Der Aufstieg des Geistes

 
 
   12 Studium der logischen Basis rechtlicher und ethischer Prinzipien

Wenn wir die Prinzipien verstehen wollen, die den verschiedenen Gesetzessystemen zugrunde liegen, müssen wir zuerst jenes faszinierende “Etwas” untersuchen, das als “Beziehung” zwischen den Dingen bekannt ist. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, kann man durchaus sagen, daß alle philosophischen Systeme der Welt lediglich Gedankengebäude sind, die in den Köpfen von Denkern entstanden, die hart darum gekämpft haben, die wahre Bedeutung dieser scheinbar unsichtbaren und dennoch sehr realen und durchdringenden Essenz namens “Beziehung” zu erforschen. Wir halten die Beziehung von einer Sache zur anderen schon fast für so selbstverständlich und offensichtlich, daß wir es nicht einmal für nötig erachten, uns einmal die Zeit dafür zu nehmen, um herauszufinden, was sie wirklich ist. Eine genaue Betrachtung dieser Situation zeigt uns jedoch, daß es sich hier um eine sehr harte Nuß handelt, die selbst die besten Denker aller Zeiten nicht ohne weiteres knacken konnten. Die Schwierigkeit, die “Beziehung” zwischen den Dingen zu klären ist die Ursache dafür, daß der Mensch zu gleicher Zeit auf eine immer umfassendere Vereinigung und ein immer engeres Band des Zusammenseins aller Menschen hofft (er kann von der Erwartung nicht ablassen, daß ein derartiges Ideal vielleicht einmal erreichbar ist, obwohl er es bis zum heutigen Tag nie erreicht hat), und sich dabei trotzdem unterschwellig in einem unmanifestierten Krieg mit seinen Brüdern befindet, der nur darauf wartet auszubrechen, was ja in völligem Gegensatz zu der anfangs zitierten Hoffnung auf ein höheres Band der Einheit steht, nach dem man sich sehnt und für das ein jedes Mitglied in der menschlichen Gesellschaft zu arbeiten scheint. Diese zweischneidige und zwiespältige Haltung und Veranlagung des Menschen gegenüber dem Leben war schon immer die Quelle seiner Freuden und Leiden. Ist dies womöglich der Grund dafür, daß es dem Leben bislang gelungen ist, ein ungelöstes Mysterium zu bleiben?

        Diese rätselhafte Lage der Dinge ist nur anhand der wundersamen Natur der menschlichen “Beziehungen” erklärbar, was der Grund dafür ist, warum die zugrunde liegenden Prinzipien von Gesetz und Ethik sogar heute noch die Themen immer neuerer Nachforschungen darstellen, deren endgültiges Ergebnis noch nicht absehbar ist. “Menschliche Beziehung” ist eine quälende Notwendigkeit, Erhabenheit und Schönheit, weshalb sie seit jeher sowohl das Thema von großartigen intellektuellen Überlegungen und Konferenzen als auch das ewig heranwinkende Ziel von Philanthropen, sozialen Wohlfahrtskreisen und selbst von religiösen Idealisten war, auch wenn dieses Ziel nie verwirklicht werden konnte. Zur gleichen Zeit war “menschliche Beziehung” ein undeutliches Gespenst, das die Menschen auf Grund des unklaren Charakters ihrer innewohnenden Natur in einem ununterbrochenen Zustand der Unsicherheit festhielt, der im Kopf eines jeden immer wieder Zweifel darüber aufkommen ließ, ob der andere wirklich ein so vertrauenswürdiger Freund ist, wie es seine äußere Erscheinung vermuten läßt. So kommt es, daß die Welt in zwei Lager gespalten ist: Eine Gruppe behauptet, das Leben wäre eine herrliche Manifestation universeller Harmonie und Gleichberechtigung von allen mit allen anderen in tiefer Liebe, aufopfernder Güte und organischer Einheit, in deren Richtung sich alles bewegt und bewegen muß; und die andere Gruppe sieht das Leben als Bühne, auf der das Schauspiel des alles verwüstenden Leids aufgeführt wird, das durch die Unversöhnlichkeit der psychologischen Strukturen der verschiedenen menschlichen Individuen herbeigeführt wird. Konsequenterweise behaupten letztere, daß soziale Solidarität und vielleicht auch individuelle Befriedigung nicht erreicht werden kann, es sei denn, über die Funktion einer mächtigen gesetzlichen und moralischen Kontrollmaschine, die den Individuen von einer herrschenden Autorität auferlegt wird, wobei es ganz gleich ist, ob diese von einer einzelnen Person, einer Gruppe von Personen, einer Regierung oder einer heiligen Schrift verkörpert wird. Sind wir aber in irgendeiner Weise dem Ziel allen menschlichen Bemühens und Strebens nahe, wenn wir uns mit einem sorgenvollen Leben und angespannten Nerven zufriedengeben, die vom ewigen Konflikt dieser beiden gegensätzlichen Lager menschlicher Ideen und Handlungen verursacht werden?

        Wenn wir versuchen, etwas tiefer in diese Materie vorzudringen, werden wir bald die Notwendigkeit verspüren, darüber nachzudenken, warum es überhaupt zu diesen beiden Betrachtungsweisen des Lebens und seiner Bedeutung gekommen ist. Der Grund dafür scheint zu sein, daß zwei gewichtige Faktoren begonnen haben, das zu bilden, was wir als  menschliches Leben kennen: der Faktor der Einheit und der Faktor der Verschiedenheit. Beide scheinen im gegenwärtigen Stadium der menschlichen Evolution eine gleich starke Rolle zu spielen, auch wenn man zugeben muß, daß je einer dieser beiden Faktoren in wechselnden Proportionen in einem vergangenen Stadium der Evolution vorgeherrscht hat oder in einem zukünftigen Stadium vorherrschen wird. Der Mensch ist jeden Tag zugleich glücklich als auch unglücklich, was andeutet, daß er in sich sowohl einen unwiderstehlichen Drang zur Verwirklichung der Einheit mit der gesamten Schöpfung verspürt als auch einem gleichzeitig wirkenden Druck seitens seiner vom Ego bestimmten psycho-physischen Individualität unterliegt, der in der Sprache von Selbstsucht und Unterscheidung, von körperlichem Genuß und egoistischer Eigendurchsetzung spricht, was ihn unaufhörlich mit gleichgearteten Merkmalen, die ja bekanntlich auch jedes andere menschliche Wesen auszeichnen, in Konflikt geraten läßt. Die Welt ist sowohl ein Dharma-Kshetra, ein Feld der Rechtschaffenheit, das aus dem einheitlichen Absoluten, der einzig existenten Wahrheit, hervorgeht, als auch ein Kuru-Kshetra, ein Feld der Aktivität und des Kampfes gegen die schweren Widerstände, denen man sich täglich angesichts der schweren Opposition von anderen Menschen stellen muß, in denen ebenfalls eine unbesiegbare Leidenschaft zur Durchsetzung ihrer körperlichen Befriedigungen und Ego-Freuden wohnt.

        Dies sind die zwei bedeutendsten Akte im Drama des universellen Lebens, und solange wir nicht in der Lage sind, beide Szenen in ihrer wechselseitigen Verbindung zu beobachten, die auf die Darstellung einer geordneten Vollständigkeit des Gesamtbilds des ganzen Dramas hinzielt, können wir auch nicht für einen einzigen Moment Frieden in unserem Denken finden. Was jedoch ist die Lösung? Im Osten neigten Shankara[15] und Buddha zur Betonung des Einheitsaspekts und im Westen G.W.F. Hegel und Arthur Schoppenhauer zur Betonung des Verschiedenheitsaspekts, womit sie die letztendlichen methaphysischen und psychologischen Aspekte der Lebensbedeutung auf eine jeweils spezielle Art und Weise dargestellt haben. Es ist jedoch zweifellos notwendig, diese beiden Aspekte zusammenzubringen, was eine in der Tat herkulische Aufgabe ist.

        Hier stolpern wir erneut über die grundsätzliche Zweideutigkeit des sozialen Gesetzes, der sozialen Ordnung und der ethischen und moralischen Gebote. Die politische Theorie von Hobbes befindet sich in perfekter Übereinstimmung mit der empirischen und psychologischen Seite des menschlichen Miteinanders. Die andere und in keiner Weise weniger wichtige Seite ist der letztendliche ontologische Status des Lebens, und das war das Spezialgebiet von Hegel. Die soziale “Kontrakt-Theorie” der menschlichen Beziehungen und der politischen Organisation verlangt nach einer strikten Staatskontrolle durch die Mittel der Machtausübung, der rechtlichen Gesetzgebung und der Auferlegung einer äußeren Autorität, die die extravaganten Äußerungen der menschlichen Selbstsucht unter Kontrolle halten sollen, die immer dann ausarten, wenn unkontrollierbaren Leidenschaften und Vorurteilen freier Lauf gelassen wird. Ohne eine solche feste Kontrolle würde sich die menschliche Gesellschaft leicht in einen schmerzvollen Schauplatz voll Chaos und Unheil verwandeln, was ja wohl kaum das ehrliche Ziel oder die wahre Absicht des menschlichen Herzens sein kann. In Hinsicht auf die Natur der Umstände dieser Angelegenheit und unter den herrschenden Bedingungen ist dies zwar wahr und gerechtfertigt, doch würde das menschliche Individuum in eine unglückliche Marionette verwandelt werden, die unter dem Gewicht der äußeren Machtausübung zerdrückt wird, insgeheim leidet und mit der völlig unverwirklichten Hoffnung auf uneingeschränkte Freiheit und Freude stirbt, wenn diese Methode, den Verlauf des menschlichen Lebens zu lenken, als ganze und vollständige Wahrheit akzeptiert wird. Leider scheint dies jedoch zumindest die halbe Wahrheit über die mißliche Lage des Menschen zu sein. Muß das aber so sein?

        Vielleicht sollten wir zuerst einmal versuchen, die menschliche Notlage anhand eines alltäglichen Beispieles deutlich zu machen: Ein starkes Magnetfeld kann Tausende von winzigen Eisenspänen in einem mächtigen Band des Einklangs zusammenhalten. Solange die magnetische Kraft ihren Einfluß auf die Späne ausübt, können sich diese nicht unkontrolliert zerstreuen, da sie dazu gezwungen sind, ihre Position gemäß der von außen auf sie einwirkenden Kraft beizubehalten, auch wenn sich diese Kraft vollkommen außerhalb der inneren Struktur der Späne befindet. Obwohl die Späne nun aufgrund der äußeren Krafteinwirkung in einem Band des Einklangs zusammengehalten werden, sind sie jedoch noch immer isolierte Individuen, und niemand kann behaupten, daß ihre Individualitäten in wahrer Einheit im Sinne einer gemeinsamen Existenz verschmolzen wären. Übertragen auf die menschliche Gesellschaft ergibt sich daraus folgendes Bild: Obwohl es so aussehen mag, als könnte eine durch die Regierung ausgeübte politische Kontrolle die persönliche Gier und die egoistischen Leidenschaften der Individuen wirksam in Schach halten, indem sie ihre Freiheit beschneidet und ihre selbstsüchtigen Neigungen einem ausgleichenden durch soziale und politische Regulierungen ausgeübten Druck unterwirft, wird dadurch nur ein künstlicher Friedenszustand erzeugt, in dem die Individuen weder ihre Individualität verlieren noch ihre selbstsüchtigen Neigungen aufgeben, auch wenn diese Neigungen vorübergehend unter Kontrolle gehalten werden. Schlafende Hunde und eingerollte Schlangen hören nicht auf, das zu sein was sie sind, nur weil sie sich im Augenblick nicht bewegen. Man kann wahre Glückseligkeit und Frieden nicht einfach dadurch erreichen, daß man den Teufel, der schwer bewaffnet darauf wartet, uns zu vernichten, in Ketten legt. Diese fromme Hoffnung kann nur dann verwirklicht werden, wenn man nicht nur eine künstlich harmonische Ansammlung von essentiell verschiedenartigen Charakteren aufrecht zu halten versucht, sondern die Menschen samt ihrer Vorurteile und Neigungen in eine universelle Harmonie emporhebt, die den Charakter einer unteilbaren Ganzheit aufweist. Gesetzgebungen müssen demnach mit dem Geist einer letztendlich spirituellen Einheit der Existenz belebt werden. Die Abwesenheit dieser unentbehrlichen Erkenntnis in den Verwaltungsbereichen vergangener Regierungen war der wesentliche Grund für den Sturz von Weltreichen, für das Zerbrechen von Sozialstrukturen, für das Versagen ethischer Regeln in der menschlichen Gesellschaft und für das Scheitern der ansonsten aufrichtigen Bemühungen von großartigen Führern der Menschheit.

        Die Moral der menschlichen Gesellschaft beruht seit jeher meist auf gesetzlichen Regulierungen, so daß es aus den Tiefen der Menschenseele, die die uneingeschränkte Freiheit sucht, verständlicherweise zur Auflehnung dagegen gekommen ist. Die Torheit des Menschen liegt jedoch seit jeher darin, daß er versucht, sich die ersehnte Freiheit zu erkämpfen, indem er das gleiche Recht anderer Individuen verletzt, die sich ihrerseits um Freiheit bemühen. Wahrlich, der Mensch ist der Knotenpunkt zwischen Gott und Bestie. Der göttliche Funke in ihm drängt ihn in Richtung absoluter Freiheit, doch der Teufel, den er zur gleichen Zeit in seiner Brust beherbergt, läßt ihn in Konflikt mit seinen Brüdern geraten und Krieg mit der restlichen Menschheit führen. Diesen Krieg beginnt er aufgrund seiner Unwissenheit um die Tatsache, daß absolute Freiheit solange unmöglich bleiben muß, bis er mit entsprechendem Respekt sowohl die Stärken als auch die Schwächen und Bemühungen der anderen berücksichtigt, die ja ebenfalls in der weiten Atmosphäre der Menschheit um ihn herum existieren. Es kann kein abgesondertes “Absolutes” für jedes einzelne Individuum geben, sondern nur ein einziges Absolutes, das Leben und Bestrebungen aller Individuen in sich vereint und in einer ozeanischen Ausdehnung äußerster Vollkommenheit transzendiert. Damit der Mensch sozialen und politischen Frieden finden kann, der den persönlichen Frieden in sich umschließt, benötigt er eine Weltregierung, die in ihre verwaltende Organisation die Notwendigkeit miteinbezieht, die Umstände zu berücksichtigen, derer es bedarf, um die menschliche Natur auf ihr angestrebtes Ziel der universellen Absolutheit hin emporzuheben. Dieses Ziel kann nur eine äußerst spirituelle Essenz sein, in die die Materie des Universums in kosmischer Subjektivität verschmilzt. Darüber hinaus müßte die  Notwendigkeit berücksichtigt werden, individuelles Verhalten und Handeln durch rechtliche und gesetzliche Kontrolle zu leiten und auf dem Weg zu diesem grandiosen Lebensziel hin zu unterstützen. Wie großartig! Doch ist dies auch praktizierbar?

        Die Antwort lautet “ja” und präsentiert sich in dem leuchtendem Bild des Zeitalters der Wahrheit, das in indischer Tradition als Satya-Yuga bekannt ist und von dem es heißt, daß es sich auf Erden vor langer, langer Zeit ereignet hat und dessen periodische Wiederkehr und Wiederholung, den Überlieferungen gemäß, nach oder zu Beginn eines jeden Weltzeitzyklus erwartet wird. Dies ist das Schicksal des Menschen, das er sowohl in glorreichen Perioden konstruktiver geschichtlicher Zeiten als auch in den üblen, destruktiven  Zeiten des Krieges anstrebt. Könnte man diese beiden Aspekte als “Licht des Tages” und “Dunkelheit der Nacht” innerhalb des sich beständig wandelnden Geschichtszyklus bezeichnen, der von der ewigen Sonne des allmächtigen Absoluten erleuchtet wird? Es hilft nichts, lediglich nationale Hymnen zu singen, mittels gesetzlicher Gebote tyrannischen Druck auszuüben oder sich für menschlichen Frieden und für das Allgemeinwohl einzusetzen, wenn man diese letztendliche und grundsätzliche Bedeutung der menschlichen Natur und Geschichte in der geschäftigen Anspannung des Lebenskampfes aus den Augen verloren hat, der durch die unvermeidliche Reibung zwischen dem abwärts führenden und aufspaltenden Sog der empirischen Persönlichkeit des Menschen und dem aufwärts- und zur Vereinigung strebenden Drang seiner höheren spirituellen Natur verursacht wird. Verwaltungstechnisches Genie ist somit weder nur gesetzlich, ethisch oder weltlich (ohne die spirituelle Bedeutung der Struktur des Universums zu berücksichtigen) noch ist es reine Religiosität oder Spiritualität im Sinne eines formverhafteten und traditionsgebundenen Schriftgelehrten-Typus oder eine starre, asketisch orientierte Einstellung, die der realistischen Annäherung an das Leben beraubt ist, die verlangt, daß man den beständigen Bedarf nach Recht, Ethik und humaner Würdigung der ganzen Menschheit berücksichtigt. Unglücklicherweise ist der Mensch seit jeher engstirnig und damit unfähig, derart umfassend zu denken und zu handeln. Dies dürfte ausreichend erklären, warum der Mensch ist, was er ist, und warum die Welt immer schon so war, wie wir sie auch heute vorfinden.

        Es bedürfte der Führerschaft eines gewaltigen Genies mit der Fähigkeit, in die universellen Kräfte einsehen zu können. Und diese Kräfte sind weder materiell minus spirituell, noch spirituell minus materiell. Die Wahrheit ist eine Verschmelzung von Geist und Materie, von Göttlichkeit und Menschlichkeit, von Gott und der Welt. Wird der Mensch in der Lage sein, diese Vision in sich zu erwecken? Wenn ja, dann gibt es für ihn Hoffnung, und dann ist auch wirklicher Frieden möglich, und zwar nicht nur auf Erden, sondern ebenso im Himmel und überall. Andernfalls ist das Objekt, nach dem gesucht wird, sehr weit entfernt und nur schwer zu finden. Die Welt bedarf der Führerschaft eines Übermenschen, dessen Augen Gott und die Welt gleichzeitig schauen können, dessen Persönlichkeit zugleich heiliger Tempel des Allmächtigen und aktive Verkehrsader der menschlichen Angelegenheiten ist. Die Welt hat ein solches Ideal in der Persönlichkeit von Sri Krishna gesehen, der ein außergewöhnlicher Vertreter der größten Staatsmänner ist, und zwar in dem Sinne, wie wir ihn oben als dringend notwendig für die Wohlfahrt der Menschheit definiert haben. Es hat auch in anderen Perioden der Menschheitsgeschichte Gelegenheiten für die Manifestationen solcher Übermenschen gegeben, deren Aufzählung in einer kurzen Abhandlung jedoch schwierig sein dürfte. Falls der Mensch überhaupt noch dazu fähig ist, Hoffnung in seinem leidgeprüften Herzen zu nähren, das darum kämpft, sich in dem reißenden Strom der Evolution in Richtung seiner ehrfurchtgebietenden Bestimmung an einen Strohhalm zu klammern, dann beruht diese Hoffnung genau auf der Verwirklichung dieses übermenschlichen Ideals.

        Soziale Sicherheit und Freundschaft können nicht gewährleistet werden, solange die soziale Beziehung als eine rein äußerliche Verbindung verbleibt, die unabhängig von den durch sie verbundenen Individuen wirkt und nicht innerhalb der Natur der Individuen selbst. Eine Beziehung zwischen zwei Personen muß die Essenz dieser beiden Individuen durchdringen. Nur dann ist es möglich, daß die Beziehung zwischen beiden freundschaftlich, sicher und beständig werden kann. Sollte diese Beziehung jedoch nur eine Form sein, die aufgrund eines von außen ausgeübten Druckes eingegangen wird, so daß die beiden Individuen nur miteinander verbundenen zu sein scheinen, dann können die derart durch eine äußere und ihrer eigenen Natur gegenüber fremde Macht miteinander verbundenen Individuen sich im selben Moment gegenseitig an die Gurgel springen, in dem dieser äußere Druck entfernt wird. Und genau dies geschieht, wenn der Staat, der der Gesellschaft seine Gesetze aufzwingt, eher eine Maschine als ein Organismus ist. Zusammen mit Hobbes mag man der Meinung sein, daß der Staat niemals mehr sein kann als eine von außen auf das Individuum einwirkende Maschine, was auch immer die Notwendigkeit für die Inbetriebnahme der Maschine sein mag. Für Hegel ist der Staat ein Organismus, der das Gesetz des Absoluten widerspiegelt und ein lebendigeres, umfangreicheres und wirklicheres Prinzip darstellt als das Individuum; nicht eine “kollektive” Kraft, sondern ein unteilbares Gesetz, das vom inneren Willen der Individuen letztendlich nicht getrennt werden kann. Die viel mißbrauchte und verzerrte Tradition der göttlichen Herkunft oder des göttlichen Rechts der herrschenden Autorität, die in alten Zeiten so hoch angesehen war, ist vielleicht vor dem Hintergrund der Hegelschen Logik von der organischen Struktur des Staates als vorübergehender Manifestation des ewigen Gesetzes des Universums zu verstehen. Für den durchschnittlichen Verstand ist es jedoch extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die tiefere Bedeutung der Hegelschen Philosophie des Staates zu verstehen, deren Fehlinterpretation zur ökonomischen Philosophie des Materialismus führte, der sich für seine Lehrsätze zwar die dialektische Logik Hegels aneignete, den spirituellen Inhalt jedoch nicht erkannte. Das griechische Sparta und Nazi-Deutschland waren Beispiele einer Verherrlichung der Staatsmacht, der die spirituelle Vitalität und Kraft fehlt, was den Staat somit in einen Vernichtungsapparat verwandelte, der mit dem Gewicht eines Bulldozers über die Individuen hinweg rollte und sie unter diesem Gewicht zerquetschte. Die politischen Systeme des alten Athens und des modernen Frankreichs haben der individuellen Freiheit und der Staatsmaschinerie einen gleichwertigen Status eingeräumt, wobei der Staat zwar noch immer als Maschine verbleibt, doch nicht mehr in dem Ausmaß, daß er die individuelle Freiheit zerstört. In England jedoch wurde die Doktrin der individuellen Freiheit über die Struktur des Staates gestellt, der zum Wohle und zum Wachstum des Individuums besteht und keinem anderen Zweck dienen soll als dem Individuum. Die spontane Äußerung eines Beobachters dieser drei Staatsmodelle wäre wohl, daß das erste völlig falsch sein muß und in keiner Weise mit der Wahrheit übereinstimmen kann; das zweite, aus dem empirischen Blickwinkel der Dinge betrachtet, pragmatisch und versöhnlich erscheint; und das dritte vielleicht das beste sein dürfte. Doch selbst dieses beste kann nicht wirklich als das beste angesehen werden, solange es das Individuum und den Staat als sich einander ausschließende Größen betrachtet, wobei das eine außerhalb des anderen existiert und beide dennoch durch ein unergründliches Band miteinander verbunden sind, welches weder vom Individuum noch vom Staat unabhängig voneinander verstanden werden kann. So kommt es, daß kein politisches System jemals auf lange Sicht und unter allen Umständen erfolgreich gewesen ist. Die Systeme haben sich gelegentlich gewandelt, um sich den veränderten äußeren Umständen und Bedürfnissen der Individuen im Ablauf der Zeit anzupassen. Obwohl diese Veränderungen als Reaktionen auf jenseits der menschlichen Kontrolle liegende Bedingungen logisch gutgeheißen werden mögen, haben sie bis heute noch nicht zur Entdeckung eines stabilisierenden Ankers geführt, auf den sich die Notwendigkeit zur Veränderung als beständigem Standard beziehen könnte. Und es sieht so aus, als ob der Mensch noch keine Zeit dafür verwendet hat, solch einen Ankerplatz als geeignete Bezugsgröße zu suchen. Gott, die Welt, das Individuum und die Gesellschaft werden fälschlicherweise als vier verschiedene Realitäten angesehen, was sie unglücklicherweise aber nicht sind. Sie sind die vier Facetten des leuchtenden Kristalls einer einzigen Wirklichkeit, auf die sich alles hin bewegt und für deren Verwirklichung alle Dinge unermüdlich beschäftigt sind.