Vers 29

Illee Enum Maayaiyil Ittanai Nee
Polleen Ariyaamai Porutthilaiye
Malleepuri Panniru Vaaguvil Yen
Sollee Punaiyum Sudar Velavane


In diese nichtexistierende Maya hast Du mich verwickelt;
Leider, die Unwissenheit dieses Taugenichts hast Du nicht verziehen!
Auf Deinen zwölf mächtigen Schultern, die tapfer zum Ringen sind,
Trägst Du meine Lieder-Girlande, O Herr des strahlenden Vels!


„O Herr mit dem strahlenden  Vel, der Du auf Deinen zwölf mächtigen und
tapferen Schultern, die bereit zum Ringkampf sind, meine Girlande aus
Liedern trägst! Du hast mich in diese Maya verwickelt, von der man sagt, sie
sei nichtexistent. Leider hast Du mich, der ich von üblen Taten bin, nicht von
meiner Unwissenheit freigesprochen!“

Erklärung:

Der heilige Arunagiri hatte die höchst gesegnete Erfahrung von absolutem Sein-Wissen-Glückseligkeit, wie im vorhergehenden Vers geschildert. Nach dem er ihm diese nonduale Erfahrung geschenkt hatte, scheint es, als habe Gott sie zu einem göttlichen Zweck wieder von Arunagiri zurückgezogen. Wäre der Heilige in Ihm aufgegangen und wäre nicht in dieses Leben der Erscheinungen zurückgekehrt, wie hätten wir dann seine wundervollen Werke bekommen können! Gott wollte, dass Arunagirinathar Seinen Ruhm besingen und seine Erfahrungen weitergeben und so den Weg zur Vollkommenheit erhellen sollte, als führendes Licht für suchende Seelen dienen sollte. Es ist nicht so, dass Gott jemandem Göttliche Erfahrung gibt und Seine göttliche Arbeit durch jemand anderen verrichten lässt. Wem etwas gegeben wird, dem werden auch Aufgaben gestellt. Dies ist sogar in dieser Welt so; wer hochbezahlt ist, hat auch große Verantwortung und Arbeit, die seinem Gehalt entspricht.

Es mag sogar so scheinen, als ob Gott nur um diese Liedergirlande zu tragen, Arunagiri noch einmal in dieses nicht real existierende Leben der Maya verwickelt hat, nachdem er ihm die großartige Erfahrung der „reinen Existenz“ gegeben hatte.

Was ist Maya? Und warum sagt man von ihr, sie sei nichtexistent? Das Absolute ist unbedingte Existenz; es kann nichts außer ihm geben; darum kann diese Welt nicht zusätzlich zu ihm existieren. Wenn man dieser Welt der Erscheinungen eine wirkliche, unabhängige eigene Existenz zusprechen würde, würde es eine Begrenzung des Absoluten bedeuten; in diesem Falle wäre das Absolute nicht mehr absolut, was unhaltbar ist. Es kann nicht sein, dass noch etwas anderes neben dem Absoluten existiert. Also kann der Welt (den Dingen der Welt) keine wirkliche Existenz zugeschrieben werden. Sie sind nur Phasen der Wirklichkeit, wie Wellen im Ozean nur Phasen des Wassers des Ozeans sind. Die Wellen haben weder eine wirkliche eigene Existenz noch sind sie in ihrer Essenz vom Ozean verschieden. Die Welle ist Wasser, ist der Ozean. Daher wäre es reine Unwissenheit, den Wellen eine unabhängige Existenz zuzuschreiben, getrennt vom Ozean, an dessen Existenz sie teilhaben. So ist es mit diesem Samsara (Kreislauf von Geburt und Tod), der phänomenalen Existenz, die keine von Satchidananda bzw. dem Absoluten unabhängige Existenz hat. Aber wir halten die Welt für die einzige Wirklichkeit, als habe sie eine eigene Wirklichkeit und vergessen dabei die zugrunde liegende Wirklichkeit, ja wir leugnen oft sogar die Existenz dieser höheren Wirklichkeit. Wir sehen also nicht nur eine Welt, die nicht wirklich existiert, sondern wir ignorieren auch die großartige Wirklichkeit, die alleine als diese Welt erscheint.

Wie seltsam! Warum ist das so? Das wird Maya (Täuschung) genannt. Eine Sache wahrzunehmen, die nicht wirklich ist und nicht das zu sehen, was wirklich ist, ist Maya. Aber ist Maya etwas Substantielles? Nein. Es ist nicht so, dass Maya irgendeine Existenz hätte, sie ist nicht eine eigene Entität; es ist nur ein Begriff, wegen unserer Unfähigkeit in unserem gegenwärtigen Bewusstseinszustand die Beziehung zwischen dem Scheinbaren und dem Wirklichen zu verstehen, wenn es eine solche überhaupt gibt. Was nicht wirklich ist und dennoch zu sein scheint und dessen Beziehung zum Absoluten nicht befriedigend erklärt werden kann (wobei es keine wirkliche Beziehung gibt, da das Absolute keine Beziehungen hat) wird als Maya erklärt. Es ist nur ein anfängliches Konzept, das eingeführt wird, um das rätsellose Rätsel der phänomenalen Existenz zu erklären. Es ist wie das „X“ in einer algebraischen Gleichung, das zusammen mit dem Problem verschwindet, wenn die Gleichung gelöst ist. Wenn man das Absolute erfährt, gibt es weder die Welt noch sind wir und noch viel weniger ist „Maya“. Darum sagt man von Maya, sie sei nichtexistent.

Ein unwissender Mensch hält die Welt für eine feste Wirklichkeit und all seine Handlungen gründen auf einer festen Überzeugung von der Wirklichkeit der Gegenstände der Welt. Für ihn existiert keine andere Wirklichkeit, nicht einmal Gott. Er möchte Dinge erwerben und besitzen, sie genießen und glücklich sein. Die Welt ist tatsächlich sein Gott. Darum ist für den weltlichen Menschen Maya (die Welt) wirklich. Aber für einen selbstverwirklichten Weisen ist Maya unwirklich; sie existiert überhaupt nicht, weil er im Bewusstsein Gottes oder des Selbst begründet ist, in dem die äußeren Erscheinungen transzendiert werden. Nur der schon weit entwickelte Sucher ist in einem besonderen Zustand. Für ihn ist die Maya weder wirklich noch unwirklich. Er weiß, dass das Absolute, Gott allein wirklich ist und dass die Welt keine wirkliche Existenz hat. Und dennoch erfährt er die Welt draußen, mit der er umgehen muss. Er ist noch nicht in der Lage, diese relative Erfahrung abzuwerfen. Er kann die Welt nicht wie ein Heiliger negieren, weil er das Absolute noch nicht verwirklicht und erfahren hat, noch kann er sie umarmen wie es ein weltlicher Mensch tut, weil er ihre wesenlose Natur verstanden hat. Dies ist der Zustand der suchenden Seele, in dem es heißt, die Maya sei nicht existent.

Dies ist ein weiterer Vers, in dem sich Arunagiri in die Lage einer suchenden Seele versetzt und Gott um Seine Gnade anruft. „O Gott, ich habe schlechte Taten begangen und bin voll Unwissenheit. Wo ist Raum für meine Erlösung, wenn Du mir nicht meine Unwissenheit vergibst und Deine Gnade auf mich regnen lässt?“ Gott hat uns in diese Maya verwickelt und er alleine kann uns davon befreien. Darum das Gebet zu ihm. Wir, die wir in der Maya gefangen sind, können uns nicht durch unsere eigene Anstrengung davon befreien, denn weil wir ein Produkt der Maya, der Unwissenheit sind, sind alle unsere Anstrengungen innerhalb des Reiches von Maya und werden aus Unwissenheit geboren; und da die Wirkung nicht ihre Ursache überwinden kann, können wir uns nicht von Maya befreien. Wenn wir in einem Sumpf feststecken, können wir dann selbst herauskommen? Wenn wir versuchen, ein Bein herauszuziehen, wird das andere noch tiefer hineingedrückt. Jemand anderes muss uns zu Hilfe kommen. Genauso werden wir, je mehr wir versuchen, uns selbst aus der Maya herauszuziehen, uns darin verstrickt finden. Nur Göttliche Gnade kann uns retten. Darum das Gebet an Gott.

Es ist gut, sich bewusst zu werden, dass selbst die sogenannte eigene Anstrengung nur eine Weise ist, wie der Göttliche Wille oder die Allmacht Gottes arbeitet; die Erkenntnis dessen zieht die Göttliche Gnade an. Wenn unsere eigene Anstrengung unsere Befreiung beeinflussen kann, wo bleibt dann die Allmacht Gottes? Es kann nicht sein, dass Gott allmächtig und allwissend und wir auch durch eigene Anstrengung die Dinge erreichen, die wir wünschen. Genauso wie die Dinge der Welt keine wirkliche und unabhängige eigene Existenz neben der allgegenwärtigen Existenz Gottes oder des Absoluten haben können, sondern nur seine Phasen sind, wie oben schon erklärt, kann bei genauer Analyse, eigene Anstrengung des Individuums nicht mit der Allmacht Gottes koexistieren. Die sogenannte eigene Anstrengung kann daher nur eine Art sein, wie der Wille Gottes arbeitet. Wenn menschliche Anstrengung in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ist, scheinen wir erfolgreich zu sein, obwohl wir in unserer Unkenntnis der Wahrheit den Erfolg unserer eigenen Anstrengung zuschreiben mögen. Und wenn unsere Anstrengung gegen den Göttlichen Willen ist, wird es ein Misserfolg sein. Indem wir dies erkennen, sollten wir demütig werden und uns Gott hingeben, so dass Seine Gnade uns durchdringen möge.

Wie können wir Seine Gnade erlangen? Indem wir Seinen Ruhm besingen, durch Gebet, durch Kontemplation, durch Hingabe. Darum preist Arunagiri Gott hier „mit zwölf starken Schultern und dem strahlenden Vel“! Die zwölf Arme, sagt einer der Kandaralankaaram Verse des Heiligen, sind unsere unfehlbare Hilfe für die Auflösung unserer vergangenen fehlerhaften Taten und der Vel ist der Zerstörer unserer Unwissenheit. „O Gott mit den zwölf Schultern und dem Vel der Weisheit, die in der Lage sind, den vergangenen Karmas und der Unwissenheit ein Ende zu bereiten! Siehe, Du hast mir nicht meine bösen Taten vergeben und meine Unwissenheit entfernt! Wie soll ich dann befreit werden? Geruhe deshalb gnädig, wenigstens jetzt Deine Gnade über mich zu ergießen“, ist die herzbewegende Anrufung von Arunagiri, in unserem Namen und zu unserem Nutzen.

„Du schmückst Deine Schultern mit meinen Liedern“ heißt, Gott hat Arunagiris Werke angenommen und er schmückt sich gern mit ihnen, womit der Heilige auch darauf hinweist, dass derjenige, der sie rezitiert, besonders das Kandar Anubhuti, Anspruch auf Seine Gnade erwirbt und von diesem Leben in der Maya befreit wird, wie Arunagiri selbst durch Seine Gnade befreit wurde.

Das weltliche Leben, in das Gott Arunagiri wieder stellt, um sich mit seinen Liedergirlanden zu schmücken, ist also Maya, nicht substantiell. Wir, die wir in diesem Leben der Maya sind, brauchen Vel-Murugan nur diese Liedergirlanden erneut darzubringen und so Seine Gnade erlangen und befreit zu werden.

*

Der Sadhaka kommt, nach seinem kurzen Blick auf das kosmische Bewusstsein in den höheren Stadien der Meditation (Vers 28) wieder zurück zum normalen Bewusstsein, weil die Mula Avidya, grundlegende Unwissenheit, die die Essenz der Individualität ist, noch nicht zerstört ist („ Ariyaamai Porutthilai“). Das „Pesaa Anubhuti“ von Vers 43 ist tatsächlich Gotteserfahrung, weil Avidya zuvor (in Vers 42, „ Ariyaamai Attradhu“) vollständig zerstört wurde, und dem folgt auch die Bestätigung durch das Erreichen der Lotus-Füße Gottes in Vers 44.

Die Erfahrung bei der Rückkehr in das Normalbewusstsein ist quälend für den Sadhaka aufgrund des diametralen Gegensatzes und unversöhnlichen Kontrastes zwischen diesen beiden Erfahrungen. In diesem kurzen Moment des Gottesbewusstseins war nur Satchidananda und diese Erfahrung überzeugte ihn davon, dass die Welt nicht wirklich existiert; aber bei der Rückkehr aus der Meditation muss er darin leben und sich damit befassen. Diese missliche Lage des Sadhaka wird in diesem Vers berührend dargestellt.

Wahrscheinlich veranlasst Gott den Sadhaka auf dieser Stufe dazu, Lieder zu komponieren, Erfahrungen aufzuschreiben oder Bücher zu verfassen, weil er jetzt die seltene Einsicht sowohl in dieses Leben wie auch in die Erfahrung von Jenem besitzt.