Ein praktizierender Gelehrter der Vedanta

Radhakrishna hatte einige Bücher über Vedanta (wörtl. „das Ende des Wissens“, eines der 6 indischen Philosophiesysteme) gelesen, so zum Beispiel Vichar Sagar, Panchadasi und Atma Bodha. Er dachte, er sei ein großer Gelehrter der Vedanta und hätte eine verwirklichte Seele. Aber er hatte die Bücher nie unter der Anleitung eines Gurus studiert und hatte auch keine Einweihung erhalten. Meditation und Kontemplation waren ihm unbekannt.

Eines Tages ging Radhakrishna in einen Laden um sich ein Glas Milch zu holen. Während er die Milch trank, philosophierte er vor sich hin: „Es gibt überall nur ein einziges Selbst. Und ich habe auch gelesen: ‘Alles ist mein, alles ist Brahman.’ Also werde ich nun ein praktizierender Gelehrter der Vedanta.“ Der Ladenbesitzer musste kurz in ein Nachbargeschäft gehen, um Zucker zu kaufen. Die Kasse stand noch offen. Er hatte vergessen, sie abzuschließen. Radhakrishna nahm heimlich einen Hundert-Rupien-Schein aus der Kasse und ging schweigend die Strasse hinunter. Er hatte sich überlegt: „Die Geldkiste ist mein, dieses Geld ist mein, alles ist mein. Heute wurde mir die wahre Bedeutung von Vedanta klar. Wie praxisnah Vedanta doch ist! Wie schön es ist, im wahren Geist von Vedanta zu leben! Wie glücklich ich doch bin! Der Reichtum der ganzen Welt ist nun mein. Alles ist mein.“ Als der Ladenbesitzer zurückkehrte und die Kasse offen stehen sah, zählte er sein Geld und stellte fest, dass Hundert Rupien fehlten. Sofort rannte er die Strasse runter, hielt Radhakrishna fest und übergab ihn der Polizei. Nach kurzer Zeit kam Radhakrishna vor den Richter. Dieser fragte: „Radhakrishna, hast du den Hundert-Rupien-Schein aus der Kasse des Ladenbesitzers genommen?“ Radhakrishna antwortete: „Ja, euer Ehren, ich habe ihn aus der Kiste genommen.“

Verwundert wollte der Richter wissen: „Warum hast du ihn genommen?“ Hierauf antwortete Radhakrishna überzeugt: „Ich wollte Vedanta im täglichen Leben praktizieren und sie spüren. Ich wollte vollständig im Geiste von Vedanta leben. Ich habe die Vedanta Bücher gelesen, und die sagen: ‘Alles ist mein.’ Also dachte ich, dass das Geld in der Kasse mein sei und habe es daher genommen. Ich habe das Geld nicht gestohlen. Ich bin kein Dieb.“ „Wirklich, sehr schöne Vedanta!“ antwortete der Richter. „Die Welt benötigt dringend solche Gelehrten der Vedanta. Erst dann wird das Elend der Welt ein Ende finden. „Nun denn, Radhakrishna, höre dir auch den anderen Teil der Vedanta an. Dort heißt es: ‘Ich bin nicht der Körper, ich bin das Selbst.’ Lass mich sehen, wie weit du dich von der Verhaftung an deinen Körper befreit hast und ob du wirklich über das Körperbewusstsein hinaus bist.“ Der Richter bat den Polizisten ihn ordentlich mit einer Peitsche auszupeitschen.

Nach kurzer Zeit schrie Radhakrishna bitterlich und sagte: „Oh euer Ehren! Ich habe diesen Teil der Vedanta noch nicht praktiziert. Das was du verlangst ist sehr schwer. Ich bin doch bis jetzt nur der Körper. Bitte sag dem Polizisten, er soll aufhören mich zu schlagen. Ich halte die Schmerzen nicht länger aus. Ich werde gleich ohnmächtig. Ich sehe meine Torheit ein. Vedanta ist wirklich sehr schwer zu praktizieren. Ich habe nun Vernunft angenommen. Ich werde in Zukunft nie wieder solch törichte Taten begehen.“ Darauf sagte der Richter: „Radhakrishna, gehe zu einem Brahmanishta Brahmashrotri Guru. Lebe mit ihm zwölf Jahre. Diene ihm mit Hingabe. Studiere sorgfältig die Veden (die ältesten religiösen Schriften Indiens) unter seiner Anleitung. Entwickle alle göttlichen Eigenschaften. Höre, reflektiere, meditiere und verwirkliche dein wahres Selbst. Erst dann kannst du sagen: „Ich bin Brahman, alles ist mein.“

Radhakrishna ging hinweg und befolgte die Anweisungen des Richters. Er ging nach Rishikesh und fand einen Guru. Zwölf Jahre lebte er mit ihm zusammen, praktizierte strengste Entsagung, meditierte und verwirklichte schließlich das Selbst. Heutzutage gibt es trockene oder Lippen-Gelehrte der Vedanta zuhauf. Es gibt viel vedantisches Geschwätz. Es gibt viele Radhakrishnas. Bloßes Gerede über Vedanta, das reine Studium von Vichar Sagar oder Panchadasi macht niemanden zu einem praktizierenden Gelehrten der Vedanta. Diese sind äußerst selten. Denn du musst die Schriften und die Worte des Gurus richtig verstehen.

Du musst alle Unreinheiten und Ruhelosigkeiten des Geistes beseitigen. Du musst den Schleier der Unwissenheit zerreisen. Du musst sehr schwer mit dir kämpfen. Strengste Sadhana muss geübt werden. Die falsche Identifikation mit dem Körper muss überwunden werden. Die drei Gunas (Eigenschaft der Natur), die fünf Hüllen und die drei Körper müssen transzendiert werden. Dann erst ruhst du in deiner eigenen göttlichen Natur oder im Satchidananda (reines Sein, Wissen, Wonne) Zustand. Dann erst wird man ein praktizierender Gelehrterder Vedanta oder ein verwirklichter Weiser oder Jivanmukta (zu Lebzeiten Befreiter). Ehre den Gelehrten der Vedanta, die ihr Atman verwirklicht haben! Möge ihr Segen auf Euch allen ruhen!