Der Schakal und der Geier

Folgender Vorfall ereignete sich im Maimisch Wald. Einem Brahmanen, der lange Zeit kinderlos geblieben war, wurde ein Sohn geboren nachdem er viel Buße getan hatte. Das Kind starb jedoch schon bald am Säuglingskrampf. Daraufhin trugen die Eltern in tiefer Trauer den Körper zur Begräbnisstätte. Auch dort klagten sie sehr und langanhaltend. Als er ihr Weinen hörte, kam ein Geier und sagte: „Seht, die ganze Welt muss Glück und Leid erleiden. Verbindung und Auflösung wechseln sich ab. Diejenigen, die mit den Leichen ihrer Verwandten zum Krematorium kommen und bei diesen Toten wachen, müssen aufgrund ihrer Taten selbst die Welt verlassen, wenn die ihnen zugestandene Zeitspanne abgelaufen ist. Ob Freund oder Feind, keiner lebt wenn er der Macht der Zeit erlegen ist. Das ist das Schicksal aller weltlichen Kreaturen. In der Welt der Sterblichen wird jeder, der geboren wird, auch sterben. Wer sollte einem Toten das Leben wieder geben, wenn er den vom Zerstörer vorgegebenen Weg gegangen ist? Geht nach Hause, ihr Trauenden, entsagt der Liebe zu dem Kind.“

Nachdem sie die Worte des Geiers gehört hatten, ließ der Kummer der Eltern etwas nach und sie folgten dem Rat des Geiers. An diesem Punkt kam ein Schakal aus seinem Bau und sagte zu den Eltern: „Empfindet ihr keine Zuneigung zu dem Kind? Die Sonne steht noch hoch am Himmel. Lasst euren Gefühlen freien Lauf. Euer Kind kann sein Leben noch zurückgewinnen. Warum wollt ihr mit steinernen Herzen weggehen und jede Zuneigung zu euerem Liebling leugnen? Ich bin mir sicher, ihr liebt dieses Kind. Seht sogar die Vögel und wilden Tiere haben Zuneigung für ihre Jungen. Weint für ihn noch eine Zeit lang und seht ihn euch noch eine Weile in Liebe an. Das Leben ist allen lieb und alle, auch noch dieses Kind, fühlen den Einfluss der Liebe.“ Bei der Rede des Schakals änderten die Eltern ihre Meinung und beschlossen noch eine Weile bei dem Kind zu bleiben. Da kam der Geier wieder hervor und sagte: „Warum kehrt ihr bei dem Ruf eines grausamen, bösartigen und beschränkten Schakals wieder um? Warum klagt ihr um diese Verbindung von fünf Elementen, die von den herrschenden Göttern verlassen wurde, die nicht mehr von einer Seele bewohnt wird und die bewegungslos und steif wie Holzscheit ist? Warum trauert ihr um euch selbst? Praktiziert ihr etwa Entbehrungen mit denen ihr euch von euren Sünden reinigen könnt?

Alles kann nur durch Buße erreicht werden. Was bewirken denn eure Klagen? Tut jetzt Buße und bekommt ein Kind mit einem langen Leben. Der Tod wohnt dem Körper inne, er wird mit dem Körper geboren. Reichtum, Wein, Gold, Edelsteine, Kinder – all diese Werte haben ihren Ursprung in der Buße. Buße ist das Ergebnis von Yoga. Der Sohn wird nicht durch die Handlungen des Vaters und der Vater nicht durch Handlungen des Sohns gefesselt. Alle Lebenden sind nur durch ihre eigenen Taten, gut oder schlecht, angekettet. Alle müssen diesen gemeinsamen Weg, nämlich den Tod gehen. Was nutzt also die Trauer? Warum trauert ihr um die Toten? Die Zeit ist Meister von allem Lebenden und aufgrund ihrer Natur sieht sie mit unparteiischem Blick auf alles was sich bewegt. In der stolzen Jugend oder der hilflosen Kindheit, im hohen Alter oder im Schoss der Mutter, jeder unterliegt dem Tod. Das ist die Natur der Welt.“

Der Schakal sagte daraufhin: „Jedermann sollte sich anstrengen. Denn Bemühung und Schicksal zusammen bergen die Früchte des Lebens. Warum kehrt ihr denn so herzlos um? Bleibt hier bis die Sonne untergeht.“ Der Geier war unzufrieden und sprach: „Ich bin heute tausend Jahre alt, aber noch nie habe ich ein Lebewesen nach dem Tod wieder zu Leben erwachen sehen. Die Länge des Lebens ist zuvor festgelegt. Lasst den toten Köper des Kindes ruhen. Er hat keine tierische Wärme mehr und seine Seele wird in einen neuen Körper eintreten.“ Nach diesen Worten des Geiers beschlossen die Trauernden wiederum den Ort, an dem ihr totes Kind lag, zu verlassen. Gerade als sie weg wollten, kam der Schakal schnell hervor und sagte: „Wie? Rama, ein totes Brahmanenkind wurde wieder zum Leben erweckt. Der Sohn des königlichen Weisen Sheweta starb vorzeitig, aber dem tugendhaften König gelang es, sein Kind wieder zum Leben zu erwecken. So könnte auch in eurem Fall sein: ein Siddha (Meister mit übernatürlichen Fähigkeiten), ein Muni (Heiliger) oder eine Devata (Gottheit) mag durchaus bereit sein, euch euren Wunsch zu erfüllen und denjenigen Erbarmen zu zeigen, die so herzerweichend um ihr Kind weinen.“

Da legte die Muter den Kopf des Kindes auf ihren Schoss und alle weinten wieder herzerweichend. Schakal und Geier führten ihr Streitgespräch fort. Beide gründeten dabei ihre Argumentation auf den Schriften. Der Geier erschreckte die Eltern ohne Unterlass, in dem er über wilde Tiere, Kobolde und andere Wesen sprach, die diesen Ort nach Einbruch der Dunkelheit heimsuchen würden. Die Mutter Parvati (Gemahlin Shivas) hatte jedoch Mitleid mit den Eltern und bat Shiva er möge doch das Kind wieder zum Leben erwecken. Shiva befolgte den Rat seiner Frau und erweckte das tote Kind wieder zum Leben und dehnte dieses auf hundert Jahre aus. Die Eltern waren überrascht und überglücklich, als sie merkten, dass das Leben in den kleinen Körper zurückkehrte. Schnell gingen sie glücklich nach Hause. Sie erkannten das Werk der Götter, verehrten Shiva und beteten ihn danach immer an.

Der Schakal aber hatte gewollt, dass die Eltern bis zum Sonnen untergang blieben, damit er das Fleisch fressen könnte, ohne dass der Geier es ihm streitig machen würde. Der Geier hatte gewollte, dass sie sofort gingen, damit er das Fleisch vor Sonnenuntergang fressen könne. Beide waren demnach enttäuscht, als wieder Leben in das Kind kam. Beide waren betrogen und unglücklich. Die Mehrheit in dieser Welt ist so selbstsüchtig wie der Schakal und der Geier. Sie geben anderen gute Ratschläge tun dies aber aus selbstsüchtigen Motiven. Sie wollen ihr eigenes Süppchen kochen. Sei daher nicht leichtgläubig. Benutze immer dein eigenes Urteilsvermögen. Folge niemandem blind. Sei vorsichtig. Überlege gut.