Das Yoga System

Psychologische Voraussetzungen für das Yogasystem

Zu Beginn ist es notwendig, bestimmte falsche Vorstellungen in Bezug auf Yoga zu klären; dies gilt insbesondere für den Westen. Yoga hat weder etwas mit Magie noch mit körperlichen oder mentalen Meisterleistungen zu tun. Yoga basiert auf Philosophie und Tiefenpsychologie. Es handelt sich um einen Ausbildungsprozess, bei dem der menschliche Geist immer natürlicher wird und gleichzeitig von unnatürlichen Lebensbedingungen entwöhnt wird. Yoga hat einen besonderen Bezug zur Psychologie, und, wie bei einem Studium des „Selbst“, geht es über die allgemeine und abnormale Psychologie hinaus und führt zu übernormalen Ebenen des Lebens. Im Yoga studieren wir uns selbst, wohingegen wir in den Schulen und Universitäten darauf hingewiesen werden, uns mit den Objekten zu befassen. Nicht das Studium der Dinge, sondern ein Studium der wirklichen Struktur des Schülers wird durch das Yoga-System gefordert, denn das Bekannte ist nicht vom Wissenden trennbar.

Wie lernen wir Dinge überhaupt kennen? Durch einen mysteriösen Prozess lernen wir die Welt kennen, und das Leben ist eine Aktivität in diesem Wissen. Ein Studium des Geistes ist ein Studium seiner Beziehungen zu den Dingen. Die Anweisung „Erkenne dich selbst“ deutet darauf hin, dass, wenn wir uns selbst kennen, auch alle Dinge kennen, die mit uns verbunden sind, d.h., wir kennen das Universum. In diesem Studium schreiten wir, ohne Hast und ohne die Gefühle anzuregen, vom Niederen zum Höheren immer weiter fort.

Die Welt ist das Erste, was wir bewusst erfahren. In unserem Geist finden Prozesse statt, durch die wir die existierende Welt kennen lernen. Wir haben bestimmte Gefühle, Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die unter die Kategorie der direkten Wahrnehmung oder das unmittelbare Erkennen (Pratyaksha) fallen, wobei die Welt zur Aufnahme von Beziehungen erkannt, bewertet und beurteilt wird. Diese Beziehungen bestimmen unser gesellschaftliches Leben.

Eine Anregung der Sinne wird durch Schwingungen verursacht, die von den äußeren Objekten ausgehen. Dieses geschieht in zweifacher Weise: 1. Durch die tatsächliche Gegenwart der Objekte und 2. durch die Lichtstrahlen, Klänge usw., die von den Objekten ausgehen und die Netzhaut der Augen bzw. das Trommelfell der Ohren oder andere Sinnesorgane berühren. Wir haben fünf Sinne zur Wissensaufnahme, durch die wir alle Informationen bzgl. der Welt empfangen. Wenn diese Sinne nicht arbeiten würden, hätten wir überhaupt keine Kenntnis von der Welt. Darum leben wir in einer Sinnenwelt. Wenn die Sinne durch Schwingungen von außen angesprochen werden, werden wir aktiv. Die Aktivität der Sinne regt den Geist durch das Nervensystem an, das die Sinne über die Lebensenergie mit dem Geist verbindet. Wir können die Kanäle der Nerven mit elektrischen Drähten vergleichen, durch die die Lebensenergie (Prana) fließt. Prana ist eine innere Schwingung, die die Sinne mit dem Geist verbindet. Darum aktivieren die Gefühle den Geist und vermitteln das Gefühl, dass draußen etwas ist. Dieses kann als unbestimmte Wahrnehmung angesehen werden, wo der Geist eine ereignislose Wahrnehmung von einem Objekt hat. Wenn die Wahrnehmung klarer wird, wird sie eindeutig. Diese mentale Wahrnehmung wird als Erkenntnis bezeichnet.

Jenseits des Geistes befindet sich der Intellekt. Er entscheidet, ob etwas gut oder schlecht, nötig oder unnötig oder von dieser oder jener Art ist. Er entscheidet über den Wert eines Objektes, ob dieses Urteil positiv oder negativ, moralisch, ästhetisch oder religiös ist. Man beurteilt die eigene Situation in Bezug auf das Objekt. Einige Psychologen halten daran fest, dass der Geist ein Instrument in den Händen des Intellekts ist. Manas ist dafür das Wort im Sanskrit, was sich auf Karana oder das Instrument bezieht, wohingegen Buddhi im Sanskrit der Begriff für Intellekt ist, der der Handelnde oder der Karta ist. Der Intellekt beurteilt, was durch den Geist erkannt wurde und entscheidet dann je nach Art der Handlung, die bezogen auf das Objekt und die Begleitumstände eingeleitet werden muss.

Der Intellekt ist mit Ahamkara oder dem Ego verbunden. Aham bedeutet ‚ich‘, und kara ist das, was offenbart, enthüllt oder bestätigt. In uns ist etwas, das uns bestätigt: ‚Ich bin‘. Diese Bestätigung ist das Ego. Das Ego bedarf logischerweise keiner Beweise, denn wir beweisen nicht unsere eigene Existenz. Dieses ist eine innere Bestätigung, die keines Beweises bedarf, denn alle Logik geht von ihr aus. Das Ego ist vom individuellen Intellekt untrennbar, so wie Feuer von Hitze nicht trennbar ist. Der Intellekt und das Ego sind untrennbar, und der menschliche Intellekt ist das ausführende ‚Organ‘ des Egos. Die Arbeitsweise des Egos ist vielfältig, und dieses formt das Subjekt der Psychologie.

Die psychologischen Instrumente arbeiten in Bezug auf die Objekte auf verschiedenerlei Weise. Das Ego, der Intellekt und der Geist sind zusammen für das Funktionieren von Anmaßung, Verständnis und die Gedanken über die Objekte verantwortlich. Es gibt noch ein viertes Element, Chitta genannt, das nicht direkt aus dem Sanskrit übersetzbar ist. Der Begriff ‚Unterbewusstsein‘ wird als sein Äquivalent angenommen. Das Unterbewusstsein ist die Basis für den bewussten Geist und beinhaltet das Gedächtnis. Doch in der Yogapsychologie beinhaltet Chitta auch den Teil, den man in der ‚Psychoanalyse‘ als das Unterbewusstsein ansieht. All diese Funktionen zusammengenommen machen die Psyche oder Antahkarana als das interne Instrument aus. Dieses interne ‚Organ‘ arbeitet auf verschiedene Art und Weise, und Yoga ist an ein sorgfältiges Studium interessiert, denn die Yogamethoden befassen sich letztendlich mit allen psychischen Funktionen.

Wie funktioniert nun dieses innere Organ? Die Psyche erzeugt fünf Reaktionen in Bezug auf die äußere Welt, einige davon sind positiv andere wiederum negativ. Dieses sind die Themen der allgemeinen Psychologie.

Antahkarana kann bezüglich des normalen Lebens in fünf Funktionen untergliedert werden. Diese Funktionen werden als Pramana, Viparyaya, Vikalpe, Nidra und Smriti bezeichnet.

Pramana oder rechtes Wissen ist das Bewusstsein über die Dinge, wie sie sind. Dieses ist das Hauptthema für die Studien im Bereich der Logik. Die Wahrnehmung, die Schlussfolgerung und die verbale Aussage sind die drei Hauptbestandteile des rechten Wissens. Einige fügen den Vergleich, die Anmaßung und die Nichtverhaftung solchem Wissen hinzu. Woher wissen wir, dass sich vor uns ein Objekt befindet? Wir beziehen dieses Wissen direkt durch die Berührung der Sinne mit dem Objekt. Dieses ist Wahrnehmung. Und wenn wir aufgewühltes schmutziges Wasser im Fluss sehen, dann nehmen wir an, dass es in den Bergen geregnet hat. Dieses Wissen entstammt unserer Schlussfolgerung. Die Worte anderer, denen wir auch vertrauen, klingen für uns wie Wahrheiten, wenn wir beispielsweise der Aussage eines Freundes Glauben schenken, dass sich in der nächsten Stadt ein Elefant befindet, obwohl wir den Elefant nicht mit eigenen Augen gesehen haben. All diese Methoden zusammengenommen bilden den Begriff Pramana oder den direkten Beweis des abhängigen Wissens.

Viparyaya bedeutet falsche Wahrnehmung oder fehlerhafte Einschätzung der Dinge, so, als würden wir im Zwielicht ein langes Seil als normale Schlange ansehen, oder als würden wir einen im Wasser untergetauchten geraden Stock als krumm ansehen, wobei der falsche Eindruck durch die Lichtbrechung an der Wasseroberfläche entsteht. Wenn wir etwas wahrnehmen, was nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, ist das Gefühl dafür verantwortlich.

Vikalpa bedeutet Zweifel. Wenn wir uns nicht sicher sind, ob etwas, was wir beispielsweise sehen, ein Mensch oder ein Pfahl ist, oder ob sich etwas bewegt oder nicht, dann ist die Wahrnehmung nicht klar, oder wenn wir gedanklich zweifeln, dann sagt man, man befände sich in Vikalpa.

Nidra bedeutet Schlaf, was man als eine negative Voraussetzung oder als ein Zurückziehen des Geistes von allen Aktivitäten betrachten kann. Der Schlaf ist dennoch eine psychologische Situation, denn, obwohl man unter dieser Bedingung nicht mit den Objekten der Welt positiv verbunden ist, so offenbaren sich doch latente Eindrücke und mögliche objektbezogene Gedanken. Nidra ist der Schlaf der Antahkarana.

Smriti bedeutet Gedächtnis, die Erinnerung an vergangene Ereignisse und die Erhaltung der Erfahrungen, die durchgemacht wurden.

Alle Funktionen der internen Organe können dem einen oder anderen Prozess zugeordnet werden, und das Subjekt der allgemeinen Psychologie ist ein Zusammenwirken des menschlichen Denkens, Verstehens, Wollens oder Fühlens. Es bedeutet jedoch nicht, dass wir nur fünf Gedankenformen unterliegen, sondern die Vielzahl der Gedankenformen des Geistes können diesen fünf Gruppen zugeordnet werden. Das Yogasystem setzt bei seinen Studien diese inneren menschlichen Strukturen in Beziehung zum Universum.