Beruf und Partnerschaft an seinem Charakter zu arbeiten, seine Lektionen im Leben zu lernen, an den Aufgaben zu wachsen, für andere da zu sein sowie das Göttliche immer mehr in allem zu sehen, also Karma und Bhakti Yoga.

Vanaprastha 

Die dritte Stufe, vanaprastha, folgt etwa ab 50, 60 Jahren bis etwa 75. Es ist ein langsames Eintreten in den Ruhestand. Dieser Übergang findet allmählich statt, nicht abrupt wie im Westen, wo man bis 60 oder 65 seinen Acht-Stunden-Tag hat und danach von einem Tag auf den anderen nichts mehr, was für viele Menschen eine schwierige Umstellung ist. Klassischerweise zieht man sich in vanaprastha langsam aus dem Beruf zurück, übergibt das Geschäft oder den Hof an die Kinder oder die Nachfolger. Und man löst sich langsam körperlich und emotionell aus der Partnerschaft, um sich später ganz zu trennen und so im hohen Alter in sannyas, Entsagung, einzutreten. 

Meditation fällt jetzt leichter, man ist ruhiger, abgeklärter, man hat mehr Zeit für die spirituellen Praktiken. In besonderem Maße wichtig sind jetzt wieder asanas und pranayama. Denn wenn man das jetzt nicht praktiziert, verliert sich die Lebensenergie relativ rasch und dann ist sannyasa, das Alter, nicht schön und angenehm, sondern eine unangenehme Phase, wo einem die Energie fehlt, wo man langsam krank wird und sich nicht mit der Selbstverwirklichung beschäftigen kann, sondern nur noch mit seiner physischen Gesundheit. Daher sind gerade in vanaprastha asanas und pranayama besonders wichtig. In manchen Teilen von Indien gilt Hatha Yoga geradezu als Alte-Leute-Beschäftigung. Wenn also jemand mit fünfzig anfängt, Hatha Yoga zu üben, ist das durchaus im Sinne der klassischen Lehre. Natürlich ist es auch im Sinne der klassischen Lehre, schon von Jugend an zu praktizieren. In der Jugendzeit soll man viel üben, so dass man auch fortgeschrittene Stellungen lernt. In grihastha reduziert man die Übung etwas, in vanaprastha verbringt man mehr Zeit damit und ist dann für sannyas bereit.

Sannyas

Nach der allmählichen Lösung in vanaprastha folgt in sannyasa die physische Trennung vom Partner sowie die Lösung und Befreiung von allen Anhaftungen. 

De fakto ist das in Indien selten gemacht worden. Wenn zwei Menschen bis ins hohe Alter zusammen gelebt haben und die Beziehung funktioniert hat, dann kam sannyasa erst, wenn ein Partner gestorben war. Wenn die Beziehung nicht funktioniert hat, dann waren natürlich beide recht froh, jetzt sannyas nehmen zu können. Früher war das die einzig mögliche Weise der Trennung. Man konnte sich nicht scheiden lassen, aber man konnte Swami werden. 

In der Sannyas-Phase bereitet man den Geist vor auf den Tod. Man versucht nicht – wie es bei uns üblich ist -, die Jugend nachzuahmen, zweite Flitterwochen usw. zu erleben, sondern langsam Abstand zu gewinnen, sich von der Welt zu lösen. 

Die wichtigste Praxis in sannyasa ist die Meditation. 

Man hat ein befriedigendes Leben gehabt, in grihastya seine Bedürfnisse und Wünsche ausleben, seine Talente und Fähigkeiten entfalten können, bei der Bedürfnisbefriedigung auch die Hohlheit der Welt erkannt und ist jetzt bereit, sich davon zu trennen. Man hat Energien aufgebaut, den Geist sublimiert, gelöst von allen Verhaftungen, jetzt kann man meditieren und die Selbstverwirklichung erreichen. Und dazu gehört auch ein formelles Gelübde, dass man allem entsagt. 

In Amerika gibt es den Spruch: „Better quit before you’re fired“ – also, lieber selbst kündigen, bevor einem gekündigt wird. Wir bekommen irgendwann die Kündigung von diesem Leben. Und deshalb ist es gut, sich darauf vorzubereiten, nicht mehr nur den äußeren, vergänglichen Dingen nachzulaufen, bevor wir aus diesem physischen Leben hinausgeworfen werden.

Natürlich sind diese vier ashramas heute im Westen (und auch in Indien) nicht so einfach lebbar. Das Konzept der vier ashramas verdeutlicht aber eines: Im Leben gibt es verschiedene Lebensphasen, in denen die Spiritualität unterschiedlich gelebt werden kann und muss. Gerade die Übergangsphasen erfordern eine bewusste Neuanpassung des Lebens an die neuen inneren und äußeren Entwicklungen.

 

5. Das Konzept des roten Tantra

Tantra beruht auf der Shiva-Shakti-Philosophie, wo Shiva für reines Bewusstsein steht und Shakti für die kosmische, schöpferische Energie, die sich in allem Manifesten, in der ganzen Schöpfung ausdrückt. Ziel ist es, diese Shakti wieder zurückzuführen, symbolisch zu vereinen mit Shiva, dem reinen Bewusstsein und so den Schöpfungsprozess für das Individuum quasi rückgängig zu machen, zum Zustand des reinen Seins zurückzukehren. Im weissen Tantra macht man das zum Beispiel mittels Atem- und Konzentrationsübungen. Im roten Tantra soll über die körperliche Vereinigung eine transzendentale Einheit erfahren und verwirklicht werden. Geschlechtsverkehr wird als spirituelle Praxis verstanden. Das Ziel ist, dass die sexuelle Energie im Geschlechtsverkehr nicht verloren geht, sondern bewahrt und umgewandelt wird. Dafür gibt es bestimmte Atemtechniken, Mudras und Mantras, die beim Geschlechtsverkehr Anwendung finden. Der Mann lässt es z.B. nicht zur Ejakulation kommen, und auch die Frau zieht die Energien nach oben.
Klassische Yogis bezweifeln jedoch, dass allein durch rot-tantrische Sexualität ein dauerhafter spiritueller Fortschritt erzielt wird. Noch ist es für den spirituellen Fortschritt notwendig, auf „normale“ Sexualität zu verzichten. Wenn beide Partner das wünschen, können rot-tantrische Praktiken das Sexualleben bereichern. Da ich kein Experte im roten Tantra bin, werde ich es bei diesen wenigen Sätzen belassen.

Zusammenfassung

Es gibt im Yoga unterschiedliche Modelle, wie Spiritualität und Sexualität in Beziehung stehen. Letztlich gilt: Jede/r muss seine/ihre eigene yogische Lebensweise finden. Dies gilt hier wie bei allen Aspekten des Yoga. Man sollte sich auch davor hüten, Sexualität in Bezug auf Spiritualität überzubewerten. Weder kommt man allein durch Enthaltsamkeit zur Selbstverwirklichung noch führen tantrische Sexualpraktiken sofort zur Erleuchtung. Letztlich muss der/die Suchende  sich immer wieder fragen: Wie kann ich alle Teile meines Lebens spiritualisieren bzw. so leben, dass sie meiner spirituellen Entwicklung förderlich sind. Durch regelmäßige Übung von asanas, pranayama und Meditation erreicht man dabei einen Zugang zur inneren Intuition, die einen führen wird.

 

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