Gottes Gnade

Narayana Prasads Mutter war gestorben. Aber entgegen allen Erwartungen war Narayana Prasad äußerst glücklich! Er lief in seinen Gebetsraum und fiel zu Füßen seiner Gottheit – Jaganatha (Beschützer des Universums) – und betete: „Ungebeten hast du mich mit Deiner Gnade überhäuft. Du hast die einzige Bindung, die mich an das irdische Leben band, entfernt. Nun kann ich Dir, nur Dir allein, ohne jede Ablenkung mein ganzes Leben widmen. Gott gib mir reine Hingabe.“ Narayana Prasad und seine Mutter waren beide glühende Verehrer von Jaganatha von Puri gewesen. Nun begab sich Narayana nach Puri. Den ganzen Weg lang sang er den Namen seines Gottes in seliger Selbstver gessenheit. Im Herzen des frommen Mannes weilte Gott. Narayana Prasad besprach sich ständig voller Vertrauen mit ihm. Er ging daher nicht in den Tempel des Jaganatha von Puri, da er ihn in sich trug.

Er ging stattdessen an das Meeresufer und gab sich der ständigen Wiederholung Seines Namens hin und meditierte über Seine Herrlichkeit. Drei Tage gingen vorüber. Narayana Prasad hatte noch immer nichts gegessen, er dachte noch nicht einmal daran. Er befand sich an einem abgelegenen Ort; es kamen keine Pilger vorbei. Er war zwar am verhungern, bemerkte es jedoch nicht, da er, so in die Wonne von Kirtan (Singen der Namen Gottes) und Meditation versunken war.

Jaganatha wandte sich an seine Gemahlin: „Lakshmi (Göttin des Reichtums, Frau Vishnus), wie schrecklich! Mein frommer Schüler verhungert dort am Ufer, und ich habe es nicht bemerkt. Ich habe meine Pflicht vernachlässigt; ich war herzlos und grausam. Er kommt seiner Pflicht – Meiner zu gedenken – so zuverlässig nach, aber ich war nachlässig mit meinen Pflichten – dem Schutz meines Schülers. Wie kann ich ihm nun gegenübertreten? Ich bin so von Scham erfüllt. Bitte geh du doch zu ihm, bringe ihm die köstlichsten Speisen und biete sie ihm an.“

Lakshmi war einverstanden. Sie nahm einen goldenen Teller und das schmackhafteste Prasad (Opfergaben). Narayana Prasad war von dieser Welt entrückt. Er war vollständig in die Anbetung des Namens seines Gottes vertieft. Lakshmi zögerte daher, ihn zu stören und ihm von Angesicht zu Angesicht entgegen zu treten. Auch sie schämte sich bei dem Gedanken, dass Gott und auch sie selbst den Schüler hatten so hungern lassen. Sie stellte daher den Teller so leise als möglich hinter dem Rücken von Narayana Prasad ab und kehrte schnell in ihr Heim zurück. Narayana Prasad hörte jedoch den Klang ihrer Fußringe und drehte den Kopf in Richtung des Geräusches. Da sah er den goldenen Teller mit dem Essen. Er sah aber niemanden, der ihn hätte gebracht haben können. Er war hungrig. Er dankte Gott für diese willkommene Gnade und aß mit Genuss den Prasad seines Gottes.

Die schlaflosen Nächte führten nun dazu, dass er nach dem Mahl sofort einschlief. Als er erwachte sah er vier kräftige und mit Stöcken bewaffnete Brahmin (Mitglieder des Priesterstandes) um sich herum. „Du elender Dieb!“ riefen sie, „Wie kannst du es wagen den goldenen Teller aus dem Allerheiligsten Gottes zu stehlen! Los! Steh auf! Du abscheuliche Kreatur. Folge uns zum Palast des Rajah (Herrscher) und empfange deine gerechte Strafe aus seiner Hand.“ Zuerst war Narayana Prasad verwirrt. „Ich habe doch diesen Teller nicht gestohlen“, dachte er, „aber warum hat derjenige, der mir das Essen auf diesem Teller brachte, ihn nicht wieder mitgenommen?“ Sogleich beruhigte er sich jedoch. Er fand, dass es nutzlos sei, irgendwelche Gedanken an das was gerade um ihn herum geschah zu verschwenden, denn dadurch würde sein Gebet nur gestört werden. Er setzte stattdessen einfach seinen Bhajan (Lobgesang) fort.

Von dieser Tat und dem ständigen Gebet war der Rajah aufs Äußerste erzürnt. Er befahl, den Angeklagten auszupeitschen. Die machthungrigen und herzlosen Diener des Königs waren hoch erfreut über diese Gelegenheit ihre Überlegenheit und Ergebenheit zu zeigen. Immer fester und härter ging die Peitsche auf Narayana Prasads Rücken nieder. Aber die Diener des Königs waren immer mehr erstaunt über das was sie sahen. Der fromme Gläubige lachte und sang die Namen Gottes. Selbst nachdem sie ihn eine halbe Stunde ausgepeitscht hatten, konnten sie noch immer keine Spur der Peitschenhiebe auf seinem Körper entdecken! Schließlich taten ihre Arme so weh, dass sie aufgaben und ihn aus dem Palast vertrieben. Narayana Prasad aber kehrte zurück an seine Wohnstatt an der Küste. Nichts kümmerte ihn. Er war weiterhin völlig vertieft in die Gedanken an seinen Gott.

Nachts kamen wieder Lebensmittel auf dem Teller, diesmal jedoch verschwand er auf geheimnisvolle Weise nachdem er gegessen hatte. Der Rajah jedoch fand in jener Nacht keinen Schlaf. Er träumte, er werde aus seinem Bett geworfen. Es war ein schrecklicher Albtraum. Immer wieder sah er das Bild Jaganathas vor sich, und er sah wie Blut aus dessen Taille strömte. Der Rajah wunderte sich. Er stand überstürzt auf, rannte hinaus und kam völlig ausser Atem zum Tempel. Er sagte den Priestern, sie sollten ihm sofort öffnen, damit er Gott von Angesicht zu Angesicht sehen könne. Er müsse einen Darschan (Gottesschau) haben. Die Priester und der König waren sprachlos, als sie sahen, wie Blut von der Taille Gottes strömte und in das Allerheiligste floß. Der Rajah verstand sofort.

Sein Herz brannte vor Scham, Reue und Verzweiflung über sein Verbrechen. Er verstand nun augenblicklich, dass dieses seltsame Ereignis in direktem Zusammenhang mit dem schrecklichen Auspeitschen des armen Bhakta (Gottergebener) am Nachmittag stand. Begleitet von seinen Dienern rannte der Rajah zum Ufer und er fiel Narayana Prasad zu Füßen. Er bat um Vergebung für seine große Torheit und bat ihn inständig, dass er, Narayana Prasad, die Wunden des Gottes heilen möge. Narayana Prasad weinte bitterlich. „Mein Gott! Oh du Meer der Barmherzigkeit! Was hast du bloß getan! Warum wolltest du diese schrecklichen Qualen für Deinen armen Verehrer auf Dich nehmen? Wieso konntest du nicht stattdessen die Diener des Rajah daran hindern mich auszupeitschen, statt diese grausame Qual auf Deinen eigenen Körper zu laden?“ Er weinte laut und schmerzlich, und in diesem Augenblick versiegte der Blutstrom.

Gott antwortete seinem Verehrer: „Narayana Prasad! wisse, du musstest gemäß deinem Prarabdha (negatives Karma) diese Bestrafung erhalten. Aber deine Liebe für mich und deine Hingabe zu mir war so groß, dass du dich mir vollkommen hingegeben hast. Es war daher meine Pflicht dich vor Verletzung zu schützen. Ich konnte jedoch dein Prarabdha Karma nicht aufheben, es musste durchlebt werden. So nahm ich die Peitschenhiebe auf meinen Körper, die deinem Körper vorbestimmt waren. Der Bhakta (Gottergebener) erhält, was gemäß seinem Prarabdha (neg. Karma) vorbestimmt ist, aber er ist davon nicht betroffen. Er muss nicht darunter leiden, weil ich meine schützende Arme um ihn lege.“ Und im strahlenden Licht Gottes, verschwand Narayana Prasad!