Yoga Artikel

Swami Sivananda

Die Rolle der Selbstbeherrschung im Sadhana

Ungefähr hundertfünfzig Meilen oberhalb der Sannyasinkolonie von Rishikesh im Himalaya ist ein abgelegener Ort namens Chamauli. Hier wurde eine Art Damm, eine Barrikade gegen den Strom des Gebirgsganges errichtet. Eines schönen Tages geschah dort etwas, und sehr wahrscheinlich würde das Wasser außer Kontrolle geraten und in einem gewaltigen Strom ausbrechen. Sofort begannen Drähte zu summen. Ein Telegramm wurde an alle niedriger gelegenen Gegenden geschickt, um vor einer möglichen Überflutung des Ganges zu warnen und aufzufordern, höherzugehen, weg vom Ufer des Ganges.
Nun ist das Wasser des Ganges das Leben und die Seele für die Menschen, die am Ganges leben. Aber was ist das für ein merkwürdiges Phänomen - die Menschen fliehen nun vor seinem lebenspendenden Wasser. Was ist der Grund dafür? Solange der Strom in seinen Begrenzungen war, solange sein Volumen in einem sicheren Randes begrenzt war, war er höchst nützlich und hocherwünscht. Als dieselbe natürliche und gesetzmäßige Funktion des Dammes (Versorgung mit Wasser) überschritten wurde, wurden die Wasser gefährlich und erschreckend. Ein solches Übermaß machte aus einem Segen eine Drohung. Nun betrachte einen ähnlichen Sachverhalt im Leben des Menschen.
Der durchschnittliche Mensch ist Sklave seiner Sinne. Üblicherweise ist sein Leben ein dauernder Strudel inmitten zahlreicher verschiedener Vishayas, die ihn in seinem alltäglichen Leben einschließen. Seine Gelüste treiben ihn dazu, zwei Dinge zu tun, sie gehen nach außen zu gewissen äußerlichen angenehmen und anziehenden Dingen, und ebenso wollen sie gewisse Dinge in sich hineinziehen. So nimmt die Abhängigkeit des Menschen von seinen Sinnen diese beiden Formen an, zu gewissen Dingen hinauszugehen und gewisse Dinge in sich hineinzuziehen. In bestimmten Situationen, im Fall von bestimmten Arten von Dingen sind diese beiden Prozesse miteinander verbunden, nämlich Befriedigen und Verzehren. Es ist nicht falsch zu behaupten, daß diese beiden nichts anderes sind als die zwei Aspekte von Sinnlichkeit.
Nun ist Sinnlichkeit ein weiter, allgemeiner Begriff. Er schließt jede Art von Befriedigung durch die Sinne ein. Wie auch immer, nicht jede Befriedigung ist völlig unethisch, unmoralisch oder kriminell. Gewisse Formen von Befriedigung wie Trunkenheit, Ausschweifungen, Unkeuschheit, usw. sind eindeutig unmoralisch und verbrecherisch. Sie werden erbarmungslos verdammt. Andere, obwohl nicht direkt kriminell, sind doch extrem schädlich, entweder physisch oder geistig oder beides, für den einzelnen und manchmal auch für andere in seiner Umgebung. Das Kauen, Schnupfen und Rauchen von Tabak, Wetten, Spielen, usw. fallen unter diese Gruppe. Solche Praktiken sind streng verboten und eindeutig gebrandmarkt. Drittens gibt es noch andere (und diese Gruppe betrifft uns besonders), die natürlich und in bestimmten Grenzen sogar toleriert und durch Gewohnheit gerechtfertigt sind. Essen, Trinken, Schlafen, Ruhe und ordentliche Kleidung, um den Körper zu bedecken - diese und die damit verbundenen körperlichen Notwendigkeiten gehören zu der zuletzt genannten Kategorie. Sie sind in gewisser Hinsicht unmoralisch. An diesen Dingen ist grundsätzlich nichts Unethisches, in übersteigerter Form nehmen sie aber sofort den Charakter einer Moralfrage an. Sie verlieren ihren neutralen Charakter und werden direkt oder indirekt (manchmal sowohl direkt als auch indirekt) unmoralisch. So ist z.B. Schlafen etwas Normales für alle Lebewesen auf Erden. Tiere und Menschen, Sünder wie Heilige tun es. Aber es gibt eine Grenze, innerhalb derer es etwas Wünschenswertes und Wohltuendes ist. Zuviel Schlafen macht den Menschen faul, lethargisch, träge und letztlich nutzlos sowohl für die Gesellschaft als auch für sich selbst. Für den Sadhak ist es eine der gefährlichsten Gewohnheiten. Für ihn ist es ein Laster, das es zu beseitigen gilt. Gewohnheitsmäßig zu lange zu schlafen vermehrt Tamas, macht das Sadhana zunichte und verzögert den Fortschritt.
Nimm einen anderen Vorgang - Essen. Essen wird als unentbehrlich betrachtet, solange die körperliche Hülle besteht. Vom niedrigsten Ungeziefer bis zum höchstverwirklichten Heiligen, jeder nimmt Nahrung zu sich. Übertreibe es, und es wird sowohl indirekt als auch direkt falsch, unziemlich, unethisch und geradezu kriminell. Es ist eine falsche und schädliche Gewohnheit vom gesundheitlichen und medizinischen Standpunkt aus gesehen; unziemlich vom Standpunkt der gesellschaftlichen Etikette, die Gefräßigkeit mit Ungunst und Mißbilligung betrachtet; es ist unethisch, denn der Mensch mästet durch Überernährung seine lustvollen Neigungen und wird derb und sinnlich; und es ist kriminell vom wirtschaftlichen Standpunkt aus, weil die rücksichtslose Überernährung einer Gruppe von Menschen alle Regeln der Verteilung überschreitet und die hungernden Massen ihrer dringend benötigten Nahrung beraubt.
Genau hier sehen wir nun die lebenswichtige Rolle der Zurückhaltung, da wir Funktionen mit unterschiedlicher moralischer Tragweite das rechte Gleichgewicht und Ausmaß und die richtige Richtung geben. Insofern als ihre Einordnung als moralisch oder nicht direkt von der Grenze und Ausdehnung ihrer Befriedigung oder ihres Verbrauches abhängt, ist es die Gleichsetzung von Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle im Individuum, die als Regler fungiert, der sie innerhalb der Grenzen von gut und richtig hält. So ist es das Vorhandensein oder Fehlen dieses Elements der Selbstkontrolle und der Zurückhaltung, das dieselbe Handlung des Essens beim einen lobens- und beim anderen tadelnswert macht. Es ist lobenswert bei heiligen Menschen mit einfachen und spartanischen Gewohnheiten und tadelnswert beim schamlosen, unersättlichen Vielfraß. Und das ist der Qualitätsunterschied ein und derselben Handlung zweier Menschen, welcher dem Faktor der Selbstbeherrschung zuzuschreiben ist.
Warum die Rolle der Selbstbeherrschung mit besonderem Verweis auf die dritte Kategorie von neutralen, moralisch indifferenten Funktionen behandelt worden ist, wird klar, wenn wir berücksichtigen, daß die beiden anderen Kategorien als Ganzen zu vermeiden sind, wobei genau genommen die Frage nach Selbstbeherrschung gar nicht erst zu entstehen braucht. Diese Handlungen sind unnatürlich, unnötig und verzichtbar. Sie dürfen nie getan werden. Wohingegen die dritte Klasse der unvermeidlichen üblichen Vorgänge des sinnlichen Konsums und der sinnlichen Befriedigung getan werden müssen, jedoch nicht übertrieben werden dürfen. Und Selbstbeherrschung erreicht dies. Selbstbeherrschung liefert die Garantie und Sicherheit gegen übermäßigen Genuß.
Die Funktion der Selbstbeherrschung, wachsam zu sein gegenüber und zu wirken gegen den Drang zu übertriebenem Verzehr und Genuß, wirkt auf zwei Arten, die der Mäßigung und die der freien Wahl. Da wo übermäßiger Verzehr eine Form annimmt, die die Grenzen der Qualität sprengt, manifestiert sich Selbstbeherrschung als das Prinzip der Mäßigung, um Kontrolle auszuüben. Wenn der Irrtum im Wesen eines Schwelgens in einer beleidigenden und nicht wünschenswerten Eigenschaft liegt, wirkt Selbstbeherrschung im Treffen einer vernünftigen Wahl. Dies läßt den Suchenden sattvige Speisen wählen und von rajasigen und tamasigen Speisen Abstand nehmen, obwohl sie vielleicht schmackhafter sind als die sattvige Ernährung. Dies veranlaßt den Sadhak auch dazu, nachts eine halbe oder eine Stunde länger zu schlafen, anstatt sich am Tag dem Schlaf hinzugeben.
Mäßigung und Auswahl stellen einen dualen Prozeß dar, in dessen Übung beide eine wechselseitige und vorteilhafte Reaktion aufeinander bewirken. Wenn die Eigenschaft des Verzehrs, das Wesen der Dinge, die über den Weg der Sinne aufgenommen werden, nicht erregend, sondern sattvig sind, läßt dies einen Rhythmus und eine Harmonie im System entstehen. Dieser Zustand der Harmonie ist eine große Hilfe in der Übung der Selbstbeherrschung; denn Selbstbeherrschung hängt ab von innerer Stärke, Atma Bala. Je größer Sattva im Menschen ist, desto größer ist die Entwicklung dieser inneren Kraft. Ebenso hält die Gewohnheit des Festhaltens am Prinzip der Mäßigung Körper und Geist leicht und frei von Giften. In solch einem Zustand der Gesundheit und Reinheit sind alle Fähigkeiten offen und wachsam, erleichtern in hohem Maß die Übung von Viveka und Vichara (Unterscheidungskraft und rechtes Befragen) von denen kluge Auswahl und Zurückhaltung abhängen.
Es zeigt sich, daß Fähigkeit und Geschick in der Selbstbeherrschung der größte Freund des Menschen sind. Sie wacht über die natürlichen sinnlichen Neigungen des Menschen, holt das Bessere aus dem Menschen heraus und verkehrt es in ein Übermaß. Selbstbeherrschung spielt eine wichtige Rolle dabei, die Prozesse von Verzehr und Genuß nicht über das Maximum ihrer Nützlichkeit hinausgehen zu lassen und in selbstauferlegten Grenzen zu halten. Nütze diesen Faktor vollständig und vernünftig, und du wirst die Früchte von Erfolg, Gesundheit, Wohlbefinden, Fortschritt und spirituellen Errungenschaften ernten.
Selbstbeherrschung macht das Leben lebenswert. Sei selbstbeherrscht und werde ein Jitendriya Yogisvara. Selbstbeherrschung macht dich zum wahren Herrscher über die drei Welten. Selbstbeherrschung führt zu Selbstverwirklichung!
Gepriesen sei die Selbstbeherrschung, der höchste Regulator! Aller Ruhm gilt der Eigenschaft der Selbstbeherrschung, die wahrhaft eine göttliche Vibhuti ist, eine wirkliche Manifestation Gottes des Herrn Selbst!

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