Yoga Artikel

Swami Sivananda

Der Sinn von Sadhana 

Da der Mensch mit seiner instinktiven Erfahrung nicht zufrieden ist, bedient er sich seines Intellekts, um seinen Erfahrungsbereich zu erweitern. Überlegung unterstützt die Unterscheidung, und die Unterscheidung bestimmt die Grenze und Tiefe der Erfahrung. Der ruhelose Geist des Menschen ist stets auf der Suche nach der unausgesetzten Erfahrung dessen, was ihm angenehm erscheint.
Wahres Glück oder Lebensfreude kann nicht im begrenzten Bereich instinktiver Erfüllungen gefunden werden. Eine Erfahrung, die dauerhaft sein soll, kann nicht im Objekt gefunden werden, das nicht dauerhaft ist. Nur aus dem Unendlichen kann das unendliche Ergebnis erwachsen. Diese unendliche Essenz ist das innere Selbst des Menschen. Es ist das gemeinsame unteilbare Bewußtsein in der gesamten Schöpfung. Die Verwirklichung dieses Bewußtseins ist das Ziel des Lebens.
Eine vollständige Umwandlung der inneren Neigungen, Ideale, Gedanken, Wertmaßstäbe und Handlungen des Individuums, die Transformation der Natur des Menschen vom instinktiven Niveau der Sinnesbedürfnisse zum menschlichen Niveau von Verstand und Unterscheidung, und vom menschlichen Niveau zum intuitiven Niveau der inneren spirituellen Erfahrung und Wahrnehmung, das sind die Mittel zur Selbstverwirklichung.
Sadhana, spirituelle Praktiken wie Konzentration, Meditation, Entwicklung der Grundtugenden wie Wahrhaftigkeit, selbstlose Liebe, Reinheit, Heiligkeit, Selbstdisziplin, usw. parallel zur automatischen Beseitigung ihrer negativen Gegenstücke sind die Hauptpunkte in der Bemühung des Suchenden zur spirituellen Entwicklung.
Diese verschiedenen Praktiken werden von okkulten Erfahrungen begleitet, die stark von der psychischen Sensibilität des einzelnen abhängig sind. Die okkulten Erfahrungen sind jedoch kein Kriterium für das Sadhana. Es ist wichtiger, daß der Prozeß der Entfaltung der göttlichen Natur des Menschen deutlich in den intellektuellen, emotionalen und physischen Aspekten des Menschen, wie auch in den sozialen Bereichen zum Ausdruck kommt.
Die folgende Zusammenfassung des spirituellen Tagebuches eines Yogaschülers aus Deutschland, Hans Franke, ist interessant.
Hans Franke steht täglich um 4.00 auf und übt fünfzehn Minuten lang Konzentration auf seinen Ishta Devata, macht 200 Japamalas seines Ishta Mantras, liest eine halbe Stunde lang religiöse Literatur, macht 15 Minuten Asanas und 120 Runden Pranayama, hält eine Stunde Mauna und versucht, Geduld, Geisteskraft, Konzentration und andere Tugenden zu entwickeln und Hast, Besorgtheit, Schwäche und andere Mängel zu beseitigen.
Noch bemerkenswerter ist die Erfahrung bestimmter psychischer Kräfte, die Hans Franke in kurzer Zeit zu erreichen vermochte. Er schreibt:
„Abends, als ich betete, daß Gott mir Seine Schau zuteil werden lassen möge, sah ich ein helles Licht, strahlend wie die Sonne, das zu meiner Linken auftauchte und einige Zeit vor mir verweilte.
Elf Tage später, während meiner Abendmeditation, erscheint das Licht wieder. Es ist sehr hell. Ich habe eine sonderbare Empfindung in den Beinen. Das Licht wird heller und heller. Ich stelle fest, daß es zweieinhalb Minuten dauert.
Am Tag nach dieser Erfahrung erscheint vor mir ein blauer Lichtkreis, gerade als ich mit meiner Praxis beginnen will, der Raum wird sehr hell.
Vier Tage später, als ich über Geduld, Freude, und Mut meditierte, fühlte ich, wie mich eine große Stille einhüllte. Als mein Geist zu der Frage abglitt, was ich nun tun sollte, erschien ein offenes Buch vor mir, bevor ich aber seinen Inhalt lesen konnte, erschienen zwei weitere Bücher, ein grünes und ein gelbes, und verdeckten das andere. Ich wollte den Namen des ersten Buches sehen, und als sich das Buch von selbst umdrehte, sah ich, daß auf der Rückseite des Einbandes nichts geschrieben stand. Ich hatte das Gefühl, ich sollte es später erfahren.“
Es brauchen hier keine langen Interpretationen dieser Erfahrungen gegeben zu werden. Sie zeigen die fortschreitende Tendenz des Suchenden, und es genügt, wenn er sich fleißiger und ohne Unterbrechung mit der Praxis seines Sadhana beschäftigt, und die Aufmerksamkeit nicht vom Ziel des Lebens, der Selbstverwirklichung, ab- und auf diese geringfügigen okkulten Erfahrungen hinlenkt.
Es ist hier nicht fehl am Platz, die Hauptpunkte der Antwort zu erläutern, die Hans Franke auf seine zusätzliche Frage bezüglich seines Sadhanas gegeben wurde. Sie betreffen hauptsächlich die Meditationsmethode für die große Gruppe der Suchenden, für die die Schutzgottheit (Ishta Devata) das höchste Bewußtsein, die absolute Wirklichkeit, den allmächtigen Gott repräsentiert. Ich gab dem Schüler die folgende Anweisung:
„Die Konzentration auf den Ishta Devata, die du täglich 15 Minuten lang praktizierst hast, kann in folgender Weise abgeändert und die Zeitspanne ausgedehnt werden.
Stelle ein Bild des Ishta Devata vor dich hin. Sitze in einer bequemen Stellung. Halte Wirbelsäule und Kopf gerade. Schaue mit festem Blick auf das Bild, dann schließe die Augen und versuche, dir das Bild im Punkt zwischen den Augenbrauen vorzustellen. Wenn die geistige Vorstellung des Bildes schwächer wird, öffne die Augen und konzentriere dich wie zuvor kurze Zeit auf das Bild; schließe wieder die Augen und wiederhole den Vorgang.
Du kannst über Tugenden wie Freude, Heiligkeit, usw. meditieren, so wie du es getan hast, unabhängig von ihrer Verbindung mit dem Ishta Devata. Es ist aber auch notwendig, diese Eigenschaften in der Meditation mit der Schutzgottheit in Verbindung zu bringen, um ein höheres Maß an Konzentration zu bewirken. Zum selben Zweck wird auch die geistige Wiederholung des Ishta-Mantras mit der Meditation kombiniert.
Nur auf die Hauptmerkmale einer bestimmten Form zu meditieren hat keine heilsame Wirkung auf den Geist, die physischen Merkmale alleine können nicht die volle Spanne der Aufmerksamkeit abdecken. Meditation muß also diese Assoziationen einschließen.
Das sine qua non jeder spirituellen Bemühung ist es, eine grundlegende Veränderung der Natur des Individuums, seiner Ideale, Bedürfnisse, Gedanken und Taten zu bewirken, parallel zum Prozeß der Selbstverwirklichung.
Der Sinn von Sadhana ist die Entfaltung der göttlichen Natur im Menschen durch die Entwicklung und Stärkung der göttlichen Neigungen, die jeder Mensch in sich trägt. Diese göttlichen Neigungen stehen nicht im Widerspruch zu menschlichen Neigungen, sondern sind der Höhepunkt all dessen, was das Beste an den menschlichen Neigungen ist, die dem Menschen helfen, über die menschlichen Neigungen hinauszugehen.

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