Der Aufstieg des Geistes

 
 
   8 Die Krise des Bewußtseins (1)

Alles ist vorstellbar, nur nicht die Endlichkeit des Bewußtseins. Es ist unmöglich sich vorzustellen, daß Bewußtsein durch irgend etwas begrenzt sein kann, das sich außerhalb von ihm befindet. Der bloße Gedanke, daß außerhalb des Bewußtseins etwas existiert, enthält in sich einen völlig ungerechtfertigten und gänzlich unmöglichen Einwand, da das, was sich außerhalb des Bewußtseins befindet, auch ein Inhalt des Bewußtseins werden muß. Andernfalls könnte es nicht einmal ein Bewußtsein davon geben, daß da etwas außerhalb des Bewußtseins existiert. Auch ist es nicht möglich, daß etwas, das dem Charakter nach nicht selbst Bewußtsein ist, zu einem Inhalt von Bewußtsein werden kann, da der Bewußtseinsinhalt in Beziehung zu Bewußtsein gebracht werden muß, um überhaupt zu seinem Inhalt werden zu können. Diese Beziehung zwischen Bewußtsein und seinem Inhalt ist ebenfalls ein problematischer Punkt, da jede Beziehung zwischen Bewußtsein und seinem Inhalt auf irgendeine Art und Weise in Beziehung zum Bewußtsein stehen müßte. Es ist unmöglich, sich irgend etwas vorzustellen, das nicht in Beziehung zum Bewußtsein steht und das nicht ein Inhalt von Bewußtsein ist oder dem Wesen nach verschieden von Bewußtsein ist. Das vom Bewußtsein Verschiedene stünde sozusagen außerhalb des Bewußtseins, was zugleich bedeutete, daß dieses sogenannte “Außenstehende” irgendwie in Beziehung zu Bewußtsein gebracht werden müßte, damit es zu einem Inhalt des Bewußtseins werden kann. Das Ergebnis dieser Analyse wäre somit ganz natürlicherweise: (1) der Bewußtseinsinhalt müßte seinem Wesen nach Ähnlichkeit zum Bewußtsein selbst aufweisen, um überhaupt irgendeine Beziehung zum Bewußtsein herstellen zu können; (2) die Beziehung des Bewußtseinsinhalts zum Bewußtsein müßte ebenfalls irgendeine Art von Verbindung zum bestehenden Bewußtsein aufweisen, was bedeutet, daß die Beziehung selbst mit dem Bewußtsein in Beziehung stehen müßte. Bezeichneten wir diese Beziehung als außerhalb des Bewußtseins, so würde erneut das anfangs geschilderte Problem der Beziehung zwischen etwas “Außenstehendem” und dem Bewußtsein selbst auftauchen. Unter diesen Umständen wäre es untragbar, die Behauptung zu vertreten, daß irgend etwas von dem, was das Bewußtsein kennt, entweder ohne Verbindung zu ihm oder aber von verschiedenartigem Wesen sein kann. Da alles Wahrnehmbare oder Vorstellbare zum Inhalt von Bewußtsein werden muß, bedeutet dies, daß der Umfang des Bewußtseins so gewaltig sein dürfte, daß es in seiner wahren Ausdehnung die gesamte Existenz in sich enthält. Ist Existenz somit ein Inhalt von Bewußtsein? Wenn ja, dann müßte sich dieser Inhalt, die Existenz, durch eine Wesensähnlichkeit zu Bewußtsein auszeichnen. Existenz muß demnach Bewußtsein sein und Bewußtsein Existenz.

        Wenn Existenz und Bewußtsein ein und dasselbe sind, wie erklären wir uns dann den Drang des Bewußtseins, Objekte zu begehren, die eine eigene Existenz besitzen. Hätten die Objekte der Welt keine unabhängige Existenz, wäre es für das Bewußtsein unmöglich, sie zu begehren. Wenn sie jedoch eine eigene Existenz haben, in welcher Beziehung steht diese dann zur Existenz des Bewußtseins, das sie begehrt? Sind die Objekte außerhalb des Bewußtseins oder sind sie in die Struktur des Bewußtseins verwoben? Aus der zweiten Möglichkeit würde folgen, daß es für das Bewußtsein bedeutungslos wäre Objekte zu begehren, da diese bereits in seine Struktur eingebettet sind. Sind sie jedoch nicht auf eine solche Weise in das Bewußtsein eingebettet, so wäre sein Verlangen nach den Objekten durchaus verständlich. Ist die Existenz von Objekten nicht im Bewußtsein enthalten, so hieße dies aber, daß deren Existenz eines jeglichen Bewußtseins beraubt wäre. Doch nicht nur dies - ihre Existenz befände sich zur gleichen Zeit auch außerhalb des Bewußtseins. An früherer Stelle haben wir jedoch bereits gesehen, daß ein totales “außerhalb” des Bewußtseins unvorstellbar ist und einen unvertretbaren Standpunkt darstellt. Folglich müssen wir zu dem Schluß kommen, daß das Verlangen des Bewußtseins nach äußeren Objekten eine besondere Art von Irrtum ist, der sich in das Bewußtsein eingeschlichen hat, so daß es für das Bewußtsein auch keinerlei Rechtfertigung dafür geben kann, überhaupt irgendwelche Objekte zu begehren.

        Trotz dieser logischen Analyse des Sachverhalts wird die Verwicklung des Bewußtseins in das Verlangen nach Objekten so vollständig akzeptiert, daß man aus allen praktischen Erwägungen heraus geneigt ist zu sagen: Das Begehren des Bewußtseins ist vom begehrenden Bewußtsein nicht zu trennen. Begierde ist in der Tat eine Form des Bewußtseins, die durch ein Phänomen charakterisiert ist, das man als räumlich-zeitliche Veräußerlichung bezeichnen kann; ein Phänomen, das trotz der Tatsache existiert, daß eine derartige Veräußerlichung logisch betrachtet eigentlich ausgeschlossen ist.

        Die in der Praxis bestehende Verwicklung des Bewußtseins in das Verlangen nach Objekten ist das Problem der Menschheit schlechthin, auch wenn es dem Bewußtsein aus logischen Gründen überhaupt nicht möglich ist, irgend etwas zu begehren. Sowohl die kosmologischen Theorien der Upanishaden als auch jene der Standardphilosophien der Welt erklären, daß sich die Vorstellung von der eigenen Endlichkeit auf mysteriöse Weise in das unendliche Bewußtsein eingeschlichen hat, obwohl es überhaupt nicht begrenzt sein kann. In diesem mysteriösen Abstieg des Bewußtsein von der Unendlichkeit hin zur Begrenztheit hat, so könnte man sagen, eine schreckliche Katastrophe stattgefunden. Und genau dies trifft auch zu. Da das Bewußtsein als grenzenlos akzeptiert werden muß, ist die Existenz von Objekten außerhalb seiner selbst nur dann vorstellbar, wenn man annimmt, daß eine Aufspaltung des Bewußtsein möglich ist. Nichtsdestotrotz ist das Zugeständnis einer Spaltung die geeignete Erklärung für das menschliche Leben in all seinen Aspekten, da die Lebensprozesse ohne eine solche Spaltung zwischen Subjekt und Objekt nicht erklärt werden könnten. Die Lebensprozesse müssen demnach “Zustände” des Bewußtseins sein; Prozesse innerhalb seiner selbst, die zu einer wahrhaftigen Geschichte des Bewußtseins führen.

        Die Lebensprozesse sind, grob gesprochen, jene Themen, die in den Feldern der Politik, Weltgeschichte, Soziologie, Ethik, Ökonomie, Ästhetik, Psychologie, Biologie, Chemie, Physik und Astronomie studiert werden können. Alles, was mit der Menschheit in Verbindung steht, befindet sich sozusagen innerhalb dieses Rahmens. All dies muß jedoch mit dem Bewußtsein in Beziehung stehen, da es diese Themenbereiche sonst gar nicht erst als Studienfächer oder als Erfahrungsobjekte geben könnte. Das Problem der Menschheit ist demnach das Problem des Bewußtseins. Das Studium des Menschen ist somit das Studium des Bewußtsein.

        Da es unmöglich ist, sich eine wahre Aufspaltung des Bewußtseins innerhalb seiner selbst vorzustellen, ist es ebenso unmöglich anzunehmen, daß es für das Bewußtsein tatsächliche Objekte geben kann. Gibt es keine solchen tatsächlichen Objekte, so ist das gesamte Leben ein vom Bewußtsein im Reich seiner unbegrenzten Möglichkeiten in sich selbst aufgeführtes Drama. Die Entfremdung des Unendlichen in die Form des Universums ist als Ursprung des physikalischen Bereichs vorstellbar, der im Rahmen der Astronomie studiert wird, wobei die fünf Elemente “Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther” als Grundlage dienen. Hand in Hand damit geht die Vorstellung von den elementaren Bausteinen in Form von Molekülen, Atomen, Elektronen und dergleichen, was schließlich bis hinauf zur “Relativität” des Kosmos als einem Raum-Zeit-Kontinuum führt. Dies ist die Welt, wie sie sowohl in der Astrophysik als auch in der subatomaren Physik untersucht wird. Man nimmt an, daß sich das Leben von den anorganischen Stufen schrittweise über die organisierteren Stufen zellulärer Formationen und die verschiedenen Entwicklungsstufen des Pflanzenreichs manifestierte, bis schließlich die Ebene von Tier und Mensch erreicht wurde. In gewisser Hinsicht fällt es schwer zu akzeptieren, daß der Aufstieg des Menschen vom Tier, des Tieres von der Pflanze und der Pflanze vom Mineralreich wirklich einen Fortschritt im Evolutionsprozeß darstellt, es sei denn, wir bezeichnen Evolution als eine Tendenz zu immer größer werdender Vervielfältigung und Aufspaltung von Bewußtsein. Um nur ein Beispiel zu nennen: Da der Instinkt des Tieres sich näher an der Wirklichkeit befindet als der menschliche Intellekt, fällt es schwer sich vorzustellen, daß der menschliche Intellekt dem tierischen Instinkt überlegen sein soll, auch wenn der Intellekt mit logischer Urteilskraft ausgerüstet sein mag, die im Tier nicht vorgefunden werden kann. Es ist zweifelhaft, ob die sogenannte Logik des Menschen eine Verbesserung gegenüber dem Instinkt darstellt, der in seiner einfachen Funktion der Wirklichkeit näher steht als der Intellekt. Die Tatsache, daß unwillkürliche Triebe im Zuge dieses evolutionären Vervielfältigungsprozesses immer unkontrollierbarer werden, zeigt, daß der Mensch auf seiner gegenwärtigen Stufe weiter von der Wirklichkeit entfernt ist, als dies in den Lebensprozessen der vorangegangenen Stadien der Fall war. Der Mensch hat sich der Natur gegenüber immer mehr entfremdet, so daß er inzwischen sogar damit begonnen hat, die Natur zu “bezwingen” anstatt freundlich mit ihr umzugehen, indem er sein Leben auf harmonische Art und Weise an ihre wirkenden Gesetze anpaßt.

        Der rudimentäre Drang zur Vervielfältigung, die Tendenz des “Einen”, als “Viele” zu erscheinen, muß bereits in den Formationen der Welt der Materie auf subtile Weise gegenwärtig sein. Wie könnte man andernfalls annehmen, daß das Pflanzenreich aus dem Mineralreich hervorgegangen ist? Zusammen mit dem Drang zur Vervielfältigung des “Einen” in “Viele” muß auch der parallel wirkende Trieb in Richtung “Selbst-Integration” und “Selbst-Verewigung” akzeptiert werden. Warum aber sollte das so sein? Ganz einfach deshalb, weil die Vervielfältigung des Unendlichen in verschiedene Individualitäten - die Subjekte der Erfahrung - gleichzeitig einen Bindungsverlust mit dem Unendlichen bewirkt, da “Bewußtsein von Individualität” und “Beziehung zum Unendlichen” miteinander unvereinbare Positionen darstellen. Dies würde bedeuten, daß direkt vom unwahrnehmbaren Drang nach Vervielfältigung, der als latente Kraft bereits in der Welt der anorganischen Materie zu wirken beginnt, bis hinauf zu seiner endgültigen Form, die über verschiedene Zwischenstufen der Selbstvervielfältigung erreicht wird, eine doppelte Aktivität des Bewußtseins stattfindet, die einerseits aus dem unwiderstehlichen Trieb zur individuellen Selbsterhaltung besteht und gleichzeitig aus dem ebenso unkontrollierbaren Drang danach, das zurückzugewinnen, was bei der Entfremdung vom Unendlichen verlorengegangen ist. Welcher Vorteil erwächst dem Individuum aber eigentlich aus seiner Selbstbehauptung? Der Vorteil ist die simple Befriedigung der Bestätigung, daß “Existenz” identisch mit einem “Bewußtsein dieser Existenz” ist. Es kann nämlich keine größere Freude geben, als das Bewußtsein der Identität von Bewußtsein und Existenz. Und tatsächlich ist jede Handlung des Individuums ein verdeckter oder offensichtlicher Versuch, auf das Ziel einer Identität von Bewußtsein und Existenz hinzuarbeiten, was der Erfahrung einer ungeheuren Freude entspricht. Erreicht das Individuum nun durch die Identifikation des individuellen Bewußtseins mit der individuellen Existenz die ersehnte Befriedigung? Ja und nein: ja, da bereits die Identifikation eines kleinen Teils der Existenz mit einem Funken von Bewußtsein irgendeine Art von Befriedigung hervorbringen muß, denn die Identität von Existenz und Bewußtsein bedeutet Freude. Dies ist auch der Grund dafür, warum Persönlichkeitsverehrung, Selbstachtung, sozialer Status, Ehre, Ruhm und dergleichen - allesamt Formen der Bewunderung von Individualität - dem Individuum eine derartige Befriedigung bescheren, daß es, um diese Befriedigung zu erhalten, sogar das eigene Leben opfern und all seinen Besitz aufs Spiel setzen würde. Kurzum, es geht hier um das sogenannte Prestige. Hat dieses Prestige jedoch einen wirklichen Wert? Die Antwort lautet “nein”, da es von der Beziehung zum Unendlichen abgeschnitten ist und nur das einen Wert haben kann, was sich dem Unendlichen annähert. Demnach wird sich eine Befriedigung, die man entweder durch den Erwerb von Ruhm und Einfluß oder durch irgendwelche Mittel der Selbstbehauptung gewonnen hat, nicht zum Guten für das Individuum auswirken. “Gut” ist nämlich nur die Nähe zum Unendlichen, auch wenn aus dem Akt der Selbstbehauptung ein angenehmes Gefühl hervorgehen sollte sowie der Glaube, sein Ziel erreicht zu haben. Doch das “Angenehme” und das “Gute” sind zwei verschieden.

        Es ist diese Spannung zwischen dem Drang zur Selbstbehauptung auf der einen Seite und der Sehnsucht danach, eine Beziehung zum Unendlichen herzustellen, auf der anderen Seite, die unter dem Begriff Samsara oder “weltliche Existenz” bekannt ist. Diese Spannung beginnt bereits im Pflanzenreich , ja liegt sogar schon im Mineralreich als samenartiges Potential zukünftiger Triebe verborgen. Diese Spannung hält an und verschlimmert sich im Zuge des Evolutionsprozesses noch, der immer komplexere Formen der Vervielfältigung des “Einen” in “Viele” hervorbringt. Es ist weitaus schöner, dieses Drama zu beobachten, als darin mitzuspielen. Da das Individuum jedoch in dieses kosmische Schauspiel verwickelt ist, kann es diese Aufführung nicht in seiner Ganzheit genießen, sondern erleidet es, in das Splitterbewußtsein der Selbstbegrenztheit hinein gepreßt und im Gefühl, nur ein hilfloser und isolierter Teil im kosmischen Drama zu sein. Es heißt, daß selbst individualisierte lebende Organismen ursprünglich einzellig und demnach unisexuell waren, so daß sie die später folgende Verkomplizierung der Dinge noch nicht aufwiesen, die man in der Form des zweigeschlechtlichen Triebes beobachten kann, wie ihn Organismen offenbaren, die im Prozeß der Selbstvervielfältigung weiter vorangeschritten sind. Die Uni-Zelle teilt sich selbst in die Bi-Zelle und kämpft nun darum, sich durch den Kontakt seiner beiden Teile zu reproduzieren, was uns zeigt, daß der Geschlechtstrieb weder von der Frau noch vom Mann ausgeht, sondern von einer Totalität, die der Trennung einer einzelnen Zelle in zwei Teile vorausgeht. Kann man demnach davon ausgehen, daß der Geschlechtstrieb der mächtigste aller Instinkte des Individuums ist? Es ist durchaus möglich, da ein transzendentaler Druck auf Mann und Frau ausgeübt wird, der weder im männlichen noch im weiblichen Individuum allein wirkt. Wir scheinen uns bereits sehr weit von der Unendlichkeit des Bewußtseins entfernt zu haben, was dasselbe ist wie die Unendlichkeit der Existenz.

        An dieser Stelle sollten wir jedoch zu einem anderen Punkt zurückkehren, von dem aus wir dann stufenweise durch den historischen Prozeß der Evolution voranschreiten wollen.