Liebe allein kann verwandeln

In längst vergangenen Tagen lag einst ein kleiner Ashram (Aufenthaltsort eines Weisen, Zentrum religiöser Studien) bestehend aus ein paar Hütten und einem Tempel, umgeben von einem großen Garten mit Blumen, Kräutern und verschiedenen Pflanzen und Bäumen, auf einem Hügel neben einem schnell fließenden Strom am Oudh Wald weit entfernt von jeder Stadt. Es lebte dort ein Heiliger mit seinen sechs Nachfolgern. Er war ein Schüler von Gopala (ein Name für den jungen Krishna) und bezeichnete sich selbst als dessen Diener. Und so erhielt er seinen Namen, Gopaldas und der Ashram wurde der Gopal Ashram genant. Gopaldas war ein Heiliger und auch ein Kräuterkenner. Er war berühmt für seinen Edelmut, seine Güte, Reinheit, sein liebevolles Verhalten und für die erfolgreiche kostenlose Behandlung von allen Patienten ohne Unterschied, gleich welcher Kaste, welchen Glaubens, welcher Hautfarbe, ob reich oder arm.

Sein Haus war immer offen, nie verlangte er eine Gegenleistung. Spendete ein reicher Man von sich aus eine Summe Geld, so wurde fast die ganze Summe zur Herstellung von Medikamenten und zur Unterbringung und Verköstigung armer Patienten und anderer Besucher verwendet. Seine Nachfolger und er lebten jedoch von Almosen, die zwei von ihnen zusammen, immer abwechselnd, in den umliegenden Dörfern von Tür zu Tür erbettelten. Jagdish Singh, ein junger Grundbesitzer, war bekannt für seine Grausamkeit und seinen liederlichen Lebenswandel. So fürchtete er Gopaldas sehr. Seine Worte waren zwar honigsüß, aber sein Herz war bitter wie Galle. Er mochte Gopaldas nicht, spielte ihm aber immer vor, ihn zu achten, wenn sie sich begegneten.

Manches Mal schickte er sündige, boshafte und sittenlose Menschen, die Gopaldas und seinem Ashram Schaden zufügen sollten. Einige kehrten um, da sie es nicht wagten, sich dem Heiligen zu nähern. Einige gingen zwar zum Ashram, aber sobald sie Gopaldas sahen, gaben sie ihr Vorhaben auf und enthüllten ihre Absichten. Gopaldas hörte sich immer alles in Ruhe an sagte kein Wort und lächelte. Als der Grundbesitzer sah, dass all seine Bemühungen vergebens waren und seine Absichten aufgedeckt wurden, freundete er sich mit Karan Singh an, einem bekannten Dacoit (Mitglied einer bewaffneten Räuberbande) und Übeltäter, der mit seiner Bande im nahe gelegenen Wald wohnte. Beide Männer trafen sich, aßen und tranken zusammen und schmiedeten Pläne.

Gopaldas besaß ein äußerst prächtiges Pferd, das nicht nur herrlich anzusehen war, sondern auch zu einer sehr seltenen und berühmten Rasse gehörte. In allen Dingen war es eines der edelsten Pferde. Es war nicht nur von großem Nutzen für Gopaldas, er liebte es auch sehr. Eines Tages ritt Gopaldas auf dem Weg zu einem Patienten in einem entfernten Dorf durch den Wald. Karan Singh sah ihn und beschloss ihn anzugreifen, aber schon bald verließ ihn sein Mut. Als Gopaldas jedoch auf dem Rückweg war, erschien Karan Singh als lahmer Bettler am Straßenrand verkleidet und seufzte. Als der Heilige Karan Singh sah, war er so voller Liebe und Mitgefühl, dass er ihn auf seinem Pferd reiten ließ, während er selbst zu Fuß ging. Nachdem sie ein Stück Weg zurückgelegt hatten, gab der Dacoit dem Pferd die Sporen und ließ den Heiligen zurück. Mit lauter Stimme rief er:„Oh du törichter Sadhu (heiliger Mann, Einsiedler oder Bettelmönch)! Ich bin Karan Singh. Ich beschloss dein Pferd zu rauben, was ich hiermit äußerst rücksichtsvoll gemacht habe. Jetzt ist es mein und du wirst es nie wieder zurückbekommen.“ Gopaldas lachte und antwortete: „Das Pferd ist so gut ausgebildet, dass es sogar jetzt zurück kommen würde, wenn ich ihm pfeifen würde. Aber das möchte ich nicht. Ich sehe mit Freude, dass ich Gopal auf diese Weise dienen kann.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Tu mir bitte einen Gefallen, wenn es dir möglich ist.“ Karan Sing fragte streng: „Welchen Gefallen erwartest du von mir? Versuche nicht mich reinzulegen.“ Gopaldas antwortete: „Denke doch nicht so. Du kannst das Pferd haben, aber bitte erzähle niemandem von diesem Vorfall.“ 

„Was schadet es dir, wenn ich davon erzähle?“ fragte Karan Singh. „Wenn die Menschen das hören, könnten die Leute misstrauisch gegenüber den Armen und Bedürftigen werden und ihnen in Zukunft nicht mehr helfen“, sagte Gopaldas. Und mit diesen Worten ging er zurück in seinen Ashram. Seine Worte erstaunten Kran Singh jedoch sehr, der sich jetzt seines Verhaltens und seiner Tat schämte. Die ganze Nacht hindurch war er ruhelos und konnte kein Auge zu tun. Am nächsten Morgen nahm er das Pferd und ging zum Gopal Ashram, wo er wie ein Freund empfangen wurde. Er fiel Gopaldas zu Füßen und flehte ihn mit schwerem Herzen an: „Ich habe beschlossen meinen Beruf aufzugeben. Ich bitte Dich um Verzeihung, um Unterkunft und Mitgefühl.“ Gopaldas nahm ihn liebevoll in die Arme und antwortete: „Mach dir keine Sorgen. Sei ruhig. Du hast wahrscheinlich die ganze Nacht nicht geschlafen. Gehe daher zur Kutir (Hütte) und ruhe dich aus.“ Dann gab er einem seiner Nachfolger die Anweisung, für Unterkunft und Verpflegung zu sorgen. Als der Grundbesitzer davon hörte wurde er rot vor Zorn. Er beschloss nun selbst den gesamten Ashram in Brand zu stecken und Gopaldas und Karan Singh ein Ende zu machen.

So machte er sich um Mitternacht mit einigen wenigen vertrauten Dienern auf den Weg. Jagdish Singh, der Grundbesitzer, führte die Gruppe zu Pferde an. Als sie zum Fuße des Hügels kamen, auf dem der Ashram lag, befahl er seinen Männern, alle Fackeln bis auf eine zu löschen. So begann die Gruppe den Anstieg im Dunkeln. Als sie in der Nähe des Ashram waren, verlor das Pferd von Jagdish Singh plötzlich den Halt und fiel mit einem lauten Wiehern mitsamt seinem Herrn in einen Graben. Die Hunde des Ashrams erwachten und begannen zu bellen. Die Diener waren verwirrt und fürchteten sich, sie wussten nicht was sie tun sollten. Bald sahen sie einige Männer mit brennenden Fackeln auf sich zu kommen. Gerade als sie wegrennen wollten, hörten sie eine freundliche Stimme: „Fürchtet euch nicht. Ich komme, euch zu helfen.“  Gopaldas, seine vier Nachfolger und Karan Singh gelangten so zu den Männern und fragten sie, was denn passiert sei. Einer der Diener enthüllte nun die Wahrheit. Als Karan Singh dies hörte, wurde er sehr ärgerlich. Gopaldas aber stieg gefolgt von seinen Nachfolgern und den Dienern des Grundbesitzers sofort mit der Fackel in der Hand in den Graben hinab. Karan Singh blieb stehen, wo er war. Gopaldas und die andereren fanden Jagdish Singh in halb in den Ästen eines Baumes hängend, bewusstlos und schwer verletzt und dem Tode Nahe. Gopaldas trug ihn zu seiner Kutir, wusch seine Wunden, trug Heilkräuter auf und verband ihn sorgfältig.

Dann gab er Jagdish Singh etwas flüssige Medizin in seinen Mund, damit er wieder zu Bewusstsein komme und wartete an seiner Seite auf das Ergebnis. Karan Singh, der die ganze Zeit die Vorgänge mit einem seltsamen, hasserfüllten und zornigen Blick beobachtet hatte, sagte nun respektvoll zu Gopaldas: „Ich verstehe nicht, Ihr Heiliger habt so oft durch diesem niederträchtigen Jagdish gelitten und selbst jetzt versucht ihr ihn mit viel Mühe und Pflege ins Leben zurückzubringen.“ Gopaldas aber bedeutete ihm mit dem Finger, zu schweigen. Am nächsten Morgen, als die Sonne gerade aus dem Himmels - tor hervor schaute, öffnete Jagdish Singh langsam die Augen. Er schaute sich sofort um und schloss sie wieder. Gopaldas betete zu seinem Gott Gopala und dankte Ihm still. Dann verließ er die Kutir und nahm Karan Singh mit.

„Hass erzeugt Hass, wohingegen Liebe Hass in Liebe umwandelt. Es ist ein großer Unterschied, ob man andere durch die Kraft der Gewalt erobert oder durch die Kraft der göttlichen Liebe, „ sagte Gopaldas. Dann fuhr er fort: „Beide, Hass und Liebe, sind einander entgegengesetzt. Ersteres ist Gift wohingegen Letzteres göttlichem Nektar gleich kommt und seinen Segen auf beide Beteiligten ausbreitet. Während das eine den Feind vorübergehend in die Knie zwingt, unterwirft das andere ihn für immer. Liebe ist Gott und Gott ist Liebe. Liebe und nur Liebe allein kann verwandeln.“  Inzwischen kam einer seiner Nachfolger angelaufen und sagte, dass Jagdish Singh die Augen wieder geöffnet habe und vermutlich jemanden suche.

Gopaldas eilte zur Kutir, während Karan Singh und sein Nachfolger ihm folgten. Jagdish Singh konnte nicht sprechen, da sein Unterkiefer zu schwer verletzt war. Obwohl seine Augen geschlossen waren, wusste er, dass Gopalda kam, denn er hörte das leise Geräusch seiner Schritte als er den Raum betrat. Nach etwa einer Minute öffnete Jagdish Singh wieder die Augen, sah aber ganz anders aus als zuvor, es schien als brenne sein Herz und verschmelze in der Hitze seiner vergangenen Taten. Scham und Reue – diese Gedanken und Gefühle rollten in Form von schmerzlichen Tränen über seine Wangen. Er war voller Dankbarkeit und Dankesschuld gegenüber dem Heiligen, der die Verkörperung von Liebe und Vergebung darstellte. Gopaldas verstand die Gedanken und Gefühle von Jagdish, und so segnete und tröstete er ihn indem er ihm seine Hand sanft aufs Haupt legte.