Vers 46

Enthaayum Enakkarul Thanthaiyum Nee
Sinthaakula Maanavai Theerthenai Aal
Kandhaa Kadir Velavane Umaiyaal
Maindhaa Kumaraa Marainaayakane


Du bist sowohl meine Mutter als auch mein Vater, der mir Gnade schenkt,
Ich bete, akzeptiere mich und nimm all meine mentalen Nöte weg;
O Skanda! O Herr mit dem leuchtenden Vel! O Liebling von Uma!
O Kumara! O glorreicher Herr der unsterblichen Vedas!


„O Skanda! O Herr mit dem selbstleuchtenden  Vel! O Sohn von Uma Devi!
O Kumara! O Herr der Vedas! Meine Mutter und auch mein Vater, die mich
segnen, bist Du. Zerstöre all meine mentalen Nöte und „nimm mich an“.“

Erklärung:

Der heilige Arunagiri bringt in diesem Vers ein einfaches, direktes Gebet dar. Das Gebet ist einfach, aber es enthüllt die Nähe des Heiligen zu Gott. Solche Verse sind das Ergebnis der Einheitserfahrung einer selbstverwirklichten Seele mit Gott. Arunagiri fühlt sich Gott so nah, dass er seine rechtmäßige Verwandtschaft mit ihm beansprucht. Darum sagt er: „O Gott, Du bist meine Mutter und auch mein Vater und gewährst mir Gnade.“

In diesem Vers enthüllt Arunagiri die Ursache unserer mentalen Nöte und auch den Weg, um sie auszulöschen und von Gott angenommen zu werden. Gott ist uns Mutter und Vater; und er ist immer bereit, uns zu segnen. Unsere wirkliche Verwandtschaft ist die mit Gott, dem Atman (höheres Selbst) im Inneren. Gott ist die universale Wirklichkeit hinter allen Einzelerscheinungen (Jivas). Er winkt uns immer von innen zu. Aber die Jivas ignorieren Gott und rennen den weltlichen Objekten hinterher, weil sie denken, dass diese ihnen Glück geben können. In diesem irrtümlichen Versuch leiden die Jivas unendlich, gequält von Wünschen, Zorn, Neid etc. Der einzige Weg, aus dieser misslichen Lage herauszukommen, ist, zurück zu Gott zu gehen, der irrigen Einstellung, den Objekten gegenüber zu entsagen.

Das geschieht, indem man die Mutter- und Vaterschaft Gottes erkennt – die universale Natur Gottes, unseres höchsten Selbst. Die universale Wirklichkeit hinter allen Einzelheiten nicht zu erkennen, ist der grundlegende Fehler des Jivas und die Ursache all seiner mentalen Nöte. Wenn unsere leiblichen Eltern unsere geistigen psychischen Leiden nicht beseitigen können (weil sie ihnen selbst unterliegen), warum wendet sich Arunagiri dann an Gott als Vater und Mutter und betet um Befreiung vom Leiden? Hier liegt der große Unterschied zwischen unseren weltlichen und den Göttlichen Eltern. Wenn Arunagiri Gott als Vater und Mutter anspricht, weist er auf die universale Vater- und Mutterschaft Gottes hin. Gott ist nicht mein oder dein sondern jedermanns Vater und Mutter.

Er ist die universalen Eltern. Die ganze Schöpfung ist sein Kind. Aber nicht getrennt wie im Fall der weltlichen Eltern sondern auf eine besondere Weise. Die Schöpfung ist der kosmische Körper Gottes, wie die Purusha-Sukta sagt, von dem alles ein Glied bildet. Die Erkenntnis der Tatsache, dass Gott das universale Wesen ist und alles ein Teil von ihm ist, löst die falsche Annahme auf, dass die Dinge äußerlich und in sich selbst real sind, dass wir eine künstliche, objektive Beziehung zu ihnen aufbauen müssen. Dann erkennen wir, dass alles organisch mit einander verbunden ist. Eine Einstimmung auf Gott ist gleichzeitig eine Einstimmung auf seine unermessliche Schöpfung. Das hilft dem Jiva, sein nach außen gerichtetes Bewusstsein zu überwinden, das für all seine mentalen Leiden verantwortlich ist. Dann ruht die Seele in Gott und genießt Wonne.

Um sich vom psychisch-geistigen Leiden zu befreien, muss man sich des außen orientierten Bewusstseins enthalten, indem man das Jiva-Bewusstsein in Gott oder das universale Bewusstsein zurückzieht. Das meint Arunagiri mit „angenommen werden durch Gott“. Das geschieht, wenn wir Gott als Mutter und Vater erkennen. Darum erklärt Arunagiri als erstes seine wahre Verwandtschaft mit Gott und bringt dann sein Gebet dar. Das Gebet muss notwendigerweise erfüllt werden, weil die notwendige Bedingung zuerst erfüllt ist. „O Gott, ich habe meine ewige Verwandtschaft mit Dir erkannt. Darum entferne meine (irrtümlichen Beziehungen zu Dingen, die die Ursache sind all meiner) mentalen Nöte, indem Du mich (Dein Kind) in Deinem kosmischen Schoß (Satchidananda) annimmst“, ist Arunagiris Gebet. Die Erfüllung hallt schon im Gebet selbst wieder.

Dieser Vers scheint noch weitreichendere Implikationen zu haben. „Gott ist sowohl meine Mutter als auch mein Vater“, sagt Arunagiri. Gott ist nicht nur die Mutter, Er ist auch der Vater! Wie kann eine Person sowohl Vater als auch Mutter sein? Dies scheint seltsam zu sein; aber das ist das göttliche Geheimnis und der Schlüssel für unsere Befreiung. Im weltlichen Sinne sind Vater und Mutter zwei verschiedene Personen; der Vater ist nicht die Mutter und umgekehrt. Offensichtlich ist das Kind ein Drittes, d.h. verschieden von den Eltern und anders als sie! Aber in der spirituellen Sphäre sind die Dinge ganz anders. Diese neue Sichtweise erleuchteter Seelen gibt uns Arunagiri. Für sie ist Gott Vater und Mutter. Wie? Als das absolute Para Brahma (höchste Brahman, höchstes Absolutes) ist Gott der Vater.

Als Maya, die unergründliche und untrennbare Kraft Brahmans, ist er die Mutter. Als Er selbst ist er Vater und Mutter, das Kind, d.h. die Jivas und die Welt sind nichts anderes als Er allein. Die Jivas und diese Schöpfung, alles ist im Licht tiefer Analyse letztlich nichts als Brahman selbst. So enthüllt Arunagiri das nonduale Konzept der höchsten Wirklichkeit in der Aussage, dass Gott sowohl Vater als auch Mutter ist. In der Gita sagt Gott: „Mein Schoß ist das große Brahma, hierein lege ich den Keim, dies, o Arjuna, ist die Geburt aller Wesen. Welche Formen auch immer entstehen, o Arjuna, in welchem Schoß auch immer, das große Brahma ist ihr Schoß und ich bin der samenspendende Vater.“ (XIV-3,4).

Das große Brahma (Mahat-Brahma) auf das sich Gott dabei bezieht, ist die Mula Prakriti, die ursprüngliche Natur, die auch das Avyakta, das Unmanifeste genannt wird. Die Sankhyas nennen es Prakriti (Urnatur), die Vedantins nennen es Maya (Illusion). Aber es gibt eine Besonderheit mit dieser Maya. Während Prakriti als eine zweite, ewige Wirklichkeit, verschieden vom Purusha definiert ist, ist Maya anders. Maya ist ein Mysterium. „Maya“ ist ein Begriff, der verwendet wird, um das Rätsel des Universums zu lösen, in dem sich der Jiva befindet, so wie wir ein „x“ einführen, um algebraische Gleichungen zu lösen.

Es gibt kein „warum“ und „was“ für Maya genau wie beim „x“. Wir brauchen es, um unsere Schwierigkeit, das Problem zu lösen. Wenn die Gleichung gelöst ist, was das Ziel ist, dann verschwindet das „x“, da es nur für den Zweck der Lösung der Gleichung angenommen wurde. Genauso ist es bei Maya. Man nimmt Zuflucht dazu, nur um unsere gegenwärtige missliche Lage zu erklären – die Unfähigkeit des Jivas, die Beziehung zwischen dem Absoluten und dem Relativen zu verstehen; zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren; zwischen der Wirklichkeit und der Erscheinung; zwischen dem, was ist und dem, was zu sein scheint; kurz zwischen Gott, der Welt und sich selbst. Wenn die Wirklichkeit in der Unmittelbarkeit der eigenen Erfahrung erfahren wird, ist das Problem dieser geheimnisvollen Beziehung gelöst und damit verschwindet Maya.

Das nonduale Brahman alleine bleibt –Gott, der sowohl Vater als auch Mutter ist. Daher ist ein wahres Verständnis der Natur Gottes und unserer Beziehung zu ihm, d.h. der Maya, das einzige Mittel für Freiheit vom Leiden. Ansonsten bleiben wir im Unglück, wie wir es jetzt sind. Wenn ein Schüler nicht das Prinzip und die Technik kennt, wie man das „x“ in einer Gleichung verwendet, wird er die Sache nur komplizierter machen und sich in ein großes Problem verstricken, statt eine Lösung für die Gleichung zu finden. Man sieht öfter Schüler, die endlos an einer Gleichung arbeiten und dabei viel Papier und Zeit verschwenden, obwohl die Gleichung in ein paar Minuten gelöst werden könnte.

Während also „x“ dabei helfen kann, das Problem schnell, leicht und korrekt zu lösen, wenn es richtig verwendet wird, kann es einen auch schwindlig und verwirrt machen, wenn man die Technik nicht richtig von einem Lehrer gelernt und verstanden hat und weise anwendet. So ist es auch mit Maya. Die Glücklichen, die mit dem nötigen subtilen Verständnis und der Gnade des spirituellen Meisters ausgestattet sind, verstehen das Geheimnis hinter Maya, überwinden sie und verwirklichen Gott. Andere finden sich in einem Schlamassel wieder, stellen Hunderte von Fragen darüber, erheben Einwände und erkennen nicht, dass sie sich dadurch nur noch mehr darin verwickeln.

Es ist ausschließlich Gottes Gnade, die einen aus dieser unglücklichen Situation befreien kann. Darum sagt Arunagiri: „Du bist auch mein Gnade schenkender Vater.“ Krishna sagt auch in der Gita: „Wahrlich, diese meine göttliche Maya, die aus den (drei) Gunas (der Natur) besteht, ist schwierig zu überwinden; jene die nur bei Mir Zuflucht nehmen, überqueren diese Maya (durch meine Gnade)“ (VII-14). Es ist Gnade (Arul), die Dinge in ihrer wahren Perspektive enthüllt. Wenn diese Gnade nicht da ist, sind die Individuen von Schmerz und Leid verschiedenster Art betroffen, weil sie dieses göttliche Geheimnis der Maya nicht verstehen, also ihre wahre Beziehung zu Gott und der Welt.

Sie sehen sich als von Gott getrennt an und die Welt als eine wirkliche Entität außerhalb Gottes, mit der eine objektive Beziehung hergestellt werden muss. Diese falsche Ansicht ist die Ursache aller Leiden. Arunagiri bittet um die Auflösung dieser falschen Vorstellung und darum, wieder in Gott aufzugehen. Dass Arunagiri Gott als Mutter und als Vater anspricht, symbolisiert, dass Gott nondual ist, was auch heißt, dass Jiva und Kosmos nicht verschieden von Gott sind. Dies befreit den Jiva vom nach Außen gerichteten Bewusstsein, wodurch er von allen geistig-psychischen Beeinträchtigungen frei wird. Das ermöglicht dem Jiva, in Gott zu ruhen, was gleichbedeutend damit ist, von ihm angenommen zu werden oder in Brahman aufzugehen.

Mit all dem scheint Arunagiri sagen zu wollen, dass Brahman allein ohne ein Zweites existiert, dass das Leid des Jivas nicht enden kann, solange Dualität erfahren wird und dass der Jiva, um von Leid befreit zu werden, seine wahre Beziehung zum nondualen Brahman erkennen, d.h. eins mit Brahman werden bzw. sein muss. Die Natur Gottes und des Atman, mit dem wir unsere Verwandtschaft wieder her stellen oder erkennen müssen, wird in diesem Vers symbolisch erklärt. Er wird als Lord Skanda angesprochen – der Schrecken der Feinde: die Feinde von Lust, Gier, Wut etc., die die Ursache unseres mentalen Leidens sind. Und Er ist der Kadir Velavan, der Gott mit dem aus sich selbst leuchtenden Vel. Das bezieht sich auf die sich selbst offenbarende Natur des Atman. Der Atman ist eine Masse von Bewusstsein oder Licht, das die Dunkelheit von Avidya, der Unwissen heit, zerstört.

Er ist auch der Sohn von Uma Devi – das Tejas, Licht, das aus dem dritten Auge Shivas hervorging und schließlich die Gestalt von Lord Skanda annahm, den Uma Devi nahm und stillte. Er ist auch Kumara, der die Welttäuschung auflöst. Und schließlich ist er der Herr der Vedas, der die Weisheit enthüllt und die Seele „annimmt“, die so von Avidya gereinigt wurde. So ruft Arunagiri in diesem einfachen Vers, der einen zu Tränen rührt, wenn man ihn nur ein einziges Mal von ganzem Herzen rezitiert, Gott im Geist großer Vertrautheit an. Er fordert fast von Gott die geistig-psychischen Leiden zu entfernen und ihn (dann) zu „akzeptieren“, so wie ein Kind dies von seinen Eltern fordern würde. Deshalb erklärt er zuerst seine Verwandtschaft mit Gott und sagt: „Du bist meine Mutter und auch mein Vater.“ Er sagt nicht: „Bist Du nicht meine Mutter und mein Vater?“

Er behauptet kategorisch seine Verwandtschaft und macht so den Weg frei, um seinen Anspruch, ihn zu anzunehmen, einzufordern. Die Eltern können das Kind nicht zurück weisen. Das Kind besteht auf seinen Bedürfnissen und bekommt sie von seinen Eltern erfüllt. Was der heilige Arunagiri in diesem Vers von Gott sagt, stimmt mit dem überein, was Gott in der Gita über sich selbst sagt: „Ich bin der Vater der Welt, die Mutter, der Verleiher der Früchte der Handlungen und der Großvater, das (Eine), was zu erkennen ist, der Reiniger, die eine heilige Silbe (OM) und auch der Rik-Sama und Yajur-Veda“ (IX-17).

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Gott ist unsere gütige Mutter und unser Vater, unser wahres Selbst und nimmt all unsere Leiden weg. Der Heilige rät in diesem Vers, sich ihm in einer Haltung elterlicher Verwandtschaft zu nähern, als dem Universalen Selbst, nicht als einem Wesen außerhalb des Kosmos oder von einer anderen Welt.