Ein Überblick der esoterischen Bedeutung

Was ist nun die esoterische Bedeutung, die sich durch die Verse zieht? Um die vollständigen Implikationen der esoterischen Bedeutung richtig zu schätzen, ist ein ernsthaftes Studium des Buches notwendig. Trotzdem können wir hier eine Zusammenfassung machen, um eine Vorstellung zu bekommen. Die Gruppierung der Verse und die Überschriften dienen nur der einfacheren Übersicht und des leichteren Erinnerns. 

I – Der Beginn des Sadhana (Verse 1 bis 3)

Kandar Anubhuti bedeutet echte Gotteserfahrung. Es ist nicht nur eine Lobpreisung Gottes, nicht nur eine Verherrlichung seiner Größe, sondern mehr; es ist Erfahrung. Also ist es eine Abhandlung über Praxis. Daher enthält es von Anfang an Anweisungen über praktisches spirituelles Leben, über Sadhana, die Hinder - nisse, denen man auf den verschiedenen Stufen der Übung begegnet und die Methoden, um sie auf jeder Stufe zu überwinden, was in der groß artigen Erfahrung Gottes gipfelt.

Gleich der erste Vers enthält daher eine Einführung in ein Leben spiritueller Praxis, nämlich kontinuierliches Rezitieren von Mantras (Japa) oder Namasmarana. Dass dieses Werk gedacht ist für Aspiranten von ganzem Herzen oder Sucher, die ernsthaft praktizieren, um Gott zu erreichen, geht aus dem Satz „Paadum Paniya Paniyaai Arulvaai - die einzige Aufgabe Seinen Ruhm zu singen oder Seine Namen zu wiederholen…“ hervor. Damit irgendeine Praxis erfolgreich sein kann, ist es wesentlich, von Anfang an ein klares Konzept des Ideals zu haben, seiner Natur und der Methode es zu erreichen. Das wird in den Versen 2 und 3 gezeigt.

II – Das Zur-Sache-Kommen und der Beginn der Herabkunft Göttlicher Gnade (Verse 4 bis 13)

Wenn man mit wirklichem Sadhana beginnt, begegnet man bestimmten Schwierigkeiten. Das Leben eines Sadhakas ist eine schrittweise Entfaltung der Göttlichkeit im Inneren, was auch das stufenweise Überwinden von Hindernissen umfasst. Sobald ein Hindernis überwunden ist, stellt sich ein anderes mächtigeres und subtileres Hindernis ein, das mehr Anstrengung und größere Hingabe an das Göttliche erfordert. Dies geht so weiter, bis das endgültige Ziel erreicht ist. Ein wenig Übung ist nicht genug, um die Hindernisse zu überwinden. Es bedarf großer Anstrengung gepaart mit Göttlicher Gnade, um die Probleme schrittweise zu überwinden.

Die groben Hindernisse zeigen sich von Anfang an; man muss den äußeren Umständen in Form von Familie und Kindern gerecht werden (Verse 4 und 5). Die Schwierigkeit wird erkannt und als Ergebnis der Reinigung des Herzens durch intensives Gebet (Vers 6), Wohltätigkeit und Kontemplation (Vers 7) bekommt der Sucher von Gott einen persönlichen Guru, als die erste und sichtbare Hilfe, worin sich Gottes Gnade selbst manifestiert, obwohl der Sucher dies nicht gleich erkennen mag (Vers 8). Dies sind die Verse 4 bis 8.  Die Verse 9 und 10 beschreiben eine besondere Schwierigkeit des Sadhaka, nämlich den Übergang von äußeren zu inneren Schwierigkeiten, während die Verse 11 bis 13 Göttliche Gnade in größerem Umfang zeigen – der Guru schenkt eine vorübergehende Göttliche Erfahrung, um dem Schüler die notwendige Überzeugung zu liefern, weiter kühn voran zu schreiten.

III - Vorbereitung für die und Initiation in die Meditation (Verse 14 bis 20)

Dank der speziellen vom Guru gewährten Gnade macht der Sadhaka ernsthafte Anstrengungen in seiner spirituellen Praxis, um das Ziel zu erreichen. Er strebt danach, Freiheit von der nach außen gehenden Tendenz des Geistes zu erlangen, indem er den Geist auf den Gott bzw. das Selbst im Inneren heftet (Vers 14), durch Intensivierung von Nama-Japa (Wiederholung des Namens Gottes), Schmelzen des Herzens (Vers 15) und Unterscheidungskraft (Viveka) (Verse 16 und 17), was die Voraussetzung für die Einweihung in die richtige Meditation bildet. Dann bemüht er sich um Meditation über das Selbst, fühlt aber die Notwendigkeit der Initiation in diese Technik (Verse 18 und 19) und bittet den Guru darum, dass er ihn in den geheimnisvollen Prozess der Meditation über das Selbst einweiht. (Vers 20)

IV – Der innere Kampf und ein flüchtiger Schimmer (Verse 21 bis 28)

Jetzt kommt die schwierige Aufgabe für den Sadhaka. Wenn man mit der richtigen Meditation beginnt, kommt die subtile, innere Persönlichkeit mit ihrem hässlichen Gesicht – Avidya, Unwissenheit, in Form von Samskaras (Eindrücke im Unterbewusstsein) und Vasanas (subtile Wünsche) – an die Oberfläche. Medi tation ist dann nicht einfach nur ein Scherz, sondern erfordert beständiges und zunehmendes Eintauchen nach innen, was eine gleichzeitige Erkenntnis der unwirklichen Natur der Welt der Erscheinungen und eine entsprechende Einsicht in die höhere Wirklichkeit bringt.

Mit der Kraft der Einweihung wird das Streben des Suchers nach Befreiung inten siviert (Vers 21). Die Verse 22 bis 26 beschreiben lebendig die innere Umwandlung, die im Sadhaka stattfindet, wenn er in die Meditation eintaucht sowie die unterschiedlichen Erfahrungen, die sein Geist erlebt.

Eine genaue Analyse der Verse enthüllt den kritischen Gemütszustand des Sadhakas – einmal erscheint die Meditation leicht (Vers 22), dann wieder unmöglich wegen des aktiven Spiels von Avidya (Vers 23), was eine immer größere Zuflucht zum wahren Selbst und eine völlige Hingabe daran erfordert (Verse 24 bis 27), bis sie gelingt und der Geist einen Schimmer des kosmischen Bewusstseins bekommt (Vers 28).

V – Der unbeschreibliche Zustand (Verse 29 bis 32)

Die flüchtige Berührung des äußeren Randes des kosmischen Bewusstseins und die nachfolgende Notwendigkeit zu dieser „unwirklichen“ Welt zurückzukehren und darin zu leben, bringt den Sadhaka in eine unbeschreiblich missliche Lage – manchmal kann er die Dinge versöhnen (Vers 30) und manchmal nicht (Vers 31). Gott scheint eine Mischung aus Freundlichkeit und Grausamkeit zu sein; das Wirken von Göttlicher Gnade und Prarabdha (karmisch bedingte Lebenssituation) wird zusammen erfahren.

VI – Das alles verzehrende Streben und der endgültige Anstoß (Verse 33 bis 38)

Dieser besondere Zustand des Sadhakas (s. oben) erzeugt eine solche spiri - tuelle Unruhe in ihm, dass er sich nach völliger Freiheit von Samsara (Rad von Tod und Wiedergeburt) durch ununterbrochene Meditation sehnt, was sich als ein alles verzehrendes Streben nach vollständiger Entsagung ausdrückt (Verse 33 bis 35). Er sehnt sich nach der höchsten mystischen Meditation über Pranava oder „Om“ und wird in sie initiiert (Sannyasa). So ist er bereit, der Welt der Erscheinungen Lebewohl zu sagen (Verse 36 bis 38).

VII – Der endgültige Sprung und Gotteserfahrung (Verse 39 bis 43)

Nachdem er sich mit allem ausgestattet hat, was für einen Sprung in das Absolute notwendig ist, unternimmt er eine entschlossene und totale Anstrengung, um die Fesseln der Kette von Ursache und Wirkung zu zerbrechen und in die Großartige Erfahrung einzugehen (Vers 39). Er meditiert ununterbrochen über das Absolute (Vers 40) mit einer Sehnsucht, Befreiung hier und jetzt zu erreichen, d.h. nach Jivanmukti („lebendig befreit“) (Vers 41), und dies zerbricht den Baum des Samsara von der Wurzel bis zu den Zweigen. Eigene Anstrengung und Göttliche Gnade verschmelzen miteinander und bringen die „Sprachlose Erfahrung“ hervor, wo die Knoten des Herzens für immer zerbrochen werden (Verse 42 und 43). Der Mensch begegnet Gott und wird ein Gottmensch, ein Jivanmukta Purusha. Die Verse 39 bis 43 sind inspirierend und anregend, da hier der Höhepunkt der Abhandlung erreicht ist. 

VIII – Lokasangraha (Verse 44 bis 50)

Mit dem Erreichen der Gotteserfahrung wird der Sadhaka ein Siddha Purusha, auch Jivanmukta Purusha genannt, ein Weiser, und es gibt für ihn keine Notwend igkeit mehr, irgendeine spirituelle Praxis auszuüben. Seine ganze Existenz und all seine Aktivitäten sind wahrlich Sadhana an sich. Die befreite Seele, die den Zustand der „Sprachlosen Erfahrung“ (Pesaa Anubhuti) erreicht, bleibt normalerweise nicht darin absorbiert, sondern kommt wieder aus ihr heraus und bewegt sich als ein Jivanmukta, ein lebendig Befeiter. Vers 44 stellt die Erfahrung eines Jivanmukta dar, der gerade aus Pesaa Anubhuti - emporsteigt, d.h. sein Gefühl, dass die Gegenwart Gottes überall ist. Der Jivanmukta hat eine Göttliche Mission zu erfüllen, nämlich den Aspiranten zu helfen. Die befreite Seele bewegt sich deshalb im Alltag ohne irgendwelchen Zwang und gibt denjenigen spirituelle Belehrung, die ihre Führung suchen. Die An weisungen und ihre Methoden unterscheiden sich natürlich je nach den Bedürf nissen derer, die suchen.

Daher gibt es keine Notwendigkeit für eine Konti - nuität in den Inhalten der Verse 45 bis 50, die natürlich hohe spirituelle Wahrheiten offenbaren. Sie enthalten eine tiefe Bedeutung und verborgene Hinweise für die Meditation; sie haben eine Bedeutung und einen Zweck; sie liefern den Suchern wertvolle Führung. Darum sind sie von besonderer Art.

IX – Sahaja-Samadhi Avastha (Vers 51)

Obwohl sich der Jivanmukta in der Welt bewegt und allen Frieden und Glück schenkt, bewahrt er dabei immer ein inneres Bewusstsein Gottes, von dem er so sehr durchdrungen wird, dass DIESE ERFAHRUNG für ihn Sahaja, natürlich, wird. Dies wird Sahaja-Avastha genannt, d.h. ein ununterbrochener, natürlicher überbewusster Zustand, in dem er Gott gleichzeitig innen und außen wahrnimmt – innen als das Selbst (als Guhan, Gott im Herzen wohnend) und außen als alles, was sichtbar und unsichtbar ist, wahrnehmbar und nicht wahrnehmbar, als Materie und Geist und als der Guru. Dies ist der Zustand des Jivanmukta, an den sich die Welt um Beistand klammert, bei dem jeder Trost findet, um den sich suchende Seelen scharen, um spirituelle Erleuchtung zu bekommen und für den nichts irgendeinen Unterschied macht.

Mögen die Segnungen aller dieser Brahmanishthas (die nichts als Brahman, das Absolute, wahrnehmen) die Sucher auf der ganzen Welt führen!