Swami Sivananda

Schwierigkeit beim Fortschritt im Sadhana

Das Wirken der Maya ist so extrem subtil und so schwer zu überwinden, und das menschliche Wesen ist so grundlegend asurisch und unerneuert, daß wirkliche spirituelle Entwicklung und Fortschritt im Sadhana in der Tat sehr schwer zu erlangen sind. Irgendeinen Erfolg im spirituellen Leben zu erlangen ist die schwierigste und eine sehr mühselige Aufgabe, und es ist wahrlich nichts anderes als die göttliche Gnade, die den Suchenden von der Dunkelheit ins Licht zu heben vermag. Das egoistische Selbst des Menschen ist so gewaltig in seiner Selbstbehauptung und so rebellisch, daß es sich weigert, von seinem untugendhaften Zustand hin zu einem Zustand von Tugend, zu Positivität und Heiligkeit verändert zu werden. Es ist ein großer Irrtum anzunehmen, der bloße Akt der Entsagung sei eine ausreichende Leistung im spirituellen Leben. Wenn die Entsagung dir das Gefühl gibt, daß du plötzlich etwas viel Besseres bist als alle anderen Menschen, und dir das Recht gibt, zu predigen und über andere zu bestimmen, dann geht der eigentliche Zweck der Entsagung verloren. Die eigentliche Grundlage des spirituellen Lebens wird durch diese egoistische Annahme zerstört. Das Ausrotten von Egoismus, in all seinen zahlreichen aggressiven Formen, enthält in sich das wahre Herz von Spiritualität und allen spirituellen Sadhanas.
Bereits zu Beginn des spirituellen Lebens muß klar erkannt werden, daß in wahrer Demut, im ernsthaften Wunsch, allmählich Stolz, Egoismus und Eifersucht auszurotten, in ernsthafter und unaufhörlicher Analyse zum Auffinden der eigenen Fehler und somit zur Besserung, die wahre Hoffnung auf Fortschritt liegt. Ohne diese Grundlage wird jedes Sadhana zu einer Täuschung und Verschwendung. Es macht den Suchenden überheblich, stolzer und egoistischer. Wenn dies geschieht, sind alle guten Ratschläge und Anweisungen wirkungslos. Höhere Einflüsse haben keine Wirkung mehr auf den Suchenden, denn willentlich und starrköpfig mißachtet er sie.
Ewige Wachsamkeit muß von jedem Suchenden geübt werden, wenn er es vermeiden möchte, in diesen gefährlichen Zustand zu fallen. Das spirituelle Leben ist keine leichte Sache. Im Yoga zu wachsen ist kein Scherz. Die Sadhaks müssen den Pfad ernsthaft gehen. Betrachte dich immer nur als Anfänger und trachte emsig danach, grundlegende Tugenden wie Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Geduld und Duldsamkeit zu erlangen. Mit Kühnheit, Männlichkeit und Selbstvertrauen verbinde Demut, Sanftheit im Sprechen, gutes Benehmen und Selbstverleugnung. Sei bereit, anderen zu dienen, ohne Rachsucht, wenn du durch Provokation und Beleidigung gereizt wirst. Beseitige jede Härte und Roheit aus deiner Natur. Höflichkeit und Gefälligkeit müssen zu einem Teil deines Wesens werden. Nur dann wird das verhärtete Herz weich, und gute Gefühle und spirituelle Empfindungen entstehen darin.
Konzentration, Meditation und Samadhi liegen für den Menschen, der sich nicht gereinigt und von üblen Charakterzügen befreit hat, noch in weiter Ferne. Sündigen und Böswilligkeit wurden so sehr zur Gewohnheit des Menschen, daß er nie das Gefühl hat, sie zu begehen, auch wenn er es Tag und Nacht tut. Und das größte Übel wird wohl dadurch hervorgerufen, daß selbst noch in diesem nicht entwickelten Zustand der Suchende von der Maya getäuscht wird und meint, er habe bereits einen beachtlichen Fortschritt in der Spiritualität erzielt. Er täuscht sich mit dem Gedanken, daß, soweit es ihn betrifft, er bereits recht fortgeschritten im Sadhana ist. Er meint, schon zur Nirlipta (verhaftungslosen) Einstellung gelangt zu sein, wo er alles Mögliche tun kann und doch davon unberührt bleibt. Dieser Selbstbetrug schiebt jedem Weiterkommen einen Riegel vor. Im Eindruck dieser gravierenden Täuschung erlaubt er sich ungezügeltes Verhalten und tobt, ist intolerant gegenüber Kritik, übelnehmerisch gegenüber der geringsten Opposition, äußerst unbedacht gegenüber Gefühlen anderer und völlig unzugänglich für Ratschläge und Verbesserungen. Jede Unterscheidungsfähigkeit, jedes vernünftige Urteil und jede Analyse verlassen ihn. Selbst die simple Höflichkeit und Kultur, die ein normaler Mensch besitzt, verabschieden sich von diesem Sucher bedingt durch seine Anmaßung wegen des spirituellen Fortschritts und des Anwachsens von Weisheit. Er ist geneigt, sogar ehrwürdige, ältere Menschen und spirituell höherentwickelte Seelen anzugreifen.
Oh Suchender! Hüte dich vor diesen Gefahren in deinem spirituellen Leben. Sei stets wachsam. Betrachte dich immer als Anfänger, der gerade mit dem Sadhana beginnt. Unterschätze niemals die Wichtigkeit von Yama, Niyama, ethischer Entwicklung und Sadhana Chatushtaya. Sie sind alles. Japa, Kirtan, Svadhyaya und Upasana müssen parallel zur ethischen Schulung und Charakterbildung ausgeführt werden. Ohne das wird das Sadhana so fruchtlos der Versuch, ein löchriges Gefäß mit Wasser zu füllen. Ohne den eifrigen und ernsthaften Wunsch, dem Guru zu gehorchen und sich zu verbessern, ohne Dienen, Demut, Aufrichtigkeit, Einfachheit und Eifer zu lernen und sich zu verbessern, ist das Sadhana ebenso nutzlos, wie ein Boot zu rudern, das fest im Flußbett verankert ist, oder Samen auf einen Felsen zu säen.
Spiritualität bedeutet, in die Form des göttlichen Ideals hineinzuwachsen. Es ist die Transformation der eigenen Natur vom Menschlichen zum Göttlichen. Man kann nur dann auf Vollendung hoffen, wenn man diese Transformation durchführt. Nur die Reinigung und Veränderung des Herzens macht Dharana und Dhyana möglich. Um in Sattva zu wachsen, muß die asurische Seite des Wesens völlig vernichtet werden. Denke niemals nur für einen Moment, daß du dem Ziel nahe bist, solange du nicht mit Ernsthaftigkeit und Fleiß übst, üble Eigenschaften beseitigst und in einem reinen, sattvigen und ethischen Charakter fest wirst.
Denke genau über diesen Punkt nach. Reflektiere ständig darüber. Meditiere darüber. Erkenne, was wahre Spiritualität ist. Erkenne, wie wichtig es ist, ein ethisch und moralisch gewandelter Mensch zu werden, bevor du behaupten kannst, ein Sadhak zu sein. Vermeide sorgsam die Gefahren eines Selbstbetruges durch ständige Wachsamkeit und Analyse. Sei regelmäßig in deinem Sadhana und bete um Seine Gnade. Glaube nicht, daß du die Höhen der Spiritualität erklommen hast. Warte geduldig auf das Ergebnis. Wenn dein Wesen verändert, gereinigt und vorbereitet ist, wird im Firmament deines reinen Herzens die Gnade von selbst herabströmen, Erleuchtung wird von selbst aufblitzen und Wonne und Ananda werden spontan einströmen und dich erfüllen, wenn du dich von aller Härte, allem Egoismus, Stolz und jeder Leidenschaft geleert hast. Vollkommenheit und Unsterblichkeit sind dein. Wo Freundlichkeit, Demut und Reinheit herrschen, entspringt Spiritualität, Heiligkeit erstrahlt, Göttlichkeit kommt hernieder, und Vollendung manifestiert sich von selbst.

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