Der Aufstieg des Geistes

 
 
   2 Die fortschreitende Evolution des Menschen

Man kann durchaus sagen, daß das menschliche Individuum innerhalb des Prozesses, in den es gegenwärtig verwickelt ist, psychologisch unterentwickelt ist. Es muß nicht extra erwähnt werden, daß die Geschichte seit jeher ein Prozeß der Wandlung ist, der in sich nicht nur die menschliche Spezies umfaßt, sondern die gesamte Schöpfung, wobei nicht einmal die physikalischen Elemente ausgenommen sind, die das astronomische Weltall bilden. Obwohl der analytische Verstand dazu imstande ist, überall in der Natur den Prozeß der Wandlungen zu beobachten, hindert ihn die eigentümliche Struktur des psychischen Organs daran, sich dieser Tatsache bewußt zu sein, und läßt ihn in der Vorstellung, die sich wandelnden Dinge seien dennoch beständig, ein Gefühl der Selbstzufriedenheit empfinden. Häufig ist man sich des Phänomens der Veränderung jedoch überhaupt nicht bewußt. Man könnte sagen, daß sich der Geist des Menschen in einem Zustand der Illusion befindet, solange er dazu unfähig ist, sich den Erfordernissen der im Weltall stattfindenden Veränderungen anzupassen, die wir für gewöhnlich Evolution nennen, und solange er sich auf ein einzelnes Merkmal des sich stets Verändernden konzentriert, in dem er Beständigkeit erblickt und auf Grund dessen er sich, wie auch immer, mit einem Band der Liebe oder des Hasses an Personen und Dinge bindet. Eine solche Situation nannten die Alten Samsara oder die Verwicklung in die irdische Existenz.

Eine philosophisch orientierte wissenschaftliche Denkhaltung erklärt die Ursache für das eigene blinde Festhalten an der Vorstellung von der Beständigkeit der Objekte dieser Welt sowie die Unfähigkeit unseres Geistes, allen Wandel und alle Veränderung als Tatsache zu akzeptieren - was ja die Ursache für Emotionen, Anhänglichkeit, Abneigungen und dergleichen ist - damit, daß es sich hierbei um einen Kompromiß handelt, den der Geist mit einer Menge von Schwingungs- und Kräftesequenzen in einem Akt der Wahrnehmung eingeht, wobei er für seine Zwecke nur bestimmte Aspekte der Kraftmerkmale auswählt und andere Aspekte, die seinen eigenen persönlichen Zielen nicht dienlich sind, zurückweist. Die Tatsache, daß dieser Wahrnehmungsakt nur durch die Übereinstimmung jener Frequenzen möglich ist, die sowohl in der Bewegung des menschlichen Geistes als auch in jener Kraft vorherrschen, die die äußeren Objekte bildet, beschert uns inmitten der Vergänglichkeit der Objekte die Illusion von deren Beständigkeit. Diese Art der Übereinstimmung und des Kompromisses zwischen Verstand und Wahrnehmungsobjekt findet man beispielsweise, wenn auch auf andere Art, in der Wahrnehmung eines “laufenden” Kinofilms. Die Struktur der optischen Organe, durch die der Verstand währenddessen arbeitet, befindet sich hier in der Illusion einer Beständigkeit der auf die Leinwand projizierten, sich bewegenden Bilder, obwohl sehr wohl bekannt ist, daß der  laufende Film mindestens sechzehn Bilder in der Sekunde projiziert. Dies ist eine Tatsache, die der Verstand jedoch auf Grund seiner Zuordnung zu den Organen der Augen und auf Grund seiner Abhängigkeit von ihnen nicht erfassen kann. Obwohl wir wissen, daß keines der erzeugten Bilder des sich bewegenden Filmes in sich statisch ist, täuschen uns die Augen und lassen uns glauben, daß eine, wenn auch vorübergehende Statik in ihnen vorhanden sei. Obgleich in diesem Phänomen ein Widerspruch zwischen dem Verstand und der Sinneswahrnehmung vorliegt, läßt der Verstand es zu, von der Wahrnehmung der Augen getäuscht zu werden, und versorgt uns mit diesem falschen Glauben, so daß durch das ungerechtfertigte Akzeptieren dieser Täuschung seitens des Verstandes das gesamte Lebensmuster und -programm einer Person in völlig andere Bahnen gelenkt werden kann. Ein ähnlicher Sachverhalt würde unsere Wahrnehmung von den beständigen Objekten dieser Welt erklären. Die Wahrheit, die Buddha vor Jahrhunderten verkündete, daß alles unbeständig ist, wird heute durch die Beobachtungen der modernen Physik bestätigt, die innerhalb eines scheinbar statischen Objekts Partikel und Kräfte tanzen sieht, welche die eigentliche Grundsubstanz jenes Objektes bilden. Die Persönlichkeit des Menschen ist von der Wirkung dieses Gesetzes nicht ausgenommen, und man kann durchaus sagen, daß sich jede Zelle unseres Körpers in jedem Moment verändert.

Diese Tatsache, die uns dabei hilft herauszufinden, in welchen Verstrickungen sich die menschliche Natur befindet, zeigt uns, wie notwendig es ist, sowohl die Position des Menschen innerhalb der Komplexität des Universums richtig einzuschätzen als auch den Funktionscharakter, der dem Menschen in der Anordnung der Dinge abverlangt wird. Dies birgt jedoch das Problem in sich, daß der Mensch nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit hinter den Erscheinungen zu kennen, da die Verstandesfähigkeit des Menschen unentwirrbar in die Struktur der Erscheinungen verwoben ist. So schränken zum Beispiel die Bedingungen von Raum, Zeit und Schwerkraft die Freiheit des Verstehens ein, da diese weit tiefgreifendere Verwicklungen enthalten, als dies an der Oberfläche erscheint, die sowohl die bloße Existenz der menschlichen Persönlichkeit als auch jenes mysteriöse Etwas kontrollieren, das wir im Aufbau der Dinge für gewöhnlich als Kausalität bezeichnen. Diese Schwierigkeit bedeutet jedoch noch nicht das Ende aller Weisheit, auch wenn sie in der Tat ein anscheinend unlösbares Problem darstellt. Schließlich dirigiert sie den Verstand gleichzeitig auch zur Erkenntnis eines fundamentaleren Sachverhalts, nämlich dem, daß es keine Erscheinungen geben kann, wenn es keine Wirklichkeit hinter ihnen gibt, die sie trägt.

Das Resultat dieser Analyse sind somit folgende zwei Entdeckungen: (1) daß sich hinter den Veränderungen der Oberflächenexistenz der Dinge irgend etwas Beständiges befinden muß, und (2) daß die bloße Tatsache, die es dem Verstand ermöglichte, zu dem Schluß zu gelangen, daß es hinter den Erscheinungen eine “Wirklichkeit” gibt, ausreichender Beweis dafür ist, daß der Verstand, obwohl er in die Welt der Erscheinungen verwickelt ist, auch in der Wirklichkeit verwurzelt ist. Andernfalls hätte er nicht zu einer derartigen Schlußfolgerung wie der Existenz einer “Wirklichkeit” kommen können. Der Mensch ist somit sowohl phänomenal als auch nominal. Er ist sterblich und unsterblich zugleich. Wie ein Philosoph es humorvoll bezeichnete, ist der Mensch Knotenpunkt von beiden - von Gott und Tier.

Trotz der unvermeidlichen Schwächen, die wir durch unsere Verwicklung in die Erscheinungen haben, sieht es so aus, als könnten wir unser Ziel dennoch erreichen, da wir ja eine Verbindung zur Wirklichkeit haben. Und vielleicht können wir sogar Gott, das Absolute, erreichen, da Er uns mindestens so nah ist, wie uns dies in Beziehung zu irgend etwas in der Welt überhaupt möglich sein kann. Ja, vielleicht ruhen wir enger und näher an Seinem Busen, als wir ahnen, denn wie könnte das Konzept der “Wirklichkeit” in uns auftauchen, wenn wir nicht selbst in der Wirklichkeit verwurzelt wären?

Dies markiert den Beginn sowohl der wissenschaftlichen als auch der philosophischen Abenteuerreise bis hin zur spirituellen Erleuchtung. Wir schreiten von der Wissenschaft zur Philosophie und von dort aus zur Spiritualität voran, eine Bewegung, die man im großen und ganzen als die Stufenleiter unseres Aufstiegs im Prozeß der Evolution bezeichnen kann. Diese Evolution verläuft normalerweise progressiv, obwohl es auf Grund von falschen Vorstellungen und mangelnder Weitsicht zu gelegentlichen Rückschlägen oder Rückschritten kommen kann, die die menschlichen Bemühungen in ihrer Suche nach der Wahrheit konfrontieren und sich ihnen entgegenstellen.

Die wissenschaftliche Annäherung, die die erste Phase darstellt, beschäftigt sich vorrangig mit den äußeren Beziehungen des Menschen und studiert die physikalischen, chemischen, biologischen, psychologischen, sozialen, politischen und kulturellen Bedeutungen des Lebens, die die Grundlagen des menschlichen Fortschritts und dessen Errungenschaften darstellen. Die Physik entdeckt, daß das Universum ein materielles Gefüge aus anorganischer Substanz ist, die sich als die Grundlage der Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft, wie auch als Grundsubstanz des gesamten Sonnensystems, des kosmischen Staubes, der Sonne, des Mondes, der Sterne und Milchstraße durch den unendlichen Raum hindurch ausdehnt. Die Newtonsche Physik behauptete, daß “Raum” als eine Art Behälter für materielle Substanzen wie Sonne, Planeten und dergleichen dient und daß es eine sogenannte Anziehungskraft gibt, die zwischen diesen Objekten wechselseitig wirkt und die Objekte in ihrer Position und in ihren Umlaufbahnen hält, und daß diese Kraft darüber hinaus bis zu einem gewissen Grad auch deren Charakter und vielleicht auch ihre Zusammensetzung bestimmt. Nach Newton begannen physikalische Entdeckungen das Wirken von Tatsachen anzukündigen, die vom Newtonschen Konzept sehr weit abweichen und es transzendieren. Ihnen zufolge ist “Raum” kein Behälter für Dinge, die mit ihm nicht in Verbindung stehen, sondern eher eine Art unendliches elektromagnetisches Feld, das in die bloße Struktur und Funktion aller materiellen Objekte eingetreten ist. Diese Entdeckung führte darüber hinaus zu den noch komplizierteren Theorien der Quantenmechanik, der Wellenmechanik und so weiter, und schließlich zur Relativitätstheorie, die uns lehrt, daß Dinge nicht nur als Kräfte in einem elektromagnetischen Feld miteinander verbunden sind, sondern daß sogar das Konzept von Kraft oder Energie für ein rechtes Verständnis der wahren Natur des Universums ungeeignet ist. Man berichtet uns, daß es keine Dinge gibt, sondern nur Ereignisse, daß es keine Objekte gibt, sondern nur Prozesse, so daß wir uns in einem fließenden Universum eines vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums befinden, in dem die Relativität das oberste Prinzip ist. Das Prinzip der Relativität reduziert alles zu einer wechselseitigen Abhängigkeit sämtlicher struktureller Anlagen und Raum-Zeit-Ereignisse, so daß das Universum eher einer lebenden organischen Ganzheit gleicht, in dem die Idee der Kausalität, wie sie für gewöhnlich verstanden wird, ausgeschlossen ist. In einer organischen Struktur sind die Teile nämlich derart in einer internen engen Beziehung miteinander verbunden, daß jedes Teil gleichermaßen Ursache wie auch Wirkung ist, da hier alles von allem anderen mitbestimmt wird. Man könnte sogar sagen, daß alles überall ist. Es ist nicht nötig, in dieser großartigen wissenschaftlichen Doktrin in tiefere Details vorzudringen, da den Schülern der Philosophie und des spirituellen Lebens statt dessen ein tiefgründiges Studium von Texten wie der Yoga-Vasishtha  empfohlen werden kann, die ihnen die praktischen Möglichkeiten der sogenannten Relativitätsphänomene gewinnbringend vor Augen führen.

Obwohl die Wissenschaft in ihren fortgeschrittenen physikalischen Untersuchungen ihre Schlußfolgerungen in Form solch gewaltiger Wahrheiten hervorbrachte, wie sie von der Relativitätstheorie offenbart werden, konnte sie sich nicht von der Vorstellung befreien, daß das Universum physikalisch sei, trotz der Tatsache, daß einige der späteren Genies der Wissenschaft tatsächlich über die Existenz eines universellen Geistes oder Bewußtseins stolperten, welches das “Substrat” oder, wie man es nennen kann, den “Beobachter” aller relativistischen Erscheinungen darstellt. Das physikalische Universum wird als die Basis betrachtet, von der aus die Evolution beginnt. Die indische Philosophie schloß die Tatsache nicht aus, daß die Evolution des Lebens von der Stufe der anorganischen Materie aus beginnt, obwohl sie zu den Höhen aufstieg, einen bewußten, die Erscheinungen transzendierenden Schöpfer des Universums anzuerkennen, um schließlich in ihrem System des Vedanta zu dem Schluß zu kommen, daß das schöpferische Prinzip vom erschaffenen Universum letztendlich nicht verschieden ist. Evolution wurde als ein im empirischen Reich der Erfahrung gültiger Prozeß akzeptiert, auch wenn das Ziel der Evolution die Verwirklichung des höchsten Lebenszieles ist, nämlich die Einheit des Absoluten, und somit die Existenz der Intelligenz des Schöpfungsprinzips in seiner untrennbaren Beziehung zum Universum. Leben steht über der Materie, Verstand über dem Leben und Intellekt über dem Verstand. Eine interessante und fesselnde Beschreibung der modernen wissenschaftlichen Vorstellung vom Evolutionsprozeß findet man in Samuel Alexanders Werk “Raum, Zeit und Gottheit”, in dem er eine Evolutionstheorie auf der Grundlage der physikalischen Relativitätstheorie einführt, wobei gemäß letzterer Raum-Zeit als Kontinuum den Rahmen aller Erscheinungen bildet. Raum-Zeit produziert Bewegung und Materie, die sich selbst in die physikalischen Elemente verdichtet, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Physikalische Substanzen, die auf diese Weise aus der Raum-Zeit-Bewegung hervorgegangen sind, sind mit den sogenannten Primäreigenschaften wie Größe, Gewicht und dergleichen ausgestattet. Man nimmt an, daß sie später durch Sekundäreigenschaften wie Farbe, Klang und so weiter gekennzeichnet werden, die das Ergebnis des Wahrnehmungsprozesses sind, der vom subjektiven Bewußtsein des individuellen Beobachters oder Erfahrenden ausgeht.

Über der Materie steht das Leben. Das Leben zeichnet sich durch die Organisation von Individualität aus, durch die Suche nach Vollständigkeit im Zentrum des eigenen Wesens und durch die Tendenz zu dem, was wir “Bewußtsein” nennen könnten - ein Phänomen, das in anorganischer Materie nicht angetroffen werden kann. Das Pflanzenreich ist ein Beispiel für Leben direkt über der Materie, wobei ihm die Denkfähigkeit fehlt, die eine Funktion des Geistes ist. Das Denken steht über dem Leben. Tieren ist außer dem Leben, das sie aus der niederen Stufe ererbten, auch ein Denkorgan gegeben. Das tierische Denken ist jedoch nicht zielgerichtet und hat weder die Fähigkeit logischer Beurteilung noch die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und rational zu verstehen. Diese letztgenannten Merkmale sind im Verstand anzutreffen, der die Domäne des Menschen ist. Die höchste menschliche Gabe ist der Verstand. Dies ist die Fähigkeit, die ihn über das Tier- und Pflanzenreich stellt, ganz abgesehen von den anorganischen Substanzen. Alexanders Analyse schlußfolgert die Existenz einer Gottheit, die sich auf einer höheren Stufe als der des menschlichen Intellekts befindet, auf einer Ebene, die es noch zu erreichen gilt. Und in der Tat wird jede nachfolgende Stufe als die Gottheit der vorangegangenen angesehen. Dennoch ist Alexanders Gottheits-Konzept den tiefen Bestrebungen des Menschen gegenüber unangemessen. Diese werden jedoch von den Upanishaden befriedigt, die im Kontext der Beschreibung der Abstufungen innerhalb der angestrebten Seligkeit wesentlich weitreichendere und umfassendere Ebenen andeuten als die der menschlichen Ebene. Es sieht so aus, als gäbe es  zwischen dem Intellekt und der höchsten Wirklichkeit mehrere Zwischenstufen. Die Upanishaden beschreiben in diesem Zusammenhang das Reich der Gandharva, das sich direkt über dem des Menschen befindet, danach die Pitri-, Deva-, Indra-, Brihaspati-, Prajapati- und Brahman-Ebene. Wir werden dahingehend unterrichtet, daß sowohl das Bewußtsein als auch die Glückseligkeitserfahrung des Individuums immer intensiver wird, je höher man sich über die menschliche Ebene hinaus entwickelt. Und nicht nur das: Die Individualität wird im Laufe ihres Aufstiegs auch immer transparenter und einschließender und gewinnt an Fähigkeit zur wechselseitigen Durchdringung, bis die Evolution schließlich die Stufe von Brahman (dem Absoluten) erreicht, wo sich die Individualität mit der Universalität vereint. Alexanders “Gottheit” ist zwar eine zukünftige Möglichkeit, muß aber, da sie einen Effekt innerhalb der Evolution darstellt, bereits in ihrer ursprünglichen Ursache, das heißt in der Raum-Zeit enthalten sein.

Dem berühmten deutschen Philosophen Hegel zufolge ist die niedrigste Stufe durch eine Art urrudimentäres Bewußtsein gekennzeichnet, das von bloßer materieller Substanz nicht getrennt werden kann. Die zweite Stufe ist das darüberliegende, auf die Natur reagierende Selbsterhaltungsbewußtsein, das im Pflanzenleben seinen Ausdruck findet und dort beobachtet werden kann. Die dritte Stufe ist die der primitiven Suche seiner selbst in anderen, die sich in der Form psychologischer Begierden, Bedürfnisse und einer Liebe ausdrückt, die sich besonders im Fortpflanzungsbewußtsein konzentriert. Als vierte Stufe folgt die des Selbstbewußtseins, das ein spezielles Merkmal des Menschen ist, der sich oberhalb der Ebene bloßer tierischer Befriedigung befindet, die sich durch Selbsterhaltung und Fortpflanzung mittels Reaktion auf äußere Reize kennzeichnet. Trotzdem steckt das menschliche Leben auch hier noch in den Kinderschuhen und ist noch nicht voll entwickelt. Wir können die menschlichen Wesen in folgende Bewußtseinsstufen einteilen: Zunächst den animalischen Menschen (von dem man sagen könnte, daß er der vorher bereits erwähnten vierten Stufe entspricht), dann den selbstsüchtigen Menschen, den “guten” Menschen, den heiligen Menschen und den Gottmenschen. Die fünfte Stufe ist diejenige, in der man sich der eigenen Getrenntheit von äußeren Objekten bewußt wird und alle Veränderungen eher den Objekten als sich selbst zuschreibt. Dies ist die Stufe, in der man die Fehler nur bei den anderen sieht, aber nicht bei sich selbst, so daß das störende Objekt zum Hindernis für das eigene bequeme Leben wird, und die Gegenwart von Objekten, die nicht zur eigenen Befriedigung beitragen, nicht toleriert werden kann. Die verborgene Einheit der Dinge setzt sich jedoch durch und kann eine solch selbstsüchtige Einstellung wie die der völligen Isolierung von Subjekt und Objekt nicht dulden. So weicht die selbstsüchtige Vorstellung von der eigenen Isoliertheit, die sich in der fünften Stufe manifestiert, dem Drang nach Einheit, indem man diesen in Form von Liebe zu anderen und dem Hang, Autorität über andere auszuüben, verzerrt, was der sechsten Stufe entspricht. Auf der siebten Stufe ist man sich der eigenen negativen Abhängigkeit von anderen in Form von Liebe und dem Verlangen nach Macht und dergleichen bewußt, so daß man bestrebt ist, dieses Gefühl der sklavischen Abhängigkeit entweder durch intensive Anhänglichkeit oder intensiven Haß loszuwerden. In der Liebe manifestiert sich die Sehnsucht danach, das Objekt ganz mit sich zu vereinen, um alleine leben zu können, und im Haß besteht das Verlangen danach, das Objekt zu zerstören, so daß man auch hier wieder die Chance erhält, alleine leben zu können. Denn das “Alleinsein” - die Natur der Wirklichkeit - setzt sich irgendwie und irgendwann auf ehrliche oder unehrliche Weise durch. Auf der achten Stufe erkennt man, daß es unmöglich ist, mit diesem “Gesetz des Dschungels” zu leben, da hier jeder eine Bedrohung für die Existenz des anderen darstellt, so daß niemand in Sicherheit leben kann. Das Bedürfnis, irgendwie zu überleben und das möglichst in Sicherheit, zwingt den Menschen dazu, ein Leben der Kooperation und der gegenseitigen Kompromißbereitschaft zu führen. Dies entspricht dem Bewußtsein des sozialen Lebens, der humanitären Ideale und der Gesellschaft als einer harmonischen Organisation auf der achten Stufe.

Diese Kooperation und Kompromißbereitschaft basiert jedoch letztlich auf Selbstsucht und auf dem Wunsch, sich selbst zu erhalten, so daß man auch im sozialen Leben Unruhen und Regelverstöße beobachten kann, was ja nur ein Zeichen dafür ist, daß die Grundlage dieser anscheinend humanitären Ideale nicht wirklich menschenfreundlich ist, sondern auf einer niedrigeren Stufe des Lebens aufbaut. Die Studien der Psychologie und der Psychoanalyse offenbaren hier, daß die meisten Bemühungen des Menschen nicht über seine biologischen Triebe wie das Verlangen nach Nahrung, Sex, Schlaf und die Furcht vor äußeren Kräften hinaus reichen, wobei diese zudem noch von den Sehnsüchten verstärkt werden, andere zu beherrschen, Macht auszuüben, den eigenen Ruhm durch die öffentliche Behauptung der eigenen Überlegenheit zu vergrößern und begierig nach Reichtum zu streben.

All dies ist das Ergebnis der empirischen Annäherung des menschlichen Denkens an die Probleme des Lebens. Diese bietet jedoch wahrlich keine Lösung der Probleme, und die Menschheit befindet sich heute in der selben Schwierigkeit, Verlegenheit und Unsicherheit wie vor Jahrhunderten, was alles nur daran liegt, daß sich diese Annäherung des Menschen an die Dinge in ihrer Qualität und in ihrem Charakter nicht geändert hat, obgleich der geschichtliche Zeitenlauf inzwischen Tausende von Jahren durchschritten hat. Die alten Meister durchschauten diese bedrückende Situation und sahen das einzig wirksame Heilmittel darin, eine “integrale Schau” zu entwickeln und sich nicht auf eine rein empirische Wahrnehmung zu beschränken. Diese umfassende Annäherung verlangt vom Menschen, das Leben als eine einzige Gesamtheit zu begreifen, deren Teile nicht voneinander trennbar sind. Die wohlbekannte Klassifizierung der menschlichen Werte oder Lebensziele in Dharma (Verfolgung moralischer Werte), Artha (Verfolgung ökonomischer Werte), Kama (Verfolgung vitaler Werte) und Moksha (Verfolgung eines unendlichen Wertes) bildet hier den Grundriß jenes Fundamentes, auf dem man seine Lebensperspektive aufbauen kann. All diese vier Werte müssen in einem korrekten Verhältnis zueinander stehen, um eine einzige Gesamtheit zu ergeben und nicht nur eine Ansammlung trennbarer Bestandteile. Dies bedeutet, daß jede Ausübung, jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat eines Menschen diese eine Absicht, nämlich eine gezielte Mischung von Dharma, Artha, Kama und Moksha manifestieren sollte, was für den uneingeweihten und ungeübten Menschen in der Tat eine schwierige Aufgabe ist. Spiritualität ist jedoch kein Scherz, und ihre Praxis erfordert ein größeres Ausmaß an Erziehung und Disziplin, als man dies in einer gewöhnlichen Akademie oder in irgendeinem Lehrinstitut der Welt erwarten würde. Diese Verbindung der vier Lebensziele in einem einzigen Akt hat die Einführung der kooperativen sozialen Gruppen notwendig gemacht, die für gewöhnlich unter der Bezeichnung Varna bekannt sind - vier Klassen, die im allgemeinen Leben die spirituelle, politische, ökonomische und körperliche Kraft ausüben und somit eine vollständige Organisation des menschlichen Strebens und Wirkens bilden. Diese Lebensbetrachtung führte auch zur Anerkennung von vier Lebensabschnitten, die als Ashrama bekannt sind: (1) einem Leben der Enthaltsamkeit und des Studiums, (2) einem Leben der gemäßigten Selbstzufriedenstellung und der Ausübung von Pflichten in Übereinstimmung mit der eigenen Stellung im Leben, (3) einem Leben der Losgelöstheit von allen vergänglichen Werten und schließlich (4) einem Leben der Konzentration auf den einzigen als dauerhaft erkennbaren Wert, die letztendliche Wahrheit.

Die Antwort auf die Frage, wie man diese Prinzipien in die Praxis umsetzen kann, ist ein “Leben des Yoga”. Yoga ist die Vereinigung mit der Wahrheit in den verschiedenen Stufen ihrer Manifestation, sowohl innerhalb der eigenen Persönlichkeit als auch in den sozialen Beziehungen und im öffentlichen Leben. Die Reichweite des Yoga ist für den Neuling schwer zu verstehen. Um der Schwierigkeit zu begegnen, daß man diese Wahrheit kaum mit einem Schlag erfassen kann, rieten Experten im Yoga zu einer gemäßigteren Annäherung an das großartige Ziel, indem man den objektiven (adhibhuta), den subjektiven (adhyatma) und den übernormalen (adhidaiva) Gottheits-Aspekt der Wirklichkeit beachtet, wobei der letztgenannte sowohl über die objektiven als auch über die subjektiven Seiten der Erfahrung Aufsicht führt. Dieser dreifache Zugang zum Yoga wird es erleichtern, noch weiter reichende Zuflucht zu den umfassenderen Wirklichkeiten zu nehmen, die in der Fachsprache des Vedanta  als Virat, Hiranyagarbha, Ishvara und Brahman bekannt sind und die den vierfältigen Aspekt des Absoluten andeuten, der für die eigenen Meditationen als äußerst hilfreich anzusehen ist.