Yoga Artikel

Swami Sivananda

Die Bewegungen der Vasanas im Sadhana 

Der Suchende kämpft inmitten einer rauhen, empirischen Welt, die voll ist von Hindernissen. Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten tauchen auf Schritt und Tritt auf. Versuchungen, Tests und Prüfungen überfallen ihn von Zeit zu Zeit. Er bemüht sich, kämpft mutig gegen die schweren Widerwärtigkeiten und denkt letztlich, daß es hoch an der Zeit ist, sich abzusondern und zu versuchen, sein Sadhana in einiger Entfernung von diesen Störfaktoren zu machen. Er zieht sich vom Tumult dieser weltlichen vyavaharischen Aktivität zurück und begibt sich in die relative Abgeschlossenheit einer spirituellen Institution, wo er einige Zeit lang selbstlos dient und systematisch sein Sadhana macht. Zu seinem Entsetzen muß er aber nach einiger Zeit feststellen, daß er, anstatt eine nach und nach anwachsende moralische, geistige und spirituelle Reinigung zu erfahren, noch mehr Unreinheit, Übel und unerwünschte Emotionen und Gedanken verspürt. Was ist dieses seltsame Phänomen? Macht er Rückschritte? Was ist das für ein sonderbares Stadium, das er durchmacht? Bewegt er sich eigentlich auf das Licht zu oder gelangt er immer mehr in Dunkelheit? Diese Überlegungen beginnen seinen Geist nun ganz ernstlich zu beschäftigen. Seine natürliche Sorge und starke Beunruhigung über seinen unerklärlichen Zustand ist ganz verständlich. Wenn er ein wenig überlegt, geduldig versucht, seinen Geist nach innen zu kehren und seinen Zustand und die Veränderung, die in ihm vorgeht, zu analysieren, wird er bald die tatsächliche Wahrheit erkennen und sofort seine Sicherheit wiederfinden.
Das ist kein Verfallsprozeß, sondern tatsächlich eine Reinigung. Spirituelle Entwicklung sieht manchmal wie das Gegenteil dessen aus, was sie ist. Das hat seinen Grund. Extreme, die sich diametral gegenüberstehen und widersprechen, sehen manchmal identisch aus. Sehr leise Schwingungen kann das Ohr nicht erfassen, und ebenso wenig kann das Ohr sehr große Höhen wahrnehmen. Ein statischer Gegenstand sieht bewegungslos aus. Wenn sich der gleiche Gegenstand mit einer enormen Geschwindigkeit dreht, erscheint  er für das Auge vollkommen ruhig. Wenn also in einer Phase des Sadhana der extreme Umkehrprozeß der Reinigung und Beseitigung von Übel stattfindet, sieht das in alarmierender Weise ebenso aus wie der entgegengesetzte positive Prozeß des Erlangens von Ashubha Vasana.
Hier ist etwas aber ganz genau zu beachten. Wenn diese inneren Vasanas sich aufzulösen beginnen, muß der Sadhak mit großer Wachsamkeit und Aufmerksamkeit darauf achten, daß ihnen keine Gelegenheit gegeben wird, sich aktiv physisch zu manifestieren. Es darf nur ein rasches Ausschwemmen und sich Auflösen sein. Wie das überschüssige gestaute Wasser, das durch das periodische Öffnen einiger Schleusen abgelassen wird, müssen diese Vasanas abfließen, ohne Schaden anzurichten. Dann ist mit dem Sadhak alles in Ordnung, und er wird bald mit seinem Sadhana fortfahren wie zuvor. Andernfalls werden sich diese Vasanas in Handlungen ausdrücken und weitere Schlingen in das karmische Tauwerk binden, welches das Individuum hier in Sklaverei hält. Anstatt ein Prozeß der Befreiung zu werden, ist es dann das Gegenteil.
In diesem Zusammenhang gibt es zwei Vorgänge, die dem Sadhak von großer Hilfe und Unterstützung sein werden, wenn er daran denkt und sie zeitlich richtig mit weisem Vichara einsetzt. Es ist nämlich nicht immer notwendig und nicht einmal wünschenswert, daß man all diesen sich ›verausgabenden‹ Kräften gestattet, rasch ausgeschwemmt oder überhaupt freigesetzt zu werden. Dort, wo sie sind, eingebettet im Chitta, dem unterbewußten Geist, da können sie direkt sublimiert oder aufgelöst werden. So wie die Hitze der Sonne, die auf das aufgestaute Wasser strahlt, dieses direkt durch Verdunstung reduziert, so sublimiert auch regelmäßige Meditation, die der Suchende übt, einen Teil des Vasanalagers direkt, Tag für Tag im Laufe des Sadhana. Dann liegt in diesen Kräften, die tatsächlich aufbrechen, eine überaus nutzbringende Alternative, die der Sadhak anwenden kann und soll, nämlich, sie dann auf der äußeren physischen Ebene zu sublimieren und in nützliche spirituelle Tätigkeit umzuwandeln. Letzteres kann entweder subjektiv mit nützlichen Auswirkungen auf den Sadhak selbst verwendet werden oder auch objektiv zum Vorteil anderer. Subjektiv, z.B. dann, wenn die subtile Lust-Vasana sich zu manifestieren versucht, muß der Sadhaka, wenn er wachsam ist, sie sofort in einige Runden seines Lieblingspranayamas, eine Asanasitzung oder das lautstarke Singen des erhabenen Purushasukta, Sahasranama, Siva-Mahimna, usw. umwandeln. So wird die Sublimierung auch nutzbringend in Sadhana umgewandelt, in wertvolles, lebensveränderndes Sadhana.
Sollte die Vasana von Zorn diesen Prozeß des sich Auslebens beginnen, ziehe dich in einen ruhigen Raum zurück, lache laut und herzlich und lasse sie aufperlen in einem reinen Aufwallen von guter Laune und Lachen. Oder sitze still und sende eine Welle nach der anderen von Liebe, Segen und gutem Willen vom Grunde des Herzens in das ganze Universum. Wiederhole immer wieder die erhabenen Verse des Shantipatha der Upanishaden. Das wird dich einfach mit überschäumender kosmischer Liebe erfüllen. Alle Zorn Vasanas werden verschwinden und ein fortdauerndes Erbeben von motivloser kosmischer Liebe zurücklassen. Das ist in der Tat ein unbeschreibliches Gefühl. Dieses Sadhana gibt dir ein positives Kapital von Sattva und Prem. Du wirst feststellen, daß du merklich verändert bist, schon nach einem einzigen Versuch in diesem Prozeß der bewußten Sublimierung.
Diese subjektive Methode ist vorzuziehen und soll besonders hinsichtlich Rajoguna und Tamoguna Vasanas Anwendung finden, die durch äußeren Kontakt aktiviert werden und auch durch Assoziierungen, so wie z.B. Zorn, Lust, etc. Dann gibt es Tendenzen wie das unterdrückte soziale Wesen, den rajasigen Trieb zu planlosem Tätigsein oder das erotische Bedürfnis, Zuneigung zu zeigen - eine Überschwenglichkeit, die sich in diversen Rauschzuständen manifestiert, wie auch Sadhaks, die Züge von Verweichlichung in ihrem Wesen haben. Es wird gut sein, diese mit der objektiven Methode zu sublimieren.
Wenn dich eine Anwandlung von Geselligkeit überkommt, gestatte dir nicht, in einen Bazar getrieben zu werden, um zu tratschen, oder in den nächsten Leseraum, in ein Kaffeehaus oder zur Post, um dort die sorgsam angesammelte Energie mit allerlei Politik, Tagesthemen oder Tischgesprächen zu verzetteln. Gehe statt dessen zu den Armen und Betrübten, und sieh, ob du ihnen irgendwie dienen kannst. Gehe auf die Straße oder Landstraße unter die Pilger und Wanderer und versuche, ihnen etwas von ihrer Last abzunehmen und ihre Bürde durch angenehme und freundliche Konversation zu erleichtern. So mache dich selbst reicher, eben durch den Vorgang des Gebens.
Wenn dich von innen her Sentimentalität überkommt, bleibe vorsichtig, bleibe still. Laufe nicht töricht zu Freunden und Kollegen. Gehe lieber und rede mit der Natur. Sprich und lache liebevoll mit den Vögeln in den Sträuchern und mit dem bunten Schmetterling, der von Blume zu Blume flattert. So wickle gefahrlos Vasana-Fäden von der Spule des Chitta ab. So bist du in Sicherheit.
Wenn also diese Vasanas sozusagen das Eis durchbrechen und an die Oberfläche kommen, sei nicht beunruhigt. Verstehe, was passiert, und beschäftige dich in Ruhe mit ihnen. Bediene dich je nach Gelegenheit der genannten Methoden und passe sie der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Temperament an. Überwinde sie weise und bleibe siegreich. Diese Erfahrung wird dich bereichern, und du wirst in deinem Sadhana gefestigter sein.
Nun muß in diesem Zusammenhang noch ein Punkt hervorgehoben werden. Es gibt einen ähnlichen Vorgang, der diesem spontanen Aufsteigen von inneren Vasanas ähnelt, es aber nicht ist. Es ist etwas anderes und muß also auch anders gehandhabt werden. Es ist das Hervorsprudeln von Vasanas, das von einem äußeren Umstand oder Impuls hervorgerufen wird. Eine solche Situation wird Versuchung oder Test genannt. Das ist gefährlich, denn hier steht man zwei Kräften gegenüber, die beide zu bekämpfen sind - die den Vasanas innewohnende Kraft und der aktive Mechanismus des äußeren Stimulus.
Verwende dafür eine Kombination mehrerer Methoden. Nimm die bereits besprochenen Methoden der Sublimierung und intensiviere sie durch Gebet, Fasten und ein wenig aggressive Selbstbeherrschung, durch das Verlassen des Ortes, wo die Versuchung stattfindet, das Fassen eines festen Vorsatzes, usw. Es wird dir gelingen, den Test zu bestehen.
Das individuelle Bewußtsein ist so beschaffen, daß es verschiedene Schichten geistiger und emotionaler Zustände durchgeht, reine, neutrale und auch unreine, wie  schmutziges Wasser, das durch ein Sandsieb geleert wurde, Holzkohle, oder ein antiseptisches Filtrier- und Reinigungsmittel. Zum Abfiltrieren des großen Übels, eignet sich der grobe Sand der vyavaharischen Erfahrungen und reicht vorzüglich. Aber für die feineren Unreinheiten (wie Gase im Wasser) bedarf es eines Mittels wie schwarzer Holzkohle. Das ist das Wiederauftauchen beunruhigender unspiritueller Gedanken und Tendenzen, die den Sadhak im Laufe seiner spirituellen Entwicklung erschüttern und beunruhigen können. Dieser Prozeß spielt sich beinahe vollkommen auf der geistigen und emotionalen Ebene ab. Ihr inneres Wirken ist sehr eigenartig und interessant. Sie finden sowohl im Wach- als auch im Traumzustand statt, und in letzterem in zwei leicht unterschiedlichen Schattierungen des Traumbewußtseins, die schwer voneinander zu unterscheiden sind.
Die einzelnen positiven und negativen und subjektiven und objektiven Methoden der Sublimierung, die bereits besprochen wurden, sind dann anzuwenden, wenn der Prozeß des sich Austobens im Wachzustand auftritt. Im Traumzustand kann der Sadhak sich nur auf sein Unterbewußtsein verlassen, das ihn schützt und den richtigen inneren Ausgleich herbeiführt. Zumeist führen der gedankliche Einfluß des Guru und auch die Gnade des Ishta Devata (tatsächlich sind beide dasselbe) den Sadhak sicher aus dem Prozeß im Traumzustand. Es verbleibt nur ein kleiner schwacher Eindruck im Geist am nächsten Morgen zurück, je nach dem entweder in Form einer bedrückten oder übertrieben freudigen Laune. Und manchmal geht dieser Prozeß im Traumzustand ganz sonderbar vor sich.
Der Mensch träumt, und die Vasanas toben sich aus, aber das Bewußtsein des Sadhaks ist sich nicht bewußt, daß er geträumt hat. Und so wacht er morgens mit dem sonderbaren Gefühl auf, ein anderer zu sein als der, der sich am Abend zuvor schlafen gelegt hat, und doch außerstande, es zu erklären oder es auf etwas zurückzuführen, an das er sich erinnern könnte. Das ist in etwa so wie der Prozeß, den man durchgeht, wenn man ohne es zu wissen, unreines Wasser getrunken hat, und später, um sich zu desinfizieren, Tierkohletabletten einnimmt. Die Tabletten gelangen in den Magen und führen dort die Reinigung unsichtbar und ohne dein Wissen durch. Du bist dir nicht bewußt, was in dir vorgeht, so wie im Falle der Vasanas, die sich in unbewußten Träumen austoben. So geht dieser Reinigungsprozeß vor sich, und der weise und aufmerksame Sadhak erhebt sich und schreitet voran, wie der kluge Steuermann, der geschickt sofort jede herankommende Welle ausnützt und weitersegelt, indem er sein kleines Boot gleichsam auf dem Meer des adhyatmischen Lebens über die Kämme der Wellen springen läßt.
Der Sieg winkt dem Wachsamen, und Erfolg ist dem ernsthaften Sadhak sicher, der in seinem Vertrauen zu den Füßen seines Gurus fest ist!

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