Die Geschichte des Bhakta

In Rishikesh war gerade Satsang. Subodh und Vivek schlossen sich der Versammlung an. Der Guru sprach über Sadhana und Jnana (Wissen, Erkenntnis): „Geliebte Suchende! Bhakti (Hingabe) ist das Größte auf der Welt. Ein Bhakta ist dem Herrn Selbst ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Ich werde das mit einer Geschichte veranschaulichen. Es stellte sich einst die Frage: ‘Wer ist der Größte im Universum?’

Die Erde antwortete zuerst. ‘Ich bin es, denn ich trage die ganze Menschheit und außerdem alle Pflanzen und Tiere, alle heiligen Orte und heiligen Flüsse.’ Adisesha, die große Schlange, konnte nicht schweigen: ‘Ich bin größer als die Erde; denn ich trage die Erde selbst auf meinem Haupt.’ Gott Shiva lachte so herzlich, dass das Universum erbebte und sagte: ‘Und ich trage diese Schlange um meinen Hals, also bin ich größer als Adisesha.’ Nun war der Berg Kailas an der Reihe und sagte: ‘Ich trage auf meinem Scheitel Gott Shiva und seine ganze Familie, also bin ich größer als Gott Shiva Selbst.’ Ravana von Lanka (ein Dämonenkönig) brüllte mit seinen zehn Mündern: ‘Ich entwurzelte den Kailas mit meiner übermenschlichen Kraft; ich bin größer als Kailas.’ Vali, der große Affe, trat vor und sagte: ‘Dieses kleine zehnköpfige Biest! Ich fing ihn in meiner Achselhöhle und gab ihn meinem Sohn zum Spielen. Ich bin unendlich größer als Ravana.’

Nun war Sri Rama an der Reihe: ‘Tötete ich nicht Vali mit einem einzigen Pfeil? Ich bin größer als alle anderen.’ Ein bescheidener Verehrer von Sri Rama, der in Bhava-Samadhi eingetaucht war, erhob sich aus seiner Meditation, als Sri Rama sprach, und fügte ruhig hinzu. ‘Und ich halte diesen Sri Rama gefangen; ich habe Ihn mit den Seilen meiner höchsten Hingabe gebunden und Ihn in mein Herz gesperrt. Wie kann mein Gefangener größer sein als ich?’ Die Geschichte des Bhakta Niemand widersprach dem Gläubigen! Niemand wagte es, vorzutreten und zu behaupten, er wäre größer als dieser. Alle waren sich darüber einig, dass er in der Tat der Größte von allen war, größer sogar als der Gott Selbst!

Das ist die Herrlichkeit von Bhakti, der höchsten Hingabe an den Herrn. Aufgrund von Unwissenheit identifiziert sich der Mensch mit seinem Körper, seinem Geist und seinem Prana (Lebensatem, Lebensenergie). Höre diese amüsante Geschichte über einen getäuschten Menschen. Ein Mann, der dem Trinken von einem Rauschmittel verfallen war, trug stets Mörser und Stößel bei sich, die zur Zubereitung des berauschenden Getränks notwendig sind. Er hatte sie um die Hüfte gebunden. Eines Tages als er am Flussufer entlang spazierte, ließ ihn das Verlangen nach der Droge unter einem Baum Halt machen. Er bereitete sein Getränk, goss es hinunter und fiel, nachdem er Mörser und Stößel um seine Mitte gebunden hatte, in den Schlaf des Betrunkenen.

Zufällig kam ein weiterer Liebhaber des Rauschmittels des Weges. Er hatte seinen eigenen Vorrat dabei und war begierig darauf, er hatte aber weder Mörser noch Stößel. Er sah, dass diese um die Hüfte des schlafenden Betrunkenen gebunden waren. Sachte löste er Mörser und Stößel vom Körper des Schlafenden, bereitete sein Rauschmittel und trank es. In seinem Rausch erinnerte er sich nicht mehr daran, dass die Gegenstände dem anderen Mann gehörten und band sie um seine eigene Hüfte. Nach einer Weile erwachte der erste Betrunkene, und sein Blick fiel auf Mörser und Stößel, die um die Hüfte des zweiten Betrunkenen gebunden waren. Er überlegte: ‘Mörser und Stößel waren um meine Hüfte gebunden. Wenn das so ist, dann muss ich dieser Schlafende sein. Aber ich trug ein schwarzes Tuch; und ich sehe ein rotes Tuch an diesem Menschen. Wenn ich der Mann mit dem schwarzen Tuch bin, muss ich dieser Mensch sein. Oh, ich bin verwirrt. Bin ich nun der Mann mit Mörser und Stößel oder der Mann mit dem schwarzen Tuch?’

Er konnte dieses Rätsel nicht lösen, solange der Rausch anhielt. Dann erkannte er, dass er unnötigerweise über oberflächliche äußere Faktoren, die überhaupt nicht zu ihm gehörten, sondern bloß Kleider und Besitzgegenstände waren, besorgt war. Wenn ein Mensch seine wahre Identität vergessen hat, und wenn er durch falsche Identifikation mit Körper und Geist Kummer und Schmerz erleidet, erweckt ihn der Guru zur Natur seines wahren Selbst; das ist das Ende der Unwissenheit und ihrer unzähligen negativen Auswirkungen. Höre diese Geschichte von einem Wäschemann und einem Löwen.

Ein Wäschemann sagte seinem Sohn, der Wäsche wusch: ‘Mein Sohn! Es wird bald Nacht. Mach dich bereit nach Hause zu gehen. Ich fürchte die Nacht sehr. Ich fürchte weder Tiger noch Löwe; aber die Nacht macht mich krank vor Angst.’ Ein Löwe war in einem nahegelegenen Busch versteckt und hörte die Bemerkungen des Wäschemanns. Er grübelte: „Was für ein Wesen ist diese Nacht? Nach den Aussagen des Mannes zu schließen, muss es sogar mir, dem König des Dschungels, an Kraft weit überlegen sein.“ Furcht vor dem Unbekannten schlich sich in sein Herz.

Der Wäschemann suchte seinen Esel, der diesen Abend nicht nach Hause zurückgekehrt war. In der Dunkelheit konnte er nicht deutlich sehen; aber er erspähte ein Tier, das im Busch kauerte. Es war der Löwe. Er dachte, es sei sein Esel, und gab ihm einige deftige Schläge mit seinem Stock. Der Löwe war in seiner Furcht bestätigt: ‘Das muss die gewaltige Nacht sein. Gott sei Dank bin ich mit nur zwei Schlägen davongekommen!’ Er stand auf und folgte dem Mann zu seinem Haus. Der Wäschemann bemerkte nicht, dass es ein Löwe war und band ihn einfach im Hof fest und ging schlafen. Der Löwe machte sich große Sorgen. Früh am nächsten Morgen lud der Wäschemann eine große Ladung Wäsche auf den Rücken des Löwen. Es war noch dunkel, und so konnte er nicht erkennen, dass es ein Löwe war. Er führte ihn zum Fluss. Der arme Löwe folgte ihm widerstandslos. Ein anderer Löwe traf diesen Löwen auf dem Weg und lachte.

‘Was tust du denn da? Schämst du dich nicht, als Löwe die Arbeit eines Esels zu verrichten? Wirf die Last ab und komm mit mir.’ Der Löwe hörte jedoch nicht auf ihn. ‘Bruder, du weißt nicht, was diese schreckliche Kreatur Nacht mit mir gemacht hat! Sei still, sonst wird er dich auch verprügeln. Der zweite Löwe lachte über die Dummheit dieses Löwen. ‘Schau, brüll nur einmal und sieh, was passiert.’ Das tat er. Der Wäschemann drehte sich um; und sah im schwachen Licht der Morgendämmerung den Löwen. Er stürzte davon, ohne sich auch nur um das Kleiderbündel zu kümmern! Die zwei Löwen gingen zurück in den Wald. „Wenn der Guru auf diese Weise den Schülern die Augen öffnet, verschwindet die Täuschung und mit ihr auch Furcht und Kummer.“

Subodh und Vivek freuen sich, dass sie Gelegenheit gehabt hatten am Satsang teilzunehmen. Sie erinnerten sich, dass bald Guru Purnima sein würde, und kehrten daher in den Ashram ihres Gurus zurück. Der Guru erklärte den beiden Schülern die Moral aller Geschehnisse. Bevor ihr andere verbessert, verbessert euch selbst.

Bevor ihr versucht, über andere zu urteilen, erlangt erst selbst das höchste Wissen. Erst dann werdet ihr wissen, was gut und was schlecht ist. Man kann nicht durch Stellvertreter lernen! Man muss selbst Sadhana üben und selbst weise werden. Ihr habt das unsagbare Leid verstanden, das Geld über die Menschen bringt. Geld ist die stärkste Waffe der Maya (Illusion); die andere ist Begierde. Maya hat einige Tropfen Süßigkeit in einen ganzen Topf voll tödlichstem Gift getan – Reichtum und Begierde. Der Mensch von diesen wenigen Tropfen Süße in Versuchung geführt, trinkt das Gift und beschwört endloses Leiden herauf.

Denkt daran: der Tod tötet nur den Körper. Begierde und Reichtum gehen viel tiefer und schwärzen die Seele. Es dauert mehrere Leben, bis die Reinheit der Seele wiedergewonnen ist. Begierde und Gier machen euch zum Tier. Und Gott, der feststellt, dass ihr die wundervolle menschliche Geburt, die Er euch gegeben hat, nicht verdient, wirft euch in niedere Geburten, wo ihr euch im Schmutz der Sinnesbefriedigung wälzt, bis Seine Gnade euch wieder eine menschliche Geburt gewährt. Wenn ihr den Pfad des Guten beschreiten wollt, meidet Begierde und Reichtum. Schätz unsere uralte, spirituelle Kultur nicht gering. Die moderne, materialistische Zivilisation hat nichts gebracht als Zwietracht, Elend, Armut und universelles Unglück. Sie hat die Menschen schlechter als Tiere gemacht.

Lasst euch nicht vom äußeren Glanz der Wissenschaft täuschen. Die uralten Rishis (Seher, Weiser) waren unsere wahren Wohltäter. Selbst heute erheben wir noch den Anspruch darauf, von dem einen oder anderen dieser Großen abzustammen; und doch sind wir stolz darauf, ihre heilsame Lehre zu verwerfen. Das trägt nicht zu unserem Wohlbefinden bei. Materialistische Wissenschaft kann niemals unser wahres Wohlergehen und unseren Wohlstand herbeibringen. Was habt ihr aus dem verrückten Verhalten der Augenpatienten gelernt? Die niedrige tierische Stufe auf die der Mensch gesunken ist – das ist was ihr hier seht. Er kann es nicht ertragen, dass jemand sich höher erhebt als er, dass jemand heller leuchtet als er, dass jemand wohlhabender ist als er. Er strebt eher danach, anderen Schaden zuzufügen, als sich um sein eigenes Wohlbefinden zu kümmern.

Ein wunderschöner alter Ausspruch kommt mir in den Sinn: „Derjenige ist ein großer Mensch, der anderen Gutes tut auf Kosten seines eigenen Wohlergehens. Derjenige ist ein Teufel in Menschengestalt, der anderen zu seinem eigenen Nutzen schadet. Derjenige, der anderen ohne Grund Schaden zufügt – wir wissen nicht, wie wir so einen Menschen nennen sollen!“ Ein großer Teil der Menschen von heute gehört zu dieser letzten, abscheulichen Gruppe. Es ist schwer sich vorzustellen, wie die Zukunft aussehen mag, wenn alle nur darauf aus sind, allen anderen zu schaden. Das kann nur überall zu Chaos, Elend und Leiden führen. Und das allergrößte Wunder ist, dass niemand auch nur einen Augenblick anhält und nachdenkt. Jeder folgt jedem. Jeder versucht seinen Nachbarn zu übertreffen. Jeder folgt blind ausgetretenen Pfaden, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er das Richtige tut oder nicht. Ein junger Mann geht zur Schule, weil sein Vater zur Schule ging, und weil sein Nachbar zur Schule geht. Er sucht Arbeit, weil jeder Arbeit sucht. Er heiratet, weil sein Vater, Großvater und Urgroßvater auch geheiratet haben. Er verdient Geld, weil jeder es tut! Er vergeudet sein Leben, weil er nicht weiß, was er sonst tun soll. Das Leben hat für ihn die Bedeutung, geboren zu werden, Kinder zu zeugen, alt zu werden, und dann zu Grabe getragen zu werden.

Genauso geht es in der Geschichte von Gandharvasen zu. Als er stirbt trägt einer nach dem anderen, bis zum König, Trauer. Aber der wahre Sucher ist nicht so. Er hält bei jedem Schritt an und überlegt. Er ist nachdenklich. Er fragt nach und lernt Unterscheidung. Dann verlässt er das weltliche Leben und beginnt ein spirituelles Leben. Er ist ein Weiser. Solch ein weiser Sadhaka übt Hingabe, denn wie wir in der Geschichte von der Suche nach dem Größten gesehen haben, gehört sogar der Gott dem wahrhaft Gläubigen. Wenn Frömmigkeit und Unterscheidungskraft im Schüler parallel wachsen, entdeckt er, dass er sich so lange falsch mit den illusorischen Hüllen – wie Körper, Prana, Geist usw. – identifiziert hat.

Er hatte eine falsche Vorstellung von seinem eigentlichen Wesen und von dem Wesen der Täuschung, das die Verwirklichung dieses eigentlichen Wesens verhindert. Das lernen wir aus der Geschichte der Rauschmittelsüchtigen. Zuletzt lernen wir aus der Geschichte der zwei Löwen, dass die Unwis - senheit uns fest und stark im Griff hat, so wie die Angst des Löwen vor der geheimnisvollen ‘Nacht’, so dass wir einen Guru brauchen, einen anderen Löwen, der uns unsere eigentliche Natur zeigt und uns als Stütze beisteht und uns führt, während wir brüllen: „Sivoham, Satchidananda Swarupoham.“

Die Last von Kummer und Elend, von Täuschung und Verzweiflung, die wir so lang trugen – wie der Löwe die Wäsche des Wäschemanns trug – wird von uns abfallen, während wir einen Sprung nach vorne machen, um unseren angeborenen Wohnort der Wonne zu erreichen. Kinder, da ihr diese seelenerweckenden Erfahrungen durchgemacht und eine gründliche Kenntnis über die Natur der Welt und die Natur des spirituellen Lebens erworben habt, seid ihr wirklich bereit zur Einweihung in das geheimnisvolle Atma-Jnana (Wissen vom Selbst). Kommt, ich werde euch in den heiligen Sannyas Orden einweihen. Und ich bete zu Gott, dass er euch seinen Segen gebe und euch mit Willenskraft und dauerhafter Unterscheidung versehe, die euch in das Reich unsterblicher Wonne führen werden!