Der Aufstieg des Geistes

 
 
   20 Die Suche nach dem Geist

Die Suche nach dem Geist ist eher die Suche nach einer Bedeutung als die Suche nach einer Substanz oder einem Objekt. Dies ist der wichtigste Punkt der gesamten spirituellen Suche. Wir begehen oft den Irrtum zu glauben, daß wir auf unserer Suche nach Gott eine Sache, eine Person, ein Objekt oder eine Substanz suchen. Obwohl unsere Vorstellungen von Gott oder dem Geist auf unserer Suche nach ihm eine gewisse Bedeutung haben, sind all diese Vorstellungen äußerst unzureichend im Vergleich zur Wahrheit und Wirklichkeit, da wir genaugenommen nach etwas suchen, das tiefer liegt als das, was an die Oberfläche unseres Bewußtseins gelangt. Um den Unterschied zwischen dem, was “Bedeutung”, und dem, was “Sache” oder “Substanz” ist, klarzumachen, kann man folgende konkrete Beispiele anführen: Wenn wir nach Nahrung verlangen, sieht es allem äußeren Anschein nach danach aus, als benötigten wir irgendeine Substanz. Wenn wir sagen: “Ich brauche etwas zu essen”, so denken wir dabei vielleicht an etwas Reis, Weizen, Gemüse, Butter, Milch und dergleichen - Dinge, die im allgemeinen als Nahrung verstanden werden. Hinter diesem Verlangen nach Nahrung steckt jedoch eine Bedeutung, die uns nicht immer klar ist. In Wahrheit sind es nämlich nicht die Nahrungsmittel, nach denen wir verlangen, sondern die Bedeutung, die hinter diesen verborgen liegt. Nahrungsmittel sind in unserem persönlichen Leben von Bedeutung in Hinsicht auf unser physisches Wohl. Hätten diese Speisen nämlich keinerlei Bedeutung für unsere körperliche Existenz, so würden wir sie auch nicht benötigen.

        Wann immer wir ein Objekt betrachten, lesen wir eine Bedeutung in dieses hinein. Es “bedeutet” uns etwas. Nun ist uns diese Gewohnheit, eine Bedeutung in die Dinge hinein zu lesen, so vertraut, daß wir auf keine andere Art mehr denken können. Wir denken nicht zuerst, um dann die Bedeutung herauszulesen. Das Denken und das Lesen der Bedeutung gehen Hand in Hand. Oder, um es anders auszudrücken: das Denken und das Empfinden arbeiten in unserer Wahrnehmung simultan. Sobald wir über ein Objekt nachdenken, empfinden wir ihm gegenüber auch etwas. Mit anderen Worten heißt dies, daß wir ein Objekt im Sinne der Bedeutung erkennen, die es unserem Leben vermittelt. Diese Bedeutung ist es, die unserer Aufmerksamkeit auf unserer Suche nach Werten im Leben entgeht, denn in Wirklichkeit verlangen wir zutiefst nach Werten und nicht nach Objekten oder Dingen.

        Die Bedeutung hinter den Nahrungsmitteln ist das Stillen des Hungers. Und genau das ist es, was wir brauchen - nicht bloß Säcke voll Reis. Es ist nun einmal so, daß ein Samenkorn namens Reis, wenn es in einer bestimmten Menge und auf eine bestimmte Art und Weise mit unserem physischen Körper in Berührung kommt, in der Lage ist, den Zustand einer biologischen Reaktion zu befriedigen, den wir als Hunger bezeichnen. Und es ist nun einmal so, daß dieses bestimmte Ding (Reis) diese besondere Wirkung auf uns hat. Andernfalls bräuchten wir nämlich etwas anderes.

        Es ist also nicht das Objekt, nach dem wir suchen, sondern nur der Wert, der in dem Objekt verborgen liegt. Dies gilt auch für Geld. Was wir brauchen, ist nicht der materielle Gegenstand an sich, sondern dessen Fähigkeit, uns mit Kaufkraft zu versorgen. Und das nennen wir dann Geld. Es geht nicht um Gold und Silber oder um Banknoten, sondern um die Bedeutung, die sich dahinter verbirgt. Und ebenso steht es auch mit allen anderen Dingen in dieser Welt. Hinter unserem Verlangen nach Dingen, hinter unserer Beziehung zu Dingen und hinter der Art und Weise, wie wir reden, wie wir uns in der Gesellschaft verhalten, wie wir denken, fühlen und handeln, steckt immer eine Bedeutung. Alle diese Dinge haben eine verborgene Bedeutsamkeit und genau die ist es, die wir wirklich suchen. Unglücklicherweise verwechseln wir diese Bedeutung mit der äußeren Form eines Objekts, so daß es danach aussieht, als wären wir eher auf der Suche nach Objekten als nach Werten. Doch dem ist nicht so. Selbst wenn wir in unserer Alltagssprache die Frage stellen: “Worin besteht der Geist dieser Lehre?”, machen wir zwischen den Buchstaben und dem Gehalt der Lehre einen Unterschied. So gibt es den Buchstaben des Gesetzes und den Geist des Gesetzes. Die Worte, die ich spreche und der Geist, in dem ich spreche, sind verschieden. Selbst im Alltag benutzen wir den Begriff “Geist”, um damit eher eine Bedeutung, als eine äußere Form zu bezeichnen, die ein bestimmtes Verhalten annimmt.

        Und wie im gewöhnlichen Leben, so verhält es sich auch in unseren kosmischen Beziehungen. Wie bei den oben angeführten Beispielen von Nahrungsmitteln oder Banknoten, hinter denen eine Bedeutsamkeit steht, befindet sich auch hinter unserer eigenen Existenz als Individuum ein Geist. Und es ist allein dieser Geist, den wir benötigen, und nicht die Dinge als solche. Wenn die Bedeutung fehlt, werden wir uns auch nicht darum bemühen.

        Es gibt einen Geist, den wir inmitten all der Aufmerksamkeit heischenden Einzelheiten verloren haben. Obwohl wir das Wort “Geist” schon oft gehört haben, halten wir es noch immer für ein Objekt. Wenn wir dem spirituellen Pfad folgen, müssen wir lernen, ein wenig unpersönlicher zu denken. Wir sind zu sehr mit Persönlichkeiten, Dingen und Gegenständen verbunden gewesen, so daß wir uns daran gewöhnt haben, nur noch in Begriffen körperlicher Einheiten zu denken. Wir können nicht unpersönlich denken, und es ist auch ziemlich schwierig. Ob es sich um meine, diese oder jene Person handelt, stets denken wir in persönlichen Begriffen. Das Unpersönliche ist hinter allen persönlichen Einschätzungen der Dinge verborgen, und es ist ausschließlich das Unpersönliche, das wir suchen, selbst in den Personen. Das “Allgemeine” ist im “Einzelnen” verborgen; das Unpersönliche befindet sich hinter allen Formen. Das Ungeteilte ist in allen Individualitäten gegenwärtig. In unseren Bestrebungen kann man einen allmählichen Aufstieg von den niederen zu den höheren Einzelheiten verzeichnen, wobei die höheren Einzelheiten für die niedrigeren vorübergehend das Allgemeine und Universelle sind.

        Auf der Suche nach dem Geist des Lebens suchen wir nicht nach irgendeinem vorhandenen Objekt, denn der Geist ist kein Objekt. Um noch einmal auf unser Beispiel zurückzugreifen: Der Geist des Gesetzes ist nichts, was man mit den Augen sehen kann, und trotzdem wissen wir, was es bedeutet. Der Geist hat eine unfaßbare Bedeutsamkeit, die sich nicht unseren Sinnen mitteilt, sondern einem unserem Sein verwandten Etwas. Der Geist der Dinge kann mit den Sinnen nicht wahrgenommen werden und wird selbst vom Verstand nicht richtig beurteilt, da dieser immer in Kooperation mit den Sinnen arbeitet. In unserer eigenen Individualität gibt es etwas, das man durchaus als die Bedeutung unserer eigenen Existenz bezeichnen könnte. Was wir mit “uns” oder “ich” meinen, ist die verborgene Bedeutung hinter dem, was wir selbst zu sein glauben. Dieser Vergleich kann auch auf unsere Persönlichkeit angewendet werden. Der Geist meines Seins unterscheidet sich von meiner körperlichen Existenz.

        Wenn ich nach dem Geist suche, wonach suche ich dann? Was ist Spiritualität? Spiritualität ist jener Zustand des Bewußtseins, in dem man mehr nach dem Geist der Dinge verlangt als nach deren Form oder Körper. Man interpretiert die Dinge nicht mehr in objekt- und personenbezogenen Begriffen, so daß die Bewertungen des Lebens nicht mehr von Personen und Dingen abhängen. Man lernt eher vom Standpunkt des Allgemeinen und Universellen aus zu denken, als vom Standpunkt der Einzelheiten und körperlichen Existenzen. Dies also wäre Spiritualität, wobei es gleichgültig ist, in welchem Grad sie sich äußert, sei es auch der niedrigste.

        Spirituell zu sein bedeutet, in zunehmendem Maße von einem allgemeineren Standpunkt aus zu leben statt von einem speziellen, was bedeutet, daß man damit beginnt, in der eigenen Existenz auch andere Werte einzuschließen, wozu man bis dahin nicht in der Lage war. Im gegenwärtigen Stadium unserer körperlichen Existenz ist unsere Wahrnehmung jedoch auf unsere körperlichen Bedürfnisse beschränkt. “Mein Hunger”, “mein Durst”, “meine Müdigkeit”, “meine Schwierigkeiten”, “meine Probleme” - all dies beschäftigt unsere Aufmerksamkeit in einem solchen Ausmaß, daß wir die Grenzen unserer körperlichen Bedürfnisse nicht überschreiten können. Dies ist der niedrigste Aspekt des menschlichen Lebens, in dem die eigenen Gedanken und Gefühle dermaßen auf die körperliche Hülle beschränkt sind, daß es darüber hinaus keinerlei Gedanken und Empfindungen mehr gibt. Sobald man jedoch dazu fähig wird, die Bedeutung des Lebens anderer Menschen zu erkennen, und zwar eher in bezug auf deren Geist, als auf ihre Form, und wenn man gleichzeitig lernt, die eigenen persönlichen Werte mit den im Moment als außerhalb befindlich erscheinenden Werten zu verbinden, dann vergrößert sich das eigene Selbst. Was wir das Selbst nennen, ist nichts anderes als der Geist, der in uns und in allen Dingen und Wesen wohnt. Wenn wir vom Selbst sprechen oder wenn wir über das Selbst nachdenken, halten wir es wahrscheinlich für eine Art Substanz. Philosophen haben die Seele oft als eine Substanz definiert. Sie ist aber keine Substanz; zumindest nicht im Sinne von irgend etwas, das wir begreifen könnten. Sie ist kein greifbares Objekt. Sie ist jenseits der Sinne, wie unsere heiligen Schriften unermüdlich wiederholen. Die Bedeutung unserer Persönlichkeit und die Bedeutung der gesamten Schöpfung ist übersinnlich. Daß sie übersinnlich ist, bedeutet, daß man sie nicht sehen kann, sie nicht mit den Händen fühlen kann, sie auch nicht riechen kann, hören oder schmecken, und daß man keinerlei verstandesmäßige Beziehung zu ihr haben kann. Ebenso steht es mit dem Geist der Dinge.

        Nun, wer will den Geist eigentlich begreifen? Was verstehen wir überhaupt unter einem spirituellen Leben? Sollte der Geist die Bedeutung des Lebens sein und diese Bedeutung ihrerseits so abstrakt sein, dann kann sie für die Sinne keinerlei Wert haben und müßte für diese also bedeutungslos sein. Der Geist des Lebens ist in unseren eigenen Körpern anwesend. Er ist nicht weit von uns entfernt und folglich ist es uns möglich, den Geist des Universums in seiner Gesamtheit zu erreichen; allerdings nicht über die Sinne oder über den Intellekt, sondern über etwas, das wir sind. Das, was wir sind, ist die Bedeutung, die uns innewohnt. Wir sind die Träger einer ewigen Bedeutung. Diese in uns verborgene ewige Bedeutung ist es, was wir sind. Es ist nicht die vorübergehende, in unserem Alltagsleben erworbene Bedeutung, die wir als unser eigenes Selbst bezeichnen können. Diese ist nämlich nur eine örtlich begrenzte Anpassung, aber nicht unsere wahre Bedeutung.

        Würde man uns alle körperlichen und psychologischen Beziehungen entziehen, als was würden wir verbleiben? Das wäre unsere wahre Bedeutung! Hätten wir keinen Körper und keinen Verstand, mit dem wir denken können, in was für einem Zustand würden wir uns dann befinden? Welcherart wären die Beziehungen, die wir vielleicht mit anderen Existenzen aufnehmen würden? Vermutlich sind wir außerstande, eine solche Möglichkeit zu überdenken. Denn wie könnte man ohne Körper und ohne Verstand existieren? Wie sollte so etwas möglich sein?

        Doch genau dieses Mysterium ist die Bedeutung des Lebens und somit das, was wir als den “Geist der Dinge” bezeichnen. Wenn man über diesen “Geist der Dinge” nachdenkt, kann man leicht zu der Schlußfolgerung gelangen, daß er eher einer abstrakten Vorstellung gleicht, als irgend etwas Substantiellem. Er scheint eher eine psychologische Interpretation  zu sein, als etwas körperlich Kontaktierbares, da wir ja daran gewöhnt sind, mit Objekten in Kontakt zu kommen, über deren Existenz hinaus wir nicht zu blicken gelernt haben. Der Geist ist jedoch keine Abstraktion; vielmehr sind die sogenannten gegenständlichen Objekte eine Abstraktion von ihm. Wenn man den Geist berührt, so berührt man keinen leeren Raum oder ein nicht existierendes Etwas. Da man “ihn” nicht denken kann, liest man jedoch eine Abstraktion in “ihn” hinein. Die “Existenz” aller Dinge kann als der “Geist” aller Dinge angesehen werden. Nimm allen Dingen ihre Existenz, was sind sie dann? Wenn dir dein Verstand sagt, daß der Geist nur eine Abstraktion ist und daß die Objekte wesentlich gegenständlicher sind, dann versuche ihm zu antworten: “Verstand, mein lieber Freund, der Geist ist die ‚Existenz‘ von allem, was du als gegenständlich erachtest.”

        Was bleibt von diesen gegenständlichen Substanzen minus ihrer Existenz übrig? Befreie alle Dinge von ihrer Existenz und es bleibt nichts weiter übrig als Nichtexistenz. Ihre Gegenständlichkeit verschwindet. Die sogenannte Gegenständlichkeit, Greifbarkeit, Härte, Dinghaftigkeit, Festigkeit und so weiter ist lediglich eine Art Gefühl, mit der die Sinne auf den Geist reagieren. Und das bezeichnet man dann als “Greifbarkeit”. In dieser Welt gibt es jedoch keine greifbaren Objekte. Wir unterliegen einer Täuschung, denn wir berühren den Geist sogar dann, wenn wir feste Objekte wie etwa einen soliden Tisch berühren, auch wenn es ganz anders aussieht. Dieses sogenannte “Ding”, das uns anzieht und uns das Gefühl vermittelt, ein greifbares Objekt zu berühren, ist der Geist selbst. Die Dinghaftigkeit und Festigkeit des Objekts entstammt der wechselseitigen Reaktion zwischen dem Geist im Inneren und dem Geist im Außen, was in Raum und Zeit fälschlicherweise unterschieden wird.

        Die Welt ist ein von Raum, Zeit und Kausalität aufgeführtes Drama. Gäbe es diese drei Faktoren nicht, dann gäbe es auch keine Welt. Ohne die von Raum, Zeit und Kausalität vorgespielte Täuschung gäbe es weder die Welt noch Objekte, Personen oder Dinge. Es ist dem Verstand nicht möglich zu begreifen, warum die Welt mit diesen drei Faktoren gleichgesetzt werden kann, da wir doch unentwegt die Festigkeit der Dinge wahrnehmen. Außer Raum und Zeit sehen wir in den Objekten eine Festigkeit, die jedoch vom Geist herrührt, der sich im Raum und in der Zeit maskiert. Wenn es den Geist nicht gäbe, gäbe es auch keine Festigkeit. Die Substantialität des Geistes ist fester (falls man eine solche Bezeichnung überhaupt verwenden kann) als die festeste Substanz. Der Grund dafür, daß diese Substanz hinter allen Substanzen, diese Bedeutung hinter allen Bedeutungen, als ein äußeres Objekt erscheint, obwohl es dies in Wirklichkeit nicht ist, liegt darin, daß Raum, Zeit und Kausalität ihr übles Spiel treiben.

        Der Geist ist in zwei Teile gespalten; in den Sehenden und das Gesehene. Der Sehende ist der Geist, und das Gesehene ist ebenfalls der Geist. Der Geist sieht sich in allen Wahrnehmungen selbst. Aufgrund der Einmischung von Raum und Zeit sieht es wie die Wahrnehmung eines Objekts aus. Nimm dem Raum-Zeit-Komplex seine trügerische Bedeutung und du wirst die Wirklichkeit des Universums vor dir erblicken. Der hartgesottenste Denker wird davor zurückschrecken, sich entlang dieser Linien zu bewegen, da sich der Verstand nicht von den Raum-Zeit-Beziehungen befreien kann. Anhänger der Vedanta-Philosophie und anderer Philosophen haben uns erklärt, daß nur Gott allein existiert. Es gibt keine Welt! Die Welt ist nichts anderes als das Angesicht Gottes. Wie ist das möglich? Es kann nur dann möglich sein, wenn Objekte, die sich vor uns befinden, den Geist Gottes in sich beherbergen, und zwar selbst jetzt, in all ihrer sinnlich wahrnehmbaren Äußerlichkeit. Und wäre uns Gott nicht so nah, wäre Er nicht so wirklich, dann wäre es uns unmöglich, an Ihn zu denken, nach Ihm zu suchen oder nach Ihm zu streben.

        Da Gott unserem eigenen Sein so nah ist, ist es uns unmöglich, auszuruhen und in Frieden zu verweilen. Unser Verlangen nach ihm ist unwiderstehlich. Wäre Gott ein fernes Objekt, dann würden wir uns Zeit damit lassen können, an Ihn zu denken. Wir würden sagen: “Laßt uns morgen weiter sehen.” Er ist jedoch eine solch dringende Notwendigkeit, daß wir sie nicht bis morgen aufschieben können! Gott ist uns näher als unsere eigene Kehle, und wir können ihn nicht auf morgen verschieben. Er ist von so unmittelbarer und dringender Notwendigkeit, daß wir uns zu allererst Ihm widmen müssen und uns erst dann mit anderen Dingen beschäftigen können.

        In unserem Bedürfnis nach Gott verwechseln wir den Geist aller Dinge jedoch mit Objektivität und rennen deshalb mehr den Objekten hinterher als dem dahinterstehenden Geist. Während unser Verlangen aufrichtig sein mag, ist unsere Gier nach den Dingen töricht. Die Absicht ist gut, doch die Handlung ist verblendet. Dies ist Samsara, und der spirituelle Sucher muß unter Aufwendung all seiner Willenskraft seine Viveka-Sakti[24] anwenden, um zwischen dem Geist und den Formen des Lebens unterscheiden zu können. Da wir einer sinnlichen Denkweise anhängen, führen uns die Formen in Versuchung. Unglücklicherweise sind wir in eine Sinnenwelt hinein geboren, in der wir nur lernen, wie man sich nach außen wendet, aber nicht, wie man nach innen schauen kann. Die Sinne können nur das wahrnehmen, was sich außerhalb ihrer selbst in Raum und Zeit befindet, nicht aber ihren eigenen Ursprung.

        Wenn sich das Denken in seinen eigenen Grund zurückzieht, seine Jagd durch Raum und Zeit beendet und schließlich in sich selbst Ruhe findet, so wie das aufgewühlte Wasser, das man in Ruhe abstehen läßt, dann wird sich auch der Schmutz absetzen, der einen Teil seiner Handlungen bildet, und es wird in der Lage sein, das zu reflektieren, was sich hinter ihm befindet. Wir sind anscheinend so sehr mit den Dingen beschäftigt, daß wir nicht mehr wissen, daß wir Augen besitzen. Was ist dieses Sehen, mit dem wir so beschäftigt sind? Hätten wir keine Augen, wie könnten wir dann sehen? Aber gibt es irgend jemanden, der seine Augen sehen kann, oder jemanden, der daran denkt, daß er Augen hat? Denken wir jemals daran, daß wir zwei Augen besitzen, außer vielleicht wenn sie schmerzen? Wir sind so sehr damit beschäftigt, durch diese Augen zu blicken, daß wir keine Zeit mehr dafür aufbringen, überhaupt daran zu denken, daß wir Augen haben. Wir beuten sie vollständig aus. Genauso steht es mit Gott und mit dem Geist. Es ist der Geist, durch den wir alles tun, was wir tun; es geschieht ausschließlich durch ihn, daß wir alles sehen, hören und tun können, mit einer Ausnahme: Er selbst kann nicht gesehen oder gehört werden.

        Es ist schwierig, ein Beispiel dafür zu geben, was der Geist ist. So wie wir ohne Augen nichts sehen können, können wir ohne den Geist, der hinter allem steht, nichts sehen, geschweige denn überhaupt existieren. So wie wir unseren eigenen Rücken nicht sehen können, können wir auch die Existenz Gottes nicht sehen. Es gibt keine Augen, die auf den Rücken blicken können. Die Augen, die nur in eine Richtung blicken können, sehen nicht, was sich hinter ihnen befindet. Der Geist oder Gott des Universums ist so nahe, daß man nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde dafür benötigen würde, ihn zu schauen. Doch das erfordert offene Augen für ihn und man darf nicht an ihm vorbei oder von ihm weg blicken. Man muß die Augen, die in eine Richtung blicken, lehren, nicht in eine besondere Richtung des Raumes zu schauen, sondern das zu sehen, was sich hinter allem befindet, und das ist der Ursprung, der alles übersteigt. Es gibt ein Licht, das durch die Augen scheint, doch die Augen beschäftigen sich so sehr mit den Lichtstrahlen, daß sie die Lichtquelle, die sich hinter diesen Strahlen befindet, nicht erkennen können. Ähnlich verhält es sich mit einem Spiegel, der die Objekte vor ihm reflektiert, sobald Sonnenlicht auf ihn fällt. Der Verstand und die Sinne empfangen das Licht des Selbst, beziehungsweise den Geist, und mit Hilfe dieses Lichtes erblicken sie die Objekte dieser Welt. Dabei wissen sie jedoch nicht, daß es dieses Licht gibt. Wenn man bei Tageslicht auf ein Objekt blickt, weiß man, daß sich das Objekt vom Tageslicht unterscheidet. Man sieht das Objekt aufgrund des Lichtes, das auf das Objekt fällt. Man sieht das Objekt aufgrund des Lichtes und kann dennoch keine Unterscheidung zwischen dem Licht und dem Objekt vornehmen. Das Licht, das auf das Objekt scheint, wird mit ihm derartig identifiziert, daß es zu einer Verwechslung zwischen dem Objekt und dem Licht kommt und niemand spricht je davon, daß der Lichtaspekt vom Objekt verschieden ist.

        Ebenso verhält es sich mit unserer Wahrnehmung der Dinge. Das Licht des Atman, des einen Geistes, wirkt auf die Objekte der Welt ein und läßt uns deren Gegenwart wahrnehmen. Die Verständlichkeit einer Sache rührt von dem Licht des Selbst her, das durch den Verstand und die Sinne strahlt. Wir vermischen dieses Licht jedoch mit der Objektivität dessen, was wir sehen; und ebenso wie wir keine Unterscheidung zwischen dem Sonnenlicht und dem Objekt vornehmen, auf das das Licht scheint, machen wir auch keinen Unterschied zwischen der Welt und dem Licht, das uns die Wahrnehmung der Welt überhaupt erst ermöglicht. Dieses Licht von der Objektivität zu extrahieren und den Geist von der äußerlichen Wahrnehmung zu unterscheiden, würde bedeuten, die Essenz zu verstehen.

        Wenn man versucht, die Dinge vom Standpunkt des Geistes aus zu verstehen, wird man erkennen, daß alle Dinge eine einheitliche Bedeutung annehmen, so wie das Sonnenlicht allen Objekten gegenüber gleich ist. Das Sonnenlicht macht keinen Unterschied: “Ich scheine auf einen Tempel” oder “Ich scheine auf eine Toilette.” Die Sonne scheint auf alles. Und ebenso verhält es sich mit dem Geist hinter den Dingen. Der Unterschied, den wir machen, beruht auf unserer Unfähigkeit, zwischen Licht und Schatten zu unterscheiden. Sobald man jedoch damit beginnt, vom Standpunkt dieser Allgemeinheit hinter den Objekten aus zu denken, wird man feststellen, daß die Objekte eine einheitliche Struktur und Bedeutung annehmen; und die eigenen Zu- und Abneigungen gegenüber bestimmten Dingen werden an Intensität verlieren. Man beginnt, in den Geist der Dinge einzudringen. Erst hier versteht man die Bedeutung von Objekten und Leben als Ganzem. In dieser Erkenntnis der Verwandtschaft des eigenen Geistes mit den äußeren Objekten erweitert sich das Bewußtsein so sehr, daß der einzige Beweis dafür in einer inneren Erfahrung von äußerstem Frieden besteht.

        Woran erkennt man, daß sich das eigene Bewußtsein erweitert hat? Wenn sich das Bewußtsein erweitert, vergrößert sich auch das Gefühl der Freiheit, womit zur gleichen Zeit auch die eigene Freude zunimmt. Je umfangreicher die Aktivität des Geistes ist, desto größer ist auch das Freiheitsempfinden sowie die Freude, die man erfährt. Woran erkennt man, daß man auf dem spirituellen Pfad voranschreitet? Der einzige Test ist die Freiheit, die man in sich empfindet; und zwar die Freiheit von den Fesseln anderer objektiver Existenzen, sowie eine im Herzen empfundene einsame Freude. Dies allein kann als Beweis für den eigenen Fortschritt im spirituellen Leben herangezogen werden. Wenn man absolut allein ist und keine Dinge da sind, mit denen man sich beschäftigen kann, wenn keine Personen in der Nähe sind, die einen sehen wollen; wenn man sich in der Abgeschiedenheit seines eigenen Zimmers befindet und das empfundene Glücksgefühl dabei am stärksten ist, könnte dies unter Umständen auf den eigenen Fortschritt auf dem spirituellen Pfad und auf inneres Wachstum hindeuten. Sollte die eigene Freude dagegen nur durch Kontakte und durch die Begegnung mit anderen Menschen zunehmen oder in dem selben Ausmaß wachsen, indem wir herumlaufen, um immer andere Dinge zu sehen, dann wäre dies kein Hinweis auf das eigene Wachstum im spirituellen Bereich.

        Je intensiver man allein ist, desto näher ist man seinem Geist. Dieses Alleinsein verspricht eine größere Befriedigung als alle Kontakte, die man in seinem sozialen Leben knüpfen kann. Der Geist kommt mit nichts in Berührung als mit sich selbst, und seine Freude kann durch Kontakte nach außen nicht erhöht werden. Vielmehr schränken alle Kontakte seinen Ausdruck ein. Die Freuden des Geistes werden durch Sinneskontakte vermindert. Dies ist der Grund dafür, warum wir in dieser Welt unglücklich sind. Wir denken, daß wir durch Sinneskontakte glücklicher werden; nein; wir werden nur noch unglücklicher, da wir den Ausdruck des Geistes durch den Kontakt mit Dingen einschränken. Der Geist ist universell. Wollen wir ihn an Einzelheiten binden? All unsere Bemühungen, mit Personen und Dingen in Kontakt zu kommen, sind jedoch nichts anderes als ein Versuch, das Universelle an das Einzelne zu binden, was uns der Geist sehr verübelt.

        Da die Menschen den universellen Geist in die kleinen Objekte der Welt abzufüllen versuchen, sind sie natürlich auch unglücklich. Der Rückzug in den Geist ist der Rückzug in das alles durchdringende Universelle, das als Geist des Lebens in allen Objekten der Welt gegenwärtig ist und Gott genannt wird. Gott ist das höchste Absolute hinter allen Dingen, und wenn man den Pfad des Geistes beschreiten will, muß man darauf achten, nicht den Pfad der Sinne zu beschreiten, während es dem äußeren Anschein nach so aussehen mag, als bewegte man sich tatsächlich in die Richtung des Geistes. Öffentliche Anerkennung ist kein Beweis für den eigenen Fortschritt. Selbst wenn einen die ganze Welt als Retter der Menschheit preist, wäre dies noch lange kein Beweis für den eigenen Fortschritt, da einen die Menschen womöglich nicht wirklich verstehen oder als Projektionsfläche für ihre falschen Vorstellungen benutzen. In jedem Fall würde es sich dabei jedoch nur um einen weiteren Kontakt handeln, den man als Beweis für die eigenen Errungenschaften heranzieht.

        Kontakte können körperlicher oder psychologischer Natur sein. Sie alle sollten auf der Suche nach dem Geist vermieden werden, wobei die psychologischen Kontakte weitaus gefährlicher sind als die körperlichen. Es ist das Denken, das die Verheerung anrichtet. Der Geist, der an Sinnesobjekte denkt, ist heimtückischer als der Körperkontakt. Wenn das Denken zum Stillstand kommt, verliert der körperliche Kontakt seine Bedeutung. Folglich sollten alle psychologischen Kontakte zu Objekten zurückgezogen werden. Wenn man in diesem Rückzug der Sinne und der Gedanken eine Auflösung aller inneren Spannungen verspürt und durch das Hinabsteigen auf den Grund des eigenen Seins in der Einsamkeit des eigenen Lebens eine Freiheit und Glückseligkeit empfindet, von der die Welt nur träumen kann, dann lebt man wirklich ein spirituelles Leben. Wenn man keine Kontakte pflegt, von niemandem gesehen wird und dennoch glücklich ist, wäre dies tatsächlich ein Beweis für die eigene Spiritualität. Fühlt man sich dagegen wie ein Fisch auf dem Trockenen, nur weil man keine Gesellschaft hat, dann wäre dies das Gegenteil davon.

        Da der Geist stets allein ist, braucht er niemanden und niemandes Hilfe in dieser Welt. Er ist so vollkommen und vollständig, daß man seiner Größe und Erhabenheit auch nicht einen Millimeter hinzufügen  kann, selbst wenn man die Existenz der vor ihm stehenden Objekte vervielfacht. Das gesamte Universum ist vor ihm nicht mehr als eine Null. In der Arithmetik stellt man vor eine Reihe von Nullen eine Zahl, um ihnen damit überhaupt erst eine Bedeutung zu geben; und die dem Universum voranstehende und dadurch Bedeutung gebende Zahl ist der Geist selbst. Er mag eine Eins sein; doch ohne diese Eins gäbe es nichts als lauter Nullen!

        Das wäre die Welt ohne den Geist. Und was für die Welt gilt, hat auch Gültigkeit für die eigene Bedeutung, nachdem man in den Geist eingetreten ist. Deshalb sollte kein spiritueller Sucher an der falschen Vorstellung verzweifeln, er würde in seiner einsamen Annäherung an den Geist vielleicht die Freuden der Welt verlieren. Denn dem ist nicht so! Die Freuden der Welt sind nämlich die in einer verzerrten Form verteilten Freuden des Geistes. Es genügt bereits ein wenig von dem Nektar, den der Geist über die Sinnesobjekte ausgegossen hat, um uns in Versuchung zu führen, die Objekte der Anziehung zu kosten. Die Objekte sehen nur deshalb so anziehend aus, da sich der Geist über sie ergossen hat. Ohne seine Anwesenheit wären sie absolut wertlos - nichts weiter als Leichen. Wenn man allein vor dem Geist steht, steht man vor dem Absoluten, dem, was in allen Dingen universell gegenwärtig ist, dem, was die Bedeutung hinter allen Objekten ist, nach denen man irrtümlich strebt. Man kann sich vorstellen, was Gott ist, was der Geist ist und wie logisch es eigentlich ist, daß man glücklich sein sollte, wenn man wirklich allein ist! Dieses Alleinsein ist nicht das körperliche Alleinsein wie etwa bei einem Aufenthalt in der Antarktis. Es ist die Einsamkeit des Bewußtseins, wo es sich in sich selbst versenken kann. Dies wäre die wahre spirituelle Unabhängigkeit und somit das Ziel, auf das der Sucher all sein Denken ausrichten und all seine Bemühungen im Yoga lenken sollte.