Vers 45

Karavaagiya Kalviyulaar Kadai Senru
Iravaavagai Meipporul Eeguvaiyo
Kuravaa Kumaraa Kulisaayudha Kun-
Jaravaa Sivayoga Dhayaaparane


Den Menschen mich nicht nähernd, die ihre Gelehrsamkeit verschließen,
Und nicht bei ihnen zu betteln, wirst Du mir ewige Weisheit gewähren?
O Herr mit dem Vajrayudha! O Kumara! O spiritueller Lehrer!
O Herr von Deivayanai! O Gewährer des Yoga, o du vollkommene Gnade!


„O himmlischer Meister! O Herr Kumara! O Herr, der du den Vajra als Waffe
trägst! O Gemahl von Deivayanai! O Verkörperung von Gnade, der den Shiva-
Yoga gewährt! Wirst Du (gnädig) mir die höchste Weisheit gewähren, so dass
ich nicht an den Türen derjenigen betteln muss, die ihre Gelehrsamkeit verbergen? (Bitte gewähre mir dies.)“

Erklärung:

Arunagiri bittet Gott, ihm göttliches Wissen zu gewähren, die Essenz allen Lernens, so dass er nicht zu Pandits und Gelehrten, die ihr Wissen verstecken, gehen und betteln muss. Es ist nicht so, dass Arunagiri gegen das Lernen wäre, aber er möchte sich nicht denen nähern müssen, die nicht gewillt sind, das zu teilen, was sie besitzen. Lernen ist notwendig. Es ist auch ein Geschenk Gottes. Unser Lernen (von Büchern und Lehrern) und unser Wissen (das von innen heraus dämmert) stammen beide von Gott (Vers 17). Daher ist Lernen als solches nicht schlecht, aber Arunagiri missbilligt die Art von Lernen, die in den Händen nichtspiritueller Pedanten seinen Zweck aus den Augen verliert. Das große Gesetz lautet: „Gib, und es wird dir gegeben werden, zehnfach, hundertfach, vielfach.“

Besonders im Falle von Wissen verliert man nichts beim Geben, denn Wissen ist etwas, was durch Teilen nicht kleiner werden kann. Andererseits nimmt es zu, je mehr es weitergegeben wird, wie Wasser aus einer Quelle im Flussbett immer mehr wird, je mehr aus der Quelle kommt. Materieller Wohlstand, Nahrung usw. erschöpfen sich, wenn man sie anderen gibt und sie können den Empfänger nur für eine begrenzte Zeit befriedigen. Aber die Gabe von Wissen, Jnana-Dana, ist dauerhaft. Weder verliert der Gebende etwas durch das Geben noch verliert der Empfänger es jemals. Beiden kommt es für immer zugute. Jnana-Dana ist deshalb großartiger als alle andere Wohltätigkeit. Warum sollte man also verstecken, was man weiß? Und dennoch geben gelehrte Menschen im Allgemeinen ihr Wissen nicht einfach an andere weiter. Sie verbergen es und wissen nicht, dass auch Gott sich vor ihnen verbirgt. Warum verstecken Menschen ihr Wissen? Sie haben Angst davor, dass ihr „Geschäft“ darunter leidet, wenn sie es anderen weitergeben. Wer sein Wissen als Mittel benutzt, um Wohlstand, Position, Ruhm, Macht etc. zu erwerben, will es anderen nicht weitergeben, damit andere ihnen nicht Konkurrenz machen.

Aber der Zweck des Lernens ist ein anderer. Er ist, wie Tiruvalluvar sagt, Gott zu verehren (zu erlangen). Wer sein Wissen auf seinen richtigen Zweck hin lenkt, nämlich Gott zu erreichen, zögert niemals, es mit ernsthaften Suchern zu teilen. Solch edle Seelen sind Gurus, die von Natur aus freundlich und mitfühlend sind und die man um Wissen bitten sollte. Arunagiri betet zu Gott um höchste Weisheit, denn sie kann nur von Gott allein gewährt werden. Gelehrte können Bücherwissen geben, d.h. reine Information, aber keine Weisheit, weil diese ihnen selbst fehlt. Aber letztlich muss man zu jemandem gehen, sowohl für Wissen wie auch für Weisheit. Warum sollte man dann zu Menschen gehen, warum nicht gleich zu Gott selbst beten?

Und wie schön der Heilige die Natur gelehrter Menschen der Natur Gottes gegenüberstellt. Sie verstecken, was sie haben, obwohl das, was sie besitzen, nicht das höchste Wissen ist, sondern nur Buchgelehrsamkeit. Auf der anderen Seite ist Gott der Vermittler von Shiva-Yoga – sagt Arunagiri. Shiva-Yoga oder Siva-Jnana ist der höchste Zustand des nondualen Bewusstseins - und Gott kann ihn geben. Er ist auch eine Verkörperung von Gnade und Barmherzigkeit. Er ist immer bereit, jenen zu geben, die wirklich wollen, wenn sie sich ihm auf die richtige Weise nähern. Man mag sich fragen, wie man sich Gott nähern soll, um Weisheit zu bekommen? Der Guru ist Gott, sagt Arunagiri. Er spricht Gott als Guru an, weil es Gott ist, der zu gegebener Zeit in menschlicher Gestalt kommt, als Antwort auf die eigene Ernsthaftigkeit und Sehnsucht. Gott selbst ist der wahre Guru aller. Daher gibt es keinen Unterschied zwischen Gott und Guru. Dass Gott selbst unser Guru ist, wissen nur jene, denen es durch Seine Gnade offenbart wird, sagte Arunagiri in Vers 13. Wie man nun einen Guru erkennt, ist das nächste Problem des Suchers.

Dazu sagt Swami Sivananda: „Hier sind die Charakteristika eines wahren Gurus. Wenn Du diese Qualifikationen bei einem Menschen findest, nimm ihn sofort als deinen Guru an. Ein echter Guru ist ein Brahma-Nishtha (in Brahman gegründet) und ein Brahma- Srotriya (der in den Schriften wohl bewandert ist). Er hat vollständiges Wissen über das Selbst und die Veden. Er kann die Zweifel des Strebenden klären. Er sieht alles gleichmütig und hat einen ausgeglichenen Geist. Er ist frei von Raga-Dvesha, Harsha, Soka, Egoismus, Zorn, Lust, Neid, Moha, Stolz usw. Er ist ein Ozean des Mitgefühls. In seiner bloßen Gegenwart fühlt man Shanti, Frieden und der Geist wird erhoben. In seiner bloßen Gegenwart werden alle Zweifel des Strebenden geklärt. Er erwartet nichts von niemandem. Er hat einen beispielhaften Charakter. Er ist voller Freude und Wonne. Er sucht nach ernsthaften Aspiranten.

Das bloße Studium von Büchern macht einen noch nicht zum Guru. Nur einer, der die Veden studiert hat und das unmittelbare Wissen des Atman (höchstes Selbst) durch Anubhava (Gottesverwirklichung) hat, kann als Guru anerkannt werden. Ein Jivanmukta, ein befreiter Weiser, ist ein wirklicher Guru und spiritueller Lehrer. Er ist der Sadguru (Weisheitslehrer). Er ist eins mit Brahman, dem höchsten Selbst. Er ist ein Kenner Brahmans.“ Es gibt einen großen Unterschied, ob man bei einem spirituellen Meister (Guru) studiert oder bei Gelehrten. Da der Guru ein Brahma-Srotriya und jenseits seiner Kenntnis der Schriften ein Brahma-Nishtha ist, haben seine Lehren den magischen Hauch persönlicher Erfahrung, da er den Pfad schon gegangen ist, während die Unterweisung von Gelehrten trocken ist.

Im Lauf des Sadhana entstehen auch verschiedenste Zweifel und Schwierigkeiten, die an Ort und Stelle geklärt werden müssen. Dies ist nur einem Guru möglich, weil er sie persönlich durchlebt hat. Daher ist ein Guru für einen Wahrheitssucher sehr wichtig. Da der Guru Gott selbst ist, scheint sich dieser Vers auf den Unterschied zwischen wirklichen Gurus, die freundlich und mitfühlend sind und trockenen Pandits, die ihr Wissen für sich behalten und geizig sind, zu beziehen. Kumara bedeutet der Herr der ewigen Jugend. Es bedeutet auch „derjenige, der Böses zerstört“. Der Guru ist der wahre Kumara – seine Schönheit besteht darin, dass er göttliche Weisheit besitzt; und er hat die Macht, alles Übel (Avidya etc.) des Suchers zu zerstören.

Kulisa ist eine der Waffen in den zwölf Händen von Lord Skanda. Damit hat Er den Asura Simhamukha getötet, den jüngeren Bruder von Surapadma. Weil Er die Kulisa-Waffe besitzt, wird er auch Kulisaayudha genannt. Kulisa ist auch die Waffe von Indra. Kunjara heißt Elefant. Deivayanai, die Tochter Indras, wurde von Indras himmlischem Elefanten Airavata aufgezogen. Darum wird sie Kunjari genannt. Weil Deivayanai die Gemahlin von Lord Skanda ist, hat Er auch den Beinamen Kunjarava. Lord Skanda hat auch einen Elefanten namens Pinimukha als sein Vahana (Gefähr) und wird daher auch Kunjarava genannt. Dies ist der einzige Vers im gesamten Kandar Anubhuti, wo auf Deivayanai Bezug genommen wird.

Arunagiri hatte wohl das Gefühl, dass er der Vollständigkeit halber auch Deivayanai erwähnen müsse, da alles andere von Lord Skanda und Seiner göttlichen Familie in diesem Werk erwähnt wird, nämlich Shiva, Uma Devi, Ganesha, Valli, der Vel, der Pfau und der Hahn. Kulisa, auch Vajra genannt, ist ebenfalls die Waffe von Indra. Darum wird auch Indra Kulisaayudha genannt. „Kulisaayudha Kunjarava“ kann darum zusammengenommen als „Lord Skanda, der Indras Tochter Kunjari (oder Deivayanai) zu seiner Gemahlin hat“ verstanden werden. Arunagiris Gebet in diesem Vers bedeutet nicht, dass ihm Weisheit gefehlt hätte, denn schließlich hat er das Kandar Anubhuti nach seiner direkten Gottesverwirklichung geschrieben. Der Inhalt des Verses muss deshalb als sein wohlmeinender Rat an Sucher interpretiert werden, sich mit der Bitte um göttliches Wissen an einen Guru zu wenden.

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Obwohl für einen Sadhaka das Erreichen jenes „Guten“, das Gott selbst ist, das höchste Ziel ist (Vers 2), hat Gott eine bestimmte Aufgabe für ihn zu erfüllen. Wen Gott erwählt und wem Er Seine Gnade erweißt, von dem und durch ihn wird Gott natürlicherweise auch sein Werk verrichten lassen. So hat der Jivanmukta, dem Gott diese Erfahrung gegeben hat, die Aufgabe der spirituellen Belehrung (Verse 42 bis 44). Aus diesem Grunde gelten Heilige als Stellvertreter Gottes, als Gott auf Erden. Die Verse ab Vers 45 sind deshalb von besonderer Art. Sie sind einmalig und höchst lehrreich. Sie enthüllen die erhabene spirituelle Stimmung und Haltung eines Jivanmukta, der immer im Gottesbewusstsein ist, bei dem suchende Seelen Zuflucht nehmen, um Führung zu bekommen.

Sie unterscheiden sich natürlich, aber geben den Suchenden fundierte Ratschläge. Darum findet sich in jedem der folgenden Verse etwas ganz Besonderes, obwohl sie nicht logisch aufeinander aufbauen. Der Jivanmukta, der Gottes Natur der unbegrenzten Gnade verwirklicht hat, hat Mitgefühl mit dem Los jener unwissenden Menschen, die die Quelle der Weisheit (d.h. Gott) nicht erkennen und sie nicht bei Ihm suchen, sondern sich an Gelehrte (ohne echte Weisheit) halten, die ihrer Natur nach geizig sind. Hier ist deshalb seine Ermahnung an die Leute, sich an einen Guru zu wenden, den sichtbaren Gott, um spirituelle Weisheit zu bekommen.