Goraksha Shataka

 

Vers 31: Erweckung der Kundali

 

Ist die Kundali durch den Kontakt mit dem (inneren) Feuer erwacht, indem sie willentlich vermittels des Atems in Bewegung gesetzt wurde, wandert sie mit dem Lebensprinzip (Jiva-Guna, "Lebensfaden") entlang der Sushumna aufwärts.


    प्रबुद्धा वह्नियोगेन मनसा मारुताहता |
    प्रजीवगुणमादाय व्रजत्यूर्ध्वं सुषुम्णया || ३१ ||


    prabuddhā vahni-yogena manasā mārutāhatā |
    prajīva-guṇam ādāya vrajaty ūrdhvaṃ suṣumṇayā || 31 ||

    prabuddha vahni-yogena manasa marutahata |
    prajiva-gunam adaya vrajaty urdhvam sushumnaya || 31 ||


Wort-für-Wort-Übersetzung

    prabuddhā : (ist die Kundali) erwacht (Prabuddha)
    vahni-yogena : durch den Kontakt (Yoga) mit dem (inneren) Feuer (Vahni)
    manasā : willentlich, mit dem Willen (Manas)
    mārutāhatā : vermittels des Atems ("Wind", Maruta) angestoßen, in Bewegung gesetzt (Ahata)
    prajīva-guṇam lies sā jīva-guṇam ? (s. Anm.)
    : sie (Tad)
    jīva-guṇam: dem Seelen-Faden (Jiva-Guna)
    ādāya : mit ("genommen habend", Adaya)
    vrajati : bewegt sich, wandert (vraj)
    ūrdhvam : nach oben, aufwärts (Urdhva)
    suṣumṇayā : entlang der Sushumna

Anmerkungen: Der erste Halbvers beschreibt in aller Kürze das Erwecken der Kundalini durch den "Kontakt mit dem Feuer (Agni)" und durch das "Anstoßen mit dem Atem". In diesem Zusammenhang sind zwei Verse aus der Hathayoga Pradipika (3.115-16) interessant, in denen die Erweckung der Kundalini durch die Atemtechnik Bhastrika und eine weitere Technik, die an Agnisara erinnert, gelehrt wird (Hatha Yoga Pradipika 3.115-16):

    vajrāsane sthito yogī cālayitvā ca kuṇḍalīm |
    kuryād anantaraṃ bhastrāṃ kuṇḍalīm āśu bodhayet || 3.115 ||
    bhānor ākuñcanaṃ kuryāt kuṇḍalīṃ cālayet tataḥ ... || 3.116 ||

"Der Yogi, der sich in Vajrasana befindet und die Kundali in Bewegung gesetzt hat, führe kontinuierlich Bhastrika (Bhastra) aus. So kann er die Kundali rasch erwecken. Danach praktiziere er das Zusammenziehen (Akunchana) der Sonne (Bhanu, d.h. das Einziehen des Bauches) und bewege die Kundali dadurch weiter ..." (HYP 3.115-16)

Im übernächsten Vers (HYP 3.118) wird erklärt, das der Prana dann in die Sushumna eintritt (Hatha Yoga Pradipika 3.118):

    tena kuṇḍalinī tasyāḥ suṣumṇāyā mukhaṃ dhruvam |
    jahāti tasmāt prāṇo'yaṃ suṣumṇāṃ vrajati svataḥ || 3.118 ||

"Dadurch verlässt die Kundalini gewiss den Eingang (Mukha) der Sushumna. Danach tritt die Lebensenergie (Prana) von selbst in die Sushumna ein." (HYP 3.118)

Aus dem Gesamtkontext ist klar, das das Lebensprinzip (Jiva bzw. Prana) durch die Erweckung der Kundalini in die Sushumna eintritt und durch diese nach oben geleitet wird. So heißt es auch in Gheranda Samhita 3.39:

    caitanyam ānayed devīṃ nidritā yā bhujaṅginī |
    jīvena sahitāṃ śaktiṃ samutthāpya parāmbuje || 3.39 ||

"Man führe diese Energie (Shakti), die Göttin (Devi), nachdem man sie, die (zusammengerollt wie) eine Schlange (Bhujangini) schläft, erweckt hat, zusammen mit dem Lebensprinzip (Jiva) zum höchsten Bewusstsein (Chaitanya) im höchsten (Para) Lotus (Ambuja, dem Scheitel- bzw. Sahasrara Chakra)." (GhS 3.39)

Noch eine textkritische Anmerkung zur problematischen Lesung prajīva-guṇam ādāya, die von den Editoren des Goraksha Shataka aus den Handschriften übernommen wurde. Der Begriff prajīva, der in der Edition unübersetzt bleibt, ist weder in den Wörterbüchern belegt, noch in anderen Sanskrittexten zu finden. In der Yogachudamani Upanishad, die diesen Vers nahezu identisch überliefert, lautet es in Vers 39 sūcī-vad gātram ādāya, was soviel heißt wie "wie mit einer Nadel (Suchi) den Körper (Gatra)", was vermutlich nicht der ursprüngliche Text ist. Einige Handschriften des Goraksha Shataka lesen laut kritischem Apparat ganz ähnlich: sūcīva guṇam ādāya, was hieße "wie (Iva) eine Nadel (Suchi) mit einem Faden (Guna)", was auf das "Einfädeln" des Jiva bzw. Prana in die Sushumna hinweisen könnte und vielleicht die ursprünglichste Lesung darstellt, umso mehr, als sie durch die Lesung sūcī-vad guṇam ādāya in Vers 49 der 2. Version des Goraksha Shataka gestützt wird.

Da es hier wie gesagt um Jiva, das Lebensprinzip (das auch im Sinne von Prana verwendet wird) geht, wie die angeführten Parallelstellen anderer Yogatexte nahelegen, erscheint die Lesung sā jīva-guṇam ādāya naheliegend. Das wörtlich mit "Lebensfaden" wiederzugebende jīva-guṇam greift vielleicht das Beispiel aus Vers 28 wieder auf, wo es heißt, das der Jiva von Prana und Apana gezogen wird wie ein Falke, der an einen Strick angebunden ist.