Der Aufstieg des Geistes

 
 
   19 Der Geist der spirituellen Praxis

Die Selbstlosigkeit einer Handlung sollte nach dem Ausmaß beurteilt werden, in dem diese für die universelle Struktur der Dinge von Bedeutung ist. Sie hat weder mit meinem Denken, noch mit deinem oder irgend jemandes Denken zu tun. Das Wesen der Wahrheit hängt nicht vom menschlichen Denken oder Empfinden ab. Sie besitzt eine eigenständige Existenz und bestimmt in ihrer außerordentlichen Überlegenheit, in ihrer majestätischen Universalität und in ihrem Fassungsvermögen selbst die Gedanken und Gefühle der Menschen - und nicht andersherum. Es ist seltsam, daß der Mensch die Angewohnheit hat zu glauben, daß Wahrheiten vom menschlichen Denken bestimmt werden, oder noch schlimmer, vom eigenen individuellen Denken. Das Menschliche kann nicht einfach zum Göttlichen werden, nur weil die Menschheitsgeschichte bereits einen zeitlichen Prozeß von mehreren Jahrtausenden durchschritten hat. Das Göttliche ist eine qualitative Transformation der allgemeinen Bewußtseinshaltung und keine quantitative Kalkulation logischer Schlußfolgerungen. Wenn die Wahrheit von uns Besitz ergreift, denken und beurteilen wir sie nicht mehr auf die uns eigene Art und Weise, sondern nehmen an ihrem Sein Teil, was etwas völlig anderes ist als das, was wir als Wahrheit, Recht, Gerechtigkeit, Güte, Tugend und Rechtschaffenheit definieren.

        Es macht kaum einen Unterschied, ob jemand dem Pfad der Hingabe oder dem Pfad der Erkenntnis folgt. Spirituelle Sucher, sowohl die wirklichen als auch diejenigen, die sich nur dafür halten, verschwenden ihre Zeit oft damit, sich über Angelegenheiten zu streiten, die für die spirituelle Praxis belanglos sind und den Sucher dabei dennoch in den trügerischen Glauben versetzen, daß er seine Zeit äußerst gewinnbringend nutze. Dies soll jedoch nicht heißen, daß es überhaupt irgend jemanden geben kann, der gar keine Fehler begeht, da ein jeder Schwächen hat, die sogar so schwerwiegend sein können, daß man sie unmöglich in nur einem Leben ausmerzen kann. Da die eigenen Schwächen oft in die eigene Wesensnatur verwoben sind, können sie nur dann erlöschen, wenn die betreffende Person stirbt. Trotzdem sollte man sich angesichts der Gegenwart einer solchen Schwäche nicht davon entmutigen lassen, stets richtig zu handeln. Wollte man nämlich auf den Zeitpunkt warten, an dem man sich von allen Mängeln befreit hat, um erst dann mit der spirituellen Praxis zu beginnen, würde dies der Situation gleichkommen, auf den Stillstand der Wellentätigkeit im Ozean zu warten, um erst dann ein Bad zu nehmen. Das Leben ist ein fortwährender Kampf, ein endloses Leiden, eine Abfolge von Ärgernissen, Qualen und Sorgen, wobei ein Problem dem anderen folgt, noch bevor dieses gelöst ist. Unter diesen Umständen können wir uns getrost mit der Tatsache abfinden, daß ein jeder irgendwelche Schwächen hat und wir auch nicht besser sind als die anderen. Nicht selten fühlen wir uns nämlich nur schon deshalb erhaben und überlegen, weil wir einen kleinen Schritt nach oben getan haben und nun andere sehen, die auf einer niedrigeren Stufe stehen als wir. Die bloße Gegenwart des Kleineren läßt uns groß erscheinen. Wir geben uns mit einem Bild der Welt zufrieden, das von unseren Gedanken, die nirgends etwas Gutes sehen wollen, völlig schwarz gefärbt ist. Dies sind die Fallstricke, in denen sich der Geist eines spirituellen Suchers verfangen kann, was auch tatsächlich oft genug geschieht. Sie scheiden im gleichen Zustand aus dieser Welt, in dem sie geboren wurden, und das trotz aller Bemühungen, die sie anfänglich auf sich nahmen, als ein Funke von Sattva[21] in ihnen wirkte, da dieser Funke von den Stürmen des Lebens sehr leicht ausgeblasen werden kann.

        Der Geist der spirituellen Praxis, mit dem man dem “inneren Pfad” folgt, ist wichtiger als die äußere Form, mit der sich die meisten Leute normalerweise beschäftigen. Der eine verbringt den ganzen Tag damit, Rosenkranzperlen zu zählen, und glaubt, damit seine spirituelle Praxis getan zu haben. Ein anderer besucht den Tempel, läutet die Glocken, macht einige Übungen und liest verschiedene Bücher, um die Stunden seines Tages auszufüllen, was ihn glauben läßt, eifrig mit seiner spirituellen Praxis beschäftigt zu sein. Nun, all dies ist die äußere Form der spirituellen Praxis, die auch sehr notwendig und innerhalb ihres Rahmens durchaus angebracht ist. Sie verliert jedoch ihre eigentliche Bedeutung, wenn sie des Geistes beraubt ist, in dem sie ursprünglich ausgeübt werden sollte. Man sollte sich vergegenwärtigen, daß die spirituelle Praxis keine körperliche Aktivität ist, die man in der Welt äußerlich ausführt, sondern ein Geisteszustand, ein Zustand des Denkens und ein Bewußtsein, in dem man lebt. Angenommen, irgend jemand wiederholt ein Mantra[22] 10000 mal am Tag, wobei sein Herz mit Groll, Frustrationen, Vorurteilen und Eifersucht erfüllt ist, dann wird ihm diese Rezitation in keiner Weise helfen. Alle Handlungen sind Symbole einer inneren geistigen Haltung, und wo diese innere Haltung fehlt, ist die Handlung als solche bedeutungslos. Die Mehrheit der spirituellen Sucher verliert sich in der Wildnis irregeleiteter Gedanken und Ideologien. Dies ist genau der Grund dafür, warum man in seiner spirituellen Praxis sehr häufig keinen Erfolg verzeichnen kann, obwohl man sich jahrelangen Übungen unterzogen hat, die vielleicht sogar mit großartigem Enthusiasmus durchgeführt wurden, jedoch nicht im notwendigen Geist.

        Es ist schwer, jemandem klarzumachen, daß der Geist der spirituellen Praxis von der Intensität bestimmt wird, mit der man nach der Gotteserfahrung strebt. Diese Tatsache ist dermaßen schwer zu begreifen, daß für gewöhnlich selbst ein ständig wiederholter Hinweis auf diesen Punkt keinerlei Wirkung auf den spirituellen Sucher hat. Wir haben die Worte “Gott” und “Verwirklichung” schon so oft gehört und sie im Alltag viel zu leichtfertig benutzt, so daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Bedeutung verloren haben. Gold wird jedoch nicht allein dadurch billiger, daß man seinen Namen tausendmal täglich ausruft. Sein Wert liegt in ihm selbst. Unsere spirituelle Routine wird sich letztendlich als nutzlos erweisen und keinerlei substantielle Bedeutung haben, wenn wir sie nicht mit dem Ideal der Gotteserfahrung aufladen. Maya[23] arbeitet auf verschiedene Arten. So verhindert sie bei dem einen, daß er auch nur einen einzigen richtigen Schritt unternimmt. Schon zu Beginn der beabsichtigten Bemühung wirft sie einem gewaltige Hindernisse in den Weg. Dies geschieht, wenn es Widerstand seitens der Verwandtschaft gibt oder die eigene körperliche Verfassung schlecht ist oder es an den lebensnotwendigsten Grundbedürfnisse mangelt. Aber Maya kann dem Sucher auch dadurch entgegentreten, daß sie ihn falsche Schritte unternehmen läßt und ihn dabei in der Illusion festhält, er bewege sich in die richtige Richtung. Dies ist noch weitaus schlimmer als die erstgenannten Probleme, da man in diesem Fall nicht einmal erkennen kann, daß man getäuscht worden ist. Die meisten Leute können es nicht verhindern, in diese Grube zu fallen, die Maya für jeden gegraben hat. Die schlimmste Form der Täuschung nimmt Maya jedoch dann an, wenn die Menschen in ihrer Annäherung an das Absolute ein ethisches Dogma oder eine traditionelle Routine der sozialisierten Religion für die spirituelle Bedeutung schlechthin halten.

        An dieser Stelle muß noch einmal darauf aufmerksam gemacht werden, daß es dem Menschen unmöglich ist, das Ideal der Gotteserfahrung, das den geistigen Hintergrund der spirituellen Praxis bildet, Zeit seines Lebens gleichmäßig aufrechtzuerhalten. Selbst von großen Heiligen wird berichtet, daß sie trotz ihrer Bemühungen, diesen Geist ununterbrochen aufrechtzuerhalten, irgendwann einmal ihre Geduld und ihr Gleichgewicht verloren haben. Es gibt niemanden, der den Klauen des Irrtums völlig entkommen ist, die einem jeden in Form von Gier, Ärger, Lust, Eifersucht, Verwirrung, Melancholie, Lethargie oder subtiler Sehnsucht nach Ruhm und Macht wie eine Schlange auflauert. Der schlimmste Irrtum zeigt sich jedoch in dem Gefühl, das ersehnte Ziel bereits erreicht zu haben und zu glauben, die einzige Aufgabe bestehe nun darin, die eigene Erfahrung mit anderen zu teilen. Viele Sucher, die sich anfangs aufrichtig dem spirituellen Pfad widmeten, haben sich später in den Schlingen des Wunsches nach übernatürlichen Kräften verfangen, die man durch Mantras und Rituale erlangen kann, oder in dem heftigen Verlangen danach, sich in Grammatik, Literatur, Astrologie oder Handlesen zu vertiefen. Dabei ist es nicht einmal so, daß an diesen Strebenden irgend etwas grundsätzlich verkehrt gewesen wäre, denn ihr Kummer liegt nur darin, daß sie keinen geeigneten Lehrer gefunden haben, der sie in den Verwirrungszuständen hätte führen können, die sie in den Zeiten der Hoffnungslosigkeit befallen haben.

        Kommen wir nun jedoch noch einmal auf das Ideal der Gotteserfahrung zurück, jenes mysteriöse Etwas, das für den Verstand so schwer zu begreifen ist, da es ihm keinen Anreiz bietet. Normalerweise wird niemand von der wahren Bedeutung des Begriffs “Gotteserfahrung” angezogen. Für viele ist “Gotteserfahrung” nur eine verschwommene Phrase, die keinen nennenswerten praktischen Sinn vermittelt, und für andere wiederum ist sie eine Wahrheit mit zweifelhaftem Wert, da ihnen nicht klar ist, was sie ihnen wirklich bescheren wird. Unglücklicherweise glauben viele Sucher, daß ihnen die Gotteserfahrung nichts von all den Dingen verschaffen wird, die man sich in der Welt normalerweise wünscht, da man als Voraussetzung für diese Erfahrung dazu aufgefordert wird, alle Wünsche aufzugeben und nichts außer Gott zu wollen. Wie jedoch sollte man nur noch nach Gott verlangen können und nichts mehr von dem begehren, was in der Welt glanzvoll, schön, herrlich und erfreulich ist? Was bringt es einem ein, Gott zu erreichen, wenn man dabei alles andere verliert, an dem man sich erfreuen möchte? Obwohl man vielleicht theoretisch zu dem Schluß kommen mag, daß Gott das einzig erstrebenswerte Ziel sein muß, kann sich das Herz, das daran gewöhnt ist, die Freuden dieser Schöpfung zu sehen und von ihnen zu hören, nicht mit der trockenen Logik anfreunden, die in all den leckeren Dingen nichts Gutes sieht, die das Universum samt seiner Himmelreiche anzubieten bereit ist. Dies sind die Tatsachen, denen ein jeder auf seinem Weg zur Gotteserfahrung gegenüberstehen muß, und es ist nicht leicht, diesen Versuchungen zu widerstehen, solange sich das Herz nicht mit dem Verstand vereint. In den meisten Fällen sind der Kopf und das Herz wie ein streitendes Pärchen, das die Familie zur Hölle werden läßt. Solange die beiden nicht gemeinsame Ziele haben und zusammenarbeiten, um ein höheres Ideal zu verfolgen, kann es keinen Frieden geben.

        Sowohl die Sucher auf dem Pfad der Hingabe als auch jene auf dem Pfad der Erkenntnis sollten sich an einen sehr wichtigen Punkt erinnern, der darüber entscheidet, ob ihre spirituelle Praxis Erfolg haben wird oder nicht. Für den Bhakta oder Gottesverehrer ist Gott alles, und er sieht die Welt als Offenbarung Gottes. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sich der Ergebene von Anfang an im Zustand des Para-Bhakti befindet, in dem er die ganze Welt als Gott schaut, der in den verschiedenen Formen erstrahlt. Selbst in den anfänglichen Stufen des Bhakti, in denen eine derartige Gottesschau noch in weiter Ferne liegt und man sich im Tempel oder zu Hause mit der Verehrung eines Abbildes beschäftigt oder sich in die Rezitation eines heiligen Mantras oder in das Studium der heiligen Schriften vertieft, ist die ausschließliche Hingabe an die eigene spirituelle Praxis - ganz gleich, in welcher Form die Verehrung stattfindet, sei es auch auf sehr einfache Weise - die wichtigste Voraussetzung für wahren Fortschritt, wobei man sich nur mit seinen Übungen beschäftigt und nicht mit den Angelegenheiten der Außenwelt. Diese Ausschließlichkeit der Hingabe beschützt den Strebenden davor, in die Geisteszustände von Lust, Ärger, Gier, Eifersucht, Ehrgeiz und dergleichen zu verfallen, da ihm in diesem Fall überhaupt keine Zeit mehr dafür bleibt, an solche Dinge zu denken. Dies trifft selbst dann zu, wenn sich die spirituelle Praxis noch in den Anfangsstadien befindet. Welches Glück wird dann wohl erst demjenigen zuteil, der in seiner zerschmelzenden Hingabe Gott überall schaut, gleichermaßen im Hohen wie im Niedrigen?

        Für den Studenten auf dem Pfad der Erkenntnis existieren Objekte als solche nicht, da für ihn alle Objekte und Dinge in den Status des universellen Sehenden oder in eine totale Subjektheit transformiert sind, in der die “Weltheit” der Welt verschwindet, so daß ihm kein Spielraum mehr dafür bleibt, von den Leidenschaften und ehrgeizigen Absichten gefangen zu werden, die das Phänomen namens Welt durchfluten. Es gibt nur einen “Sehenden”, der überall ist, und folglich nichts, was gesehen werden kann, da alles “Gesehene” ebenfalls eine Erscheinung des “Sehenden” selbst ist. Dies ist mit Traumobjekten vergleichbar, die nichts anderes sind als gedachte Inhalte des menschlichen Geistes und im Wachzustand in einer einzigen Ganzheit versammelt und vereint sind. Wo bleibt in solch einem Fall noch eine Möglichkeit für Vorurteile, Ärger, Sehnsucht und egoistische Ausdrucksweisen?

        Dies ist der Geist der spirituellen Praxis, der die tägliche Routine des Suchers beleben muß und ihr erst eine Bedeutung gibt. Und dies ist es auch, was über Erfolg oder Mißerfolg der eigenen Übungen entscheidet - in welchem Ausmaß und in welchem Verhältnis das Gott-Element in der spirituellen Praxis gegenüber anderen Zielen und Absichten überwiegt.