Ein Schwiegersohn

Rajendra war ein religiös veranlagter junger Mann. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht alle Arten von Gelübden abzulegen, um seinen Geist und die Sinne unter Kontrolle zu halten. Zu Deepavali (hinduistisches Lichterfest) ging er zum ersten Mal zum Haus seiner Schwiegermutter. Seine Schwiegermutter Leelavathi kochte an diesem Tag eine köstliche Fischsuppe für ihren Schwiegersohn. Rajendra ging zum Essen. Er hatte ein Gelübde abgelegt nichts auf dem Teller übrig zu lassen und auch nicht während der Mahlzeit zu sprechen. Leelavathi trug köstlichen Reis, Dhal (Linsengericht) und Fischsuppe auf. Rajendra mochte jedoch keinen Fisch. Was konnte er nun tun?

Er hatte ein Schweigegelübde abgelegt; er konnte also nicht sagen, dass er keinen Fisch mochte. Er konnte aber auch nichts auf seinem Teller zurück lassen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu essen, was auf seinen Teller getan wurde. Irgendwie aß er alles auf, wenn auch unter größten Schwierigkeiten. Die Schwiegermutter servierte ihm aber wieder eine Portion Fisch, denn sie wollte ihm eine richtige Freude machen. Sie dachte bei sich, dass er Fisch sehr gerne esse. Rajendra würgte nun auch diese zweite Portion unter größten Schwierigkeiten runter. So wie sein Teller wieder leer war, trug ihm Leelavathi eine weitere Portion auf. Sie freute sich: „Ich bin ja so glücklich! Mein Schweigersohn hat schon fast die ganze Suppe gegessen. Ich bin sicher ihm schmeckt mein Rezept. Er lässt noch nicht einmal die Gräten zurück, sondern verschlingt das Ganze so gierig.“ Rajendra verputzte –ächz – auch diese Portion! Und wieder stellte die Schwiegermutter eine große Schale Fischsuppe auf seinen Teller. Doch Rajendra war kurz vorm Platzen! Nun war er gezwungen zu sprechen und Suppe auf seinem Teller zurück zulassen.

Also sagte er zu seiner Schwiegermutter: „Liebste Schwiegermutter, bitte ich mag Fisch überhaupt nicht. Aber ich hatte ein Gelübde abgelegt, während des Essens nicht zu sprechen und außerdem nichts auf meinem Teller zurück zu lassen. Ich musste daher alles essen, was du mir vorgesetzt hast. Du dachtest sicher, mir würde die Suppe besonders gut schmecken. Doch du hast dich sehr geirrt. Jetzt habe ich fuchtbare Bauchschmerzen, denn ich musste ja auch alle Gräten schlucken. Ich brauche Hilfe, bitte hole sofort einen Arzt. Denn die Schmerzen sind unerträglich. Ich habe die schlimmste Magenkolik, die du dir vorstellen kannst. Ich muss mich sofort hinlegen, sonst falle ich in Ohnmacht, und selbst wenn ich erbrechen wollte, da ist überhaupt kein Platz mehr innen drin, wo ich meinen Finger reinstecken könnte.“ Betroffen und überrascht ließ Leelavathi sofort den Arzt holen. Er kam und entfernte zuerst langsam mit einer langen Zange die Gräten aus dem Hals. Rajendra konnte sich nicht bewegen und lag am Boden, er konnte sich auch nicht die Hände waschen. Zwei starke Männer mussten ihn dann auf die Veranda tragen und ihm die Hände waschen.

Dann gab der Arzt ihm ein starkes Brechmittel, machte danach noch eine Magenspülung. Zu guter letzt gab er ihm einen Einlauf und eine Morphiumspritze. Rajendra war endlich von den Schmerzen befreit. Aber er musste seine beiden Gelübde brechen. Aspiranten machen oft schwere Fehler. Sie sollten nicht zu viele Gelübde auf einmal ablegen. Sie sollten ihre Fähigkeiten und Kräfte nicht überschreiten. Sie sollten langsam und bedächtig Schritt für Schritt auf dem spirituellen Weg voran schreiten. Sie sollten ein Gelübde nur für eine kurze Zeit ablegen und wenn sie dann feststellen, dass sie ausreichend stark sind, dann und nur dann sollten sie die Zeitspanne verlängern. Später können sie dann nach reichlicher Überlegung ein weiteres Gelübde ablegen. Versuche es so: Schweige für eine Woche. Wenn du das Schweigegelübde ohne Schwierigkeiten eine Woche halten kannst, verlängere es auf vierzehn Tage, dann auf einen Monat und anschließend auf drei Monate. Wenn du jedoch gleich ein Gelübde für drei Monate ablegst, dann musst du es möglicherweise brechen, so wie unser Freund Rajendra. Zweck eines Gelübdes ist es, den wandernden Geist und die ungestümen Sinne im Zaum zu halten. Nicht um dich zu kasteien. Benutze daher immer deine Intelligenz und deinen gesunden Menschenverstand.