Vers 3

Vaano Punal Paar Kanal Maarudhamo
Jnaano Dhayamo Navilnaan Maraiyo
Yaano Manamo Yenaiyaanda Yidam
Thaano Porulaavadhu Shanmugane

Ist es Erde, Wasser, Feuer, Äther oder Luft?
Ist es Sinnes-Wissen oder die vier überlieferten Veden?
Ist es das Ich-Prinzip, der Geist oder das Land
Wo ich angenommen wurde, O Shanmukha! Was ist Wirklichkeit?

 „Oh Lord Shanmukha! Was ist es, das die Ewige Wahrheit genannt werden kann? Ist es Erde, Wasser, Feuer, Luft oder Äther; oder der Zustand in dem Wissen (durch Sinne vermittelt) entsteht; oder die vier Veden, die gesprochen werden (durch den Mund); oder das Ich-Prinzip; oder der Geist; oder der Ort wo Du (mir als mein Guru erschienen bist und) mich akzeptiert hast?“

Erklärung:

Ein Gedanken anregender Vers! Was ist Wirklichkeit? Die offensichtliche Wirklichkeit (für die Sinne) ist die Welt draußen, die aus den Maha Bhutas, den fünf Hauptelementen, nämlich Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther besteht. Sind diese Elemente die Wirklichkeit? Nein; denn sie sind von wechselhaftem Charakter, während die höhere Wirklichkeit unveränderlich und ewig ist. Oder ist es das Wissen, das man von der Welt bekommt? Nein. Hier bezieht sich Wissen auf Sinneswahrnehmung. Sind es die vier Veden, die der Guru dem Schüler lehrt? Nein. Selbst die Veden sind nicht fähig, die Wirklichkeit zu erreichen. Ist es das Ego, das sich in allem überall behauptet? Nein. Und noch viel weniger ist es der Geist (das instinktive Denken), der nach den Sinnesmeldungen handelt. Keines davon ist die Wirklichkeit, weil sie alle Modifikationen der Prakriti (Urnatur) sind, deren wahre Natur ständige Veränderung ist. 

Was ist dann die Wirklichkeit? „Sie ist der Ort“, sagt der heilige Arunagiri, „wo ich angenommen wurde.“ Das „Ich“, auf das sich der Heilige bezieht, mag sich ent weder auf ihn selbst oder das Ego-Prinzip „Ich“ beziehen. Als Arunagiri sich selbst vom Tempelturm stürzte, erschien Muruga als sein Guru und nahm ihn an. Dies geschah in Tiruvannamalai in Südindien, das jetzt durch den berühmten Bhagavan Ramana Maharshi bekannt wurde. Tiruvannamalai ist der Ort, wo den Egos von Brahma und Vishnu durch Shiva ein Ende gesetzt wurde. Also bedeutet „wo ich angenommen wurde“, dass dort, wo das Ego seine Niederlage oder seine Unfähigkeit, das Wirkliche zu erkennen, akzeptiert, die Wirklichkeit offenbart wird.

Vishnu und Brahma hatten einmal einen Streit. Jeder von ihnen schrieb sich selbst die höchste Herrschaft zu, kamen aber zu keinem Ergebnis. Schließlich, weil sie keine andere Möglichkeit fanden, beschlossen sie die Frage durch einen Kampf zu klären – der Gewinner würde als der Höchste angesehen werden. Der Kampf begann und dauerte mehrere Jahre und schien kein Ende zu finden. Da erschien Shiva, der ihrem Kampf ein Ende machen wollte, als eine riesige Lichtsäule, die sie verblüffte. Neugierig zu erfahren, was das sei, hielten sie in ihrem Kampf inne. Dann ertönte eine Stimme: „Warum streitet ihr vergeblich über eure Überlegen heit? Shiva alleine kennt eure Stärke. Derjenige, der entweder den Ursprung oder das Ende dieser Lichtsäule findet, ist der Höchste Herr.“ Sofort nahm Vishnu die Gestalt eines riesigen Ebers an und ging in die Erde, um den Fuß der Lichtsäule zu finden; und Brahma nahm die Gestalt eines riesigen Schwans an und stieg hinauf in den Himmel, um die Spitze der Lichtsäule zu sehen. Je mehr sie suchten, desto weiter war das Licht entfernt. Sie waren erschöpft und gaben auf. Da erschien das Licht als Shiva vor ihnen. Als sie sahen, wer ihr Ego besiegt hatte, erkannten sie Shiva als den höchsten Herrn an. Shiva verschwand wieder und nur die riesige Lichtsäule, die sich langsam zu einem Berg verdichtete, blieb zurück. Dies ist der Arunachala Berg in Tiruvannamalai, wo der heilige Arunagiri von Murugan angenommen wurde. Der Überlieferung nach geschah dies an Mahashivaratri („heilige Nacht Shivas“, Festtag).

Dem Ego gelingt es nicht zu erkennen, was die Wirklichkeit ist. Wo das Ego endet, dort offenbart sich die Wirklichkeit selbst. Das Ego ist aktiv und funkti o niert bei seiner Suche nach der Wirklichkeit in der äußeren Welt, in Sinneswissen, in den mentalen Funktionen, auch im intellektuellen Verstehen, wenn auch in immer feineren Abstufungen. Aber wenn es in den innersten Winkel des Herzens zurücktritt, dann schmilzt es und löst sich in seiner Quelle auf, wie  eine Salzpuppe, die in den Ozean geht und versucht, seine Tiefe zu ergründen. Die Wirklichkeit wohnt im Kern unseres Herzens, wo das Ego keinen Zutritt hat. Die Mahanarayanopanishad sagt: „Im Zentrum unseres Körpers ist der sündenlose (egolose) Lotus des Herzens, der Wohnort des Höchsten Wesens. Und noch weiter darin ist der sorgenfreie Äther (Wirklichkeit).“ Das Ende des Egos ist die Offenbarung der Wirklichkeit. Den Kenner zu kennen ist Erkenntnis.

„O Lord Shanmukha, offenbare mir, was Wirklichkeit ist“, bittet der Heilige. Er spricht Gott als Shanmukha an, d.h. den Herrn mit den sechs Gesichtern. Es ist interessant, was der Heilige in einem seiner Thiruppugazh Lieder über die sechs Gesichter gesagt hat:

„Er reitet auf dem Pfau und treibt mit einem Gesicht göttliche Spiele;
Ein Gesicht spricht Worte der Weisheit mit Shiva;
Ein Gesicht vernichtet die Karmas von betenden Gottesverehrern;
Ein Gesicht wirft den Vel, um den Berg zu durchbohren;
Ein Gesicht zerstörte Surapadma, der verschiedene Gestalten annahm;
Ein Gesicht kam, um Valli Devi als Gemahlin anzunehmen.
Enthülle, das solltest Du, die geheime Bedeutung,
warum Du sechs Gesichter angenommen hast,
O Herr, dessen Schrein in Arunachala steht, altertümlich und alt.“

Auch hier, nachdem er die Bedeutung und den Zweck der sechs Gesichter bereits angegeben hat, bittet der Heilige Gott immer noch, ihm die wahre Bedeu tung seiner sechs Gesichter zu offenbaren. Dies richtet er an den Herrn in Arunachala oder Tiruvannamalai, das, wie wir gesehen haben, der Ort ist, an dem die Egos von Vishnu und Brahma besiegt wurden. Dadurch möchte der Heilige zeigen, dass unser Verständnis der sechs Gesichter so weit es reicht in Ordnung ist; aber die wahre Bedeutung wird nur offenbart, wenn und wo das Ego vergeht. Darum hat er dieses Lied Shanmukha von Arunachala gewidmet und nicht dem Gott eines anderen Ortes.

Wenn also der Heilige die Wahrheit über irgendetwas wissen möchte, bezieht er sich auf Arunachala, um zu zeigen, dass diese nur in diesem egolosen Zustand erkannt oder offenbart werden kann.

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Man kann sagen, dass das tiefsinnige Gebet um das „alles beendende, michverlierende Gute“ aus Vers 2 in diesem Vers noch detaillierter ausgeweitet wird, wobei dem Sadhaka (spiritueller Aspirant) auch der Prozess der rationalen Erforschung der Natur der Wirklichkeit gezeigt wird und wo diese erkannt werden muss. Die Wirklichkeit erstrahlt immer im Inneren als das Selbst, und kann erkannt werden, wenn das Ego aufgegeben wird. Das ist die Anweisung dieses Verses für den Aspiranten.

Es ist interessant zu beobachten, dass im gesamten Werk des Kandar Anubhuti der Heilige Herz und Kopf zusammenbringt: Betende Stimmung und forschende oder untersuchende Natur, Bhakti und Jnana, als wirksame Formen des Sadhana. Darum wird das Gebet eines Bhakta aus dem vorigen Vers direkt durch intellektuelle Erforschung gestärkt.