Die Taube im Gefängnis

Der Rajah (Herrscher) von Tanjore lag im Sterben. Die Ärzte hatten schon jegliche Hoffnung aufgegeben. Die Mitglieder des königlichen Haushalts liefen mit kummervollen grauen Gesichtern herum und erwarteten das Ende des geliebten Herrn. Schlaflose Nächte und Ströme von Tränen hatten sie müde und stumm gemacht; ihr leerer Blick irrte öfter zum Boden als zum Gesicht des Königs. „Verschwinde du Bettler! Die größten Ärzte haben versagt. Und du willst Erfolg haben?“ dies riefen die Türwächter des königlichen Haushalts. Sie richteten ihre Worte an einen Bettler. Sie konnten nicht ahnen, dass es sich um den berühmten heiligen Raghaviah handelte. Raghaviah war ein Zeitgenosse des großen Muslims Mahatma (Ehrenbezeichnung für einen spirituellen Führer), der seither unter dem Namen Nagore Andavan bekannt ist.

Beide lebten sie das Leben von Avadhootas (Unbekleideter). Ihre fast nackten Körper standen nur „lose“ im Zusammenhang mit ihren erleuchteten Seelen und diese waren jederzeit bereit in ihre ursprüngliche süße Heimat zu fliegen. Ihre ruhigen, bärtigen Gesichter strahlten einen inneren Frieden aus, der jeden fesselte. Das Licht ihrer Augen überstrahlte auch die entzückendste Schönheit menschlicher Körper. Sie hatten eine Ausstrahlung die Aufmerksamkeit, Verehrung und Liebe erzwang. Raghaviah und Nagore Andavan waren im Herzen eins. Zusammen bewirkten sie zahlreiche Wunder. Sie heilten Kranke, brachten den Gläubigen Wohlstand und den Frommen geistige Glückseligkeit. Raghaviah blickte auf die kummerverzehrten Gesichter der Torhüter. „Kann es nicht sein, dass ein Bettler dort erfolgreich ist, wo Ärzte versagen? Sag mir, was fehlt dem König? Vielleicht kann ich doch helfen. Ich bin nicht gekommen, um zu betteln sondern um zu segnen.“ Die alte Mutter des Rajahs hörte diese ruhige, beherzte Rede des Bettel mönchs. Das mütterliche Herz klammerte sich an diesen kleinsten Funken Hoffnung, den diese scheinbar völlig unbedeutende Person ihr gab. Sie lief hinaus um den Bettler zu begrüßen. Die Torhüter schauten voller Verachtung zur Seite. Ein Ertrinkender klammert sich auch an einen Strohhalm. „Darf ich den Rajah sehen, Mutter? Vielleicht zeigt uns Gott doch einen Ausweg.“ Im inneren Kampf zwischen der Hoffnung, die der Sadhu (heiliger Mann) durch sein Vertrauen in Gott in ihr hervorrief und der Hoffnungslosigkeit, die durch seine Erscheinung verstärt wurde, brachte ihn die Mutter doch zum Zimmer des Rajah.

Raghaviah blickte still auf den Rajah. Er lächelte. Ungewollt lächelten alle um ihn herum ebenfalls; ihre Last wurde leichter. „Ich selbst kann keine Medizin verschreiben“, sagte Raghaviah. Da brachen die Frauen in Tränen aus. „Aber ich kann euch sagen, wo ihr Linderung und Hilfe findet.“ unter vielen Schluchzern bat die Mutter, „Ja, wo, bitte!“ „Ihr müsst sofort zu Nagore Andavan gehen. Ihr werdet ihn unter einem Baum im Mangrovenwald finden. Schildert ihm den Fall. Er wird euch die nötige Medizin für die Heilung des Rajah geben.“ Sofort wurde eine Abordnung eilig zu Nagore geschickt. Aber das königliche Herz der Mutter eilte um viele Kilometer voraus! Die zwar ehrenwerte aber meist doch hochmütige Mutter des Hinduistischen Königs warf sich vor die Füße des halb nackten und aschebeschmierten Körpers des Muslim Fakir, Nagore Andavan. „Bitte, rette meinen Sohn, Prabho (Name für Shiva, Vishnu)!“ rief die Mutter und umfasste die Füße des Fakirs. Der Fakir aber wandte sein Haupt ab. „Hah! Ihr lebt wie es euch gefällt und tut unzählige törichte Dinge, doch wenn ihr dann in Gefahr seid, dann erst kommt ihr zu mir.

Aber, nun gut, wirst du genau das tun, was ich dir auftrage?“ „Ja, Prabho, alles, alles was du willst.“ „Gehe sofort zurück zum Palast. An der Zimmerdecke unweit des Kopfes des Königs findet ihr einen erst vor kurzem vergipsten Fleck auf dem Flachdach. Öffnet diesen. In dieser vergipsten Stelle kämpft eine Taube um ihr Leben. Lasst sie sofort frei und dein Sohn wird gesund. Er muss wegen dieser herzlosen unüberlegten Handlung, die er beging, leiden. Der König  erleidet genau dieselben Qualen, wie diese Taube. Wenn die Taube ihren letzten Atemzug getan hat, wird auch der König im gleichen Augenblick sterben. Eile! Er wird dann überleben, aber du musst noch in diesem Augenblick ein Gelübde ablegen, niemals mehr einem Lebewesen auch nur die geringste Verletzung zuzufügen. Denke daran, dass alles Leben heilig ist. Auch eine Ameise hat dasselbe Recht ihr eigenes Leben zu leben, wie auch der höchste Brahmane. Kein Mensch hat das Recht in den Lebenszyklus eines anderen Lebewesens einzugreifen. Gehe!“

Bewaffnet mit dem Segen des Heiligen eilte die Mutter zurück zum Palast. Sie ging sofort in das Zimmer des Königs. Die Maurer mussten kommen und der Gips wurde unverzüglich entfernt. Ein erbarmungswürdiger Anblick bot sich ihnen. Da lag eine Taube im Kampf zwischen Leben und Tod, in den halbgeschlossenen Augen zeigte sich der stumme Todeskampf, der sich in dieser Totenkammer abgspielt hatte. Aber die Mutter pflegte sie wieder gesund, und der Rajah setzte sich in seinem Bett auf. Jedes Reiskorn, das die Taube aß, jeder Tropfen Wasser in ihrem Schnabel belebte auch den Rajah. Der Rajah erklärte dann: „Da war dieses Loch in der Zimmerdecke über meinem Bett. Dort wohnten Tauben drin. Immer wieder beschmutzen sie mein Bett. Ich fand sie so lästig, dass ich befahl, das Loch zu schließen.“ Seine Mutter war ungehalten. „Du wurdest durch die wunderbare Gnade des Fakir Nagore gerettet mein Sohn. Gehe sofort zu ihm. Verbeuge dich vor ihm und lege vor ihm das Gelübde ab, niemals mehr einem Lebewesen auch nur den geringsten Schmerz zuzufügen. Du darfst keine Zeit verlieren.“ Die Federn der Krone des Hindu Königs fegten den Staub von den Füßen des Fakirs. Dies war der Ursprung des Namens „Nagore Andavan“ unter dem der Heilige seit dieser Zeit bekannt ist. Nachdem der Heilige verstorben war, ließ der Rajah seinem Samadhi (Grab) einen riesigen Tempel bauen. Er schenkte dem Tempel auch große Ländereien und veranlasste, dass Tausende Tauben mit dem Ertrag dieser Felder gefüttert wurden. Dieser Brauch wurde bis heute beibehalten und der Tempel strahlt weiterhin wundersame Gnade, heilende Kräfte, Frieden, Einigkeit und Wohlstand aus. Ehre sei Nagore Andavan! Meine Verehrung.