Der Aufstieg des Geistes

 
 
   24 Das unendliche Leben

Das Leben ist weder ein geschichtlicher Ablauf noch eine Wissenschaft, sondern ein Rätsel, das gewaltiger ist, als es irgendein Wert sein könnte, mit dem man es wahrscheinlich gleichsetzt. Die Bedeutung des Lebens liegt weder in einem Muster, das mit einer Folge zeitlicher Ereignisse vergleichbar ist, die wir allgemein als Geschichte bezeichnen, noch kann man es mit einer mathematisch berechenbaren Gleichung oder mit dem System der Induktion und Deduktion gleichsetzen, aus denen sich folgern ließe, daß bestimmte Ursachen bestimmte Wirkungen haben. Das Leben ist nichts dergleichen. So trotzt es jeglichem Versuch, seine Bedeutung einzuschätzen und zu beurteilen, der auf traditionellen und stereotypen Vorgehensweisen basiert, da diese ja allesamt Ergebnisse einer historischen oder mathematischen Haltung sind, die man in der Abwägung gewöhnlicher Probleme des Lebens einnimmt. Die wechselseitige Verbundenheit und der organische Charakter der unzähligen Aspekte, die die Bedeutung des Lebens bilden, machen es einem isolierten Individuum beinahe unmöglich, die Geheimnisse des Lebens zu untersuchen, da jede individualistische Annäherung an das Leben ein Versuch wäre, es den empirischen oder traditionellen Vorstellungen einer dreidimensionalen Annäherung an die Dinge zu unterwerfen, was genau der historischen oder mathematischen Denkweise entspräche. Es ist diese irrige Annäherung, die das Lebenssystem in die mechanisierte Form einer Ethik von Geboten und Verboten verwandelt hat, die ihrerseits eine Begleiterscheinung der allgemeinen mechanistischen Haltung ist, die man dem Leben gegenüber einnimmt. Da das Leben keine Maschine ist, muß jedes System, das allgemeingültige Denk- und Verhaltensmuster festlegt, der Wahrheit des organischen Charakters der Existenz widersprechen, der ja die Essenz des Lebens ausmacht.

        Im selben Moment, in dem sich das Individuum in einer Welt der Raum-Zeit-Beziehungen wiederfindet, beginnt das individuelle Bewußtsein sofort damit, die Bedeutung des Lebens als Maschine mit stereotypem Arbeitsablauf zu interpretieren und zu beurteilen, die jeder Person und Sache einen auf ewig gültigen Wert gibt. Dies hat zur Folge, daß die Evolution und der Fortschritt des Individuums durch die Lebensprozesse hindurch in der starren Form der “festgelegten Örtlichkeit” aller Dinge verkrustet, was einem gewaltigen Irrtum entspricht, dem zufolge zu einer gegebenen Zeit alles nur an einem Ort und in einem Zustand sein kann, ohne dabei eine lebendige Beziehung zu anderen Dingen und eine Bedeutung für die sich ändernden Umstände der äußeren Atmosphäre zu haben. Dieses irrige Verständnis von sich und den eigenen äußeren Beziehungen hat das Leben zu einem unergründlichen Etwas gemacht, das noch nie auf eine seiner Natur oder inneren Struktur gemäßen Weise betrachtet wurde. Dies hat zur Folge, daß man sein ganzes Leben damit verbringt, Irrlichtern zu folgen, ohne jemals seinen Anfang zu kennen, oder sein Ziel, auf das es sich hin bewegt.

        Man erklärt uns, daß das Universum ursprünglich ein einziges unendliches Atom war, das in der  mystischen Geschichte Indiens als Brahmanda oder “Kosmisches Ei” bekannt ist; daß es sich selbst geteilt hat und sich diese zwei Teile wiederum immer weiter in die unzähligen Individuen geteilt haben, die man nun als Personen, Dinge oder Objekte bezeichnet. Dies ist der Grund dafür, daß jeder Teil um die Vereinigung mit einem anderen Teil kämpft. Die Teile können nämlich nicht zur Ruhe kommen, es sei denn als Aspekte innerhalb des Ganzen, das in seiner Vollständigkeit in jedem Teil gegenwärtig ist und sich in allen oder durch alle Teile Anerkennung erzwingt. Jeder Teil sucht nur das Ganze.

        Die Teile versuchen jedoch irrtümlicher weise, sich über einen nach außen gerichteten, räumlich-zeitlichen und psychologisch-physischen Kontakt mit den Objekten zu vereinigen, indem sie diese mit ihren Sinnen und ihren Egos berühren. Dieser Versuch muß jedoch scheitern, da sich nichts, auch nicht ein einziges Objekt, außerhalb der universellen Selbstheit des Bewußtseins befindet, in der jedes sogenannte Objekt nur einen Aspekt der Selbstheit darstellt. Folglich kann die ersehnte Vereinigung mit den Objekten nur dann erfolgreich sein, wenn diese selbst zum Subjekt werden, das sich nach ihnen sehnt - und das ist letztendlich das universelle Subjekt.

        Aus der Einheit der Natur erwachsen räumliche Unterscheidung und zeitliche Ausdehnung, die das ursprüngliche Prinzip der Isolierung einer Sache von der anderen darstellen; sowie die Trennung von Individualität als einem lokalisierten “Subjekt” empirischer Erfahrung, das sich die gesamte Natur, aus der es hervorging, als ein “äußeres Objekt” gegenüberstellt. Daraufhin plaziert das Individuum auch andere solche Individuen als seine Objekte vor sich, womit es zu einer Umkehrung der Position des Bewußtseins kommt: Das Objekt wird sozusagen zum Subjekt, da sich das Subjekt auf das Objekt überträgt, damit es “außen” das kontaktieren kann, was den Mängeln entspricht, die es in der eigenen psycho-physischen Form erfährt. Und so eilt das individuelle Subjekt, das sein eigenes Selbst im “anderen” sieht, in dessen Richtung und kämpft darum, sich mit ihm zu vereinen. Das Selbst kann nämlich nur das Selbst lieben.

        Über die Abstufungen des körperlichen Selbst, des Objekt-Selbst, Ego-Selbst, Familien-Selbst, Gemeinde-Selbst, Nationen-Selbst, Welt-Selbst und Universal-Selbst hindurch kämpft das Bewußtsein darum, sich alles einzuverleiben, was es sieht, riecht, hört, berührt oder schmeckt. Dies geschieht mit der offensichtlichen Absicht, den Objekten nahe zu sein, so daß deren Verschmelzung mit dem eigenen Selbst notwendigerweise das letztendliche Ziel sein muß. Das größte Glück erfährt man dann, wenn das Objekt zum Subjekt wird. Das Bewußtsein stürmt nach draußen, um sich mit seinem Inhalt zu vereinigen, wenn dieser von ihm getrennt erscheint, und so kommt es zu dem quälenden Verlangen des Bewußtseins, sich zur Reproduktion der eigenen Form mit seinem abgetrennten Inhalt zu vereinigen, um sich so zu verewigen. Es ist die Tragödie des Lebens, daß das Subjekt darum kämpft, seine körperliche und psychologische Form über den sinnlichen Verkehr der zeitlichen Bestandteile seiner sterblichen Individualität zu verewigen, anstatt zu erkennen, daß es in allen Dingen gegenwärtig ist.

        Das universelle Sein ist als Virat bekannt. Virat oder der universelle Körper ist eine in sich integrierte Ganzheit, in der alle “Gesichtspunkte” die Herrlichkeit eines einzigen universellen “Gesichtspunkts” darstellen. Aus der allumfassenden und alles vereinigenden Ebene des Seins, dem Virat, wählt das Bewußtsein einen bestimmten “Gesichtspunkt” aus und wird damit zum individuellen Selbst. Auf diese Weise entstehen die zahllosen, voneinander getrennten Individuen, deren Erfahrungsinhalte jeweils auf einen individuellen “Gesichtspunkt” beschränkt sind.

        Direkt darunter haben wir die niedrigere Ebene des Fühlens, Denkens, Empfindens und Wollens, in der sich das Bewußtsein bestimmte Muster aussucht, die zu Objekten der Wahrnehmung und der Erkenntnis heraus gearbeitet werden und zum Inhalt des gewöhnlichen menschlichen Bewußtseins werden. Dies ist die Ebene des Sinnes- oder Trieblebens, auf der man sich eifrig mit der Zubereitung der Nahrung beschäftigt, die man zu verzehren wünscht, wobei dieser Akt selbst auf einer noch niedrigeren Ebene stattfindet, wo das Bewußtsein danach verlangt, die Formen physisch durch Sinneskontakt in sich aufzunehmen und sich dadurch mit ihnen zu vereinigen. Die Wirkung, die sich aus der Aufspaltung aus dem Virat ergibt, endet nicht nur in der Wahrnehmung von Individuen durch Individuen, da in dieser Vielheit verborgen bereits die Wurzeln für weitere Tendenzen liegen, wie Hunger nach physischer Nahrung und Verlangen nach Sinneskontakt. Sobald die Einheit des Virat-Bewußtseins verlorengegangen ist, kämpfen die abgetrennten Teile darum, sich durch eine nach außen gerichtete leidenschaftliche Suche wieder zu vervollständigen. Dies ist die Sehnsucht der Individuen nach Selbstvervollständigung und der brennende Durst, der die Seele aus sich heraustreibt, um die gesamte Welt zu durchstreifen, Nahrung zu suchen und alles zu verzehren, was ihr begegnet. Dieser Durst, diese Gier ist nicht nur eine psychologische Funktion der Triebe des Individuums, sondern die Essenz der Konstitution des Individuums. Es ist dieser tosende Ansturm der Sinne und dieses fundamentale Verlangen des Individuums, das das schreckliche Gesetz der Natur erklärt, das einen dazu zwingt, das eigene Leben durch Zerstörung fremden Lebens zu erhalten, indem man dieses entweder, wie in der Liebe, in sich aufsaugt oder, wie im Haß, auslöscht. Welch verrückte Wahrheit, die verkündet, daß die schlimmsten aller tragischen Szenen ebenfalls nur Manifestationen der Neigung zu Einheit und Untrennbarkeit aller Dinge sind! In den Formen, die das Leben im Abwärtssog der nach außen gerichteten Leidenschaften angenommen hat, kann das Individuum die innere Einheit jedoch nicht erkennen, die letztlich die wahre Ursache hinter jedem Gedanken, hinter jedem Gefühl und hinter jeder Handlung ist.

        Virat ist kein mechanistisches System mit äußeren Beziehungen, sondern eine organische Einheit, in der die Personen und Dinge eher im Bewußtsein gegenwärtig sind, als vom Bewußtsein wahrgenommen zu werden. Nur in diesem Bewußtseinszustand kann man wahre Kontrolle über alles haben, und nicht, indem man Objekte wahrnimmt. Im letztgenannten Fall würden diese Objekte nämlich “außen” und somit jenseits des eigenen Einflußbereichs verbleiben. Zuerst zieht man sich von den Klishta-Vrittis zurück und dann von den Aklishta-Vrittis. Während im ersten Schritt eine Unterwerfung des Verlangens nach Objekten stattfindet, vermeidet man im zweiten Fall sogar die Möglichkeit, diese als etwas “Äußeres” wahrzunehmen. In diesem zweiten Zustand steht das Universum der Objekte nicht nur in Beziehung zum Bewußtsein (da dies auch nur Wahrnehmung wäre), sondern verschmilzt in die innerste Essenz des Bewußtseins, und zwar nicht im Sinne der Vereinigung zweier Dinge, sondern im Sinne des “Wiedererkennens” der zugrunde liegenden Einheit der Existenz. Und es ist eine Tatsache, daß die Leidenschaften des Egos und der Sinne nicht abklingen können, solange die Aklishta-Vrittis noch bestehen. Ein erfolgreicher und wahrer Rückzug der Sinne besteht demnach nicht darin, die Augen vor den existierenden Objekten der Anziehung zu verschließen, sondern darin, deren Bedeutung auszulöschen, indem das Bewußtsein deren “Sein” selig in sich umarmt. Dies ist die Vereinigung des Sat der Dinge mit dem Chit des Erfahrenden, was gleichzeitig auch eine Flut von Ananda[30] bedeutet, von der die gesamten Sinnenfreuden des Universums nicht einmal träumen können.

        All dies ist für den genußsüchtigen Menschen jedoch ein wahrer Alptraum, da es so aussieht, als würde man durch diesen erforderlichen Rückzug von allen konzentrierten Freudenzentren, Objekte genannt, abgeschnitten. Für die Sinnenfreuden klingt dies alles wie das Läuten der Totenglocken, und so bemüht sich für gewöhnlich auch niemand ernsthaft um diesen unabdingbaren Rückzug. Der Glanz der Formen und der Geschmack des Elixiers der relativistischen Kontakte wirbelt derartig viel Staub auf und lärmt in solchem Maße, daß das “ozeanische Innere” nicht wahrgenommen wird. Die Spritzer des giftvermischten Nektars, der aus dem berstenden Überfluß an innerer Glückseligkeit durch die Poren der Sinne hervor sprüht, hält die gesamte Schöpfung in gebannter Verzückung. Und der Mensch eilt lieber hinaus, um die fernen, auf die äußeren Formen hin gespritzten Tropfen zu erhaschen, die mit dem Gift der “Äußerlichkeit” aller Sinnesgenüsse vermischt sind, als danach zu suchen, woher all diese süße Herrlichkeit kommt. In der Geschichte von “Amritamanthana” spalteten sich die Schlangen die Zungen, weil sie an dem scharfkantigen Gras leckten, auf dem der Topf mit dem himmlischen Nektar stand, dessen bloßer Duft bereits ausreichte, um die Seele aller Sinne wie in einem Sturzbach des Verlangens anzuziehen. Ebenso ergeht es auch dem begehrenden Individuum, dem die Sinne lediglich berieselt, ausgelaugt und aller Vitalität beraubt werden, während es den Nektar der Freude in den stachligen Formen der Objekte dieser Welt sucht. Der menschliche Kampf um die Freude, die man dem Leben abgewinnen möchte, ist ein tägliches “Amritamanthana”. O weh! Die Dämonen der Sinne erhalten nichts als das rauchende Gift des Gefühls, von ihren Vergnügungszentren weggerissen zu werden. Dieses läßt ihre Herzen nach Luft ringen, da sie das Gefühl haben, von dem quälenden Ansturm des nach oben drängenden Schmerzes um den Verlust der Berührung mit den Objekten ihrer Freude erstickt und getötet zu werden. Sowohl die Götter des himmlischen Strebens als auch die Dämonen der Sinne sehnen sich nach Nektar, wobei ihn letztere in der Welt der Objekte suchen. Der Nektar kann jedoch nicht gefunden werden, wo er nicht ist, und die Dämonen bekommen statt des Nektars der Befriedigung lediglich das Gift des Leidens. Der Nektar kann in keinem Objekt eingefangen werden.

        Da dieser Nektar des Absoluten nicht in einen Topf oder ein Gefäß abgefüllt ist, das irgend jemand für sich alleine beanspruchen kann, quillt er als universelle Flut hervor, die alles und jeden verschlingt, die schmutzigen Hütten der aus Lehm geformten Körper zerstört und die Erde für alle Zeiten von all ihren Sünden befreit! Die freudentrunkene Seele sprengt die zu engen Ketten. Sie schluchzt, weint und tanzt in wahnwitziger Glückseligkeit, wobei niemand weiß, was sie geschaut hat! Wer könnte auch beschreiben, was hier geschaut wird? Die Sprache verstummt, das Denken steht still. Die Sonne, der Mond und die Sterne verblassen in dieser göttlichen Strahlung. Die Galaxien schmelzen und die vierzehn Welten taumeln in diese lodernde Herrlichkeit, die alles im Bruchteil eines Augenblicks in Wellen der Glückseligkeit verwandelt, die in der Freude der Begegnung von Seele mit Seele und im Eintauchen aller Seelen in die eine Seele, gegeneinander schlagen.

        Das majestätische Virat spielt innerhalb seiner selbst und schafft sich in dem Ganzen, das es ist, selbstbedingende Gesetze. Mit seinen unzähligen Zentren, die alle ein eigenes vollständiges Ganzes sind und die alle zugleich als Köpfe, Augen, Ohren, Hände, Füße, Gedanken, Münder und Zungen innerhalb und außerhalb aller Dinge dienen, betrachtet es sich selbst, wobei es alles erschafft, erhält, einschließt, ausdehnt, zusammenzieht und aufsaugt. Es betrachtet seine eigene Herrlichkeit, ohne dabei seine Selbst-Herrschaft als Integralität einzubüßen, in der die Abspaltung eines Objekts unmöglich ist, das es dann durch ein äußeres Zusammentreffen in einem Raum berühren müßte, der eine wirkliche Vereinigung mit etwas, das tatsächlich anders ist als es selbst, niemals zulassen würde. Es existiert als eine ewig aktive kosmische Kunst des dynamischen Tanzes der unendlichen Glückseligkeit, die wir in der gewaltigen Schönheit der Schöpfung nicht einmal erahnen können und in der eine Vielfalt von Erfahrungen in der unteilbaren Verzückung von Selbst-Erkenntnis in allem und Selbst-Vereinigung mit allem abläuft. Alles ist zu jeder Zeit überall und in jeder Form - eine hinreißende Szene, von der Qual der Seelen in die innere Selbstheit des unbegrenzten Seins zu verschmelzen, in einer Erfahrung des “ich bin ich und nichts anderes”! Dies ist das Wunder aller Wunder, das Wunder dessen, was ist! Erst hier sind alle Wünsche wirklich erfüllt und niemals zuvor.