Swami Krishnananda:

Antwort auf deine Fragen

Kapitel 30

Östliches und westliches Denken

Ein Besucher aus Amerika: Ich möchte etwas über die östliche Denkweise bzw. Intuition erfahren. Und ich möchte gerne wissen, was Du glaubst, was wichtig für mich wäre, um Amerikaner und andere westliche Menschen im kreativen Denken zu unterrichten?

Swamiji: Unterrichtest Du in einem Kolleg oder einer Schule?

Besucher: Beides. Ich unterrichte kleine Kinder ebenso wie Erwachsene.

Swamiji: Was unterrichtest Du?

Besucher: Ich unterrichte kreatives Denken. Ich unterrichte die talentierten und aufgeweckten Kinder.

Swamiji: Kreatives Denken?

Besucher: Ja.

Swamiji: Ist das eine besondere Art von Psychologie?

Besucher: Es ist auch Psychologie dabei, aber der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung des kreativen Denkens.

Swamiji: Aber dennoch ist es ein Teil der Psychologie. Willst Du damit erreichen, daß Deine Schüler die rationale Denkweise aufgeben?

Besucher: Ich möchte es mit der intuitiven Denkweise vermischen.

Swamiji: Ja, es ist richtig, die rationale Denkweise nicht aufzugeben, sondern mit der intuitiven Denkweise zu vermischen.

Besucher: Ja. Vermischen.

Swamiji: Dieses Thema gehört beinahe zur Philosophie.

Besucher: Ja.

Swamiji: Es ist die Berührung des östlichen und westlichen Verständnisses über die Wertvorstellungen. Diese Frage kann man nicht in wenigen Minuten beantworten. Dies ist ein großes weltbewegendes Thema.

Besucher: Ich weiß, es ist ein riesiges Thema!

Swamiji: Hast Du dieses Thema studiert? Hast Du irgendwelche Bücher darüber gelesen?

Besucher: Ich habe gerade meine Dissertation darüber abgeschlossen und forschte darüber nach, wo ich die Frage .......

Swamiji: Was ist das Thema Deiner Dissertation?

Besucher: Es ist eine Untersuchung über den kreativen Denkprozeß. Über viele Jahre hinweg habe ich verschiedene Autoren studiert, die sich mit diesem Thema befaßt haben.

Swamiji: Nun, wo liegt Deiner Meinung nach der Fehler in der westlichen Denkweise?

Besucher: Der Fehler? Der Fehler liegt darin, daß sie den intuitiven Verstand entweder nicht schätzen oder nicht benutzen wollen. Sie benutzen weder die Bildersprache noch die Visualisierung als Denkprozeß. Sie hören weder auf ihre „Innere Stimme“ noch auf die „Quelle des Universums“. Ihre Körper sind vom Verstand, ihren Herzen und Gefühlen getrennt.

Swamiji: Ist der Körper bei jedem westlichen Menschen vom Verstand und vom Herzen getrennt?

Besucher: Nicht bei jedem westlichen Menschen - das hoffe ich nicht! Aber ich meine, daß in den Grundschulen......

Swamiji: Die europäische Denkweise ist normalerweise nur auf Erfahrungen aufgebaut.

Besucher: Ja.

Swamiji: Die Europäische Denkweise basiert auf Sinneswahrnehmungen und deren Schlußfolgerungen beruhen ebenfalls auf Wahrnehmungen durch die Sinne, wobei man nichts glaubt, was nicht wissenschaftlich nachprüfbar ist. Dies ist eine der typischen westlichen Charaktereigenschaften: Es wird nichts geglaubt, was nicht wissenschaftlich beweisbar ist. Diese Denkweise ist außerdem zum großen Teil von sozialen Aspekten abhängig, denn die westlichen Menschen denken in persönlichen und gesellschaftlichen Mustern. Die individuelle Wertigkeit und der persönliche Wert in der Gesellschaft wird nicht aufgegeben. In der östlichen Denkweise liegt die Betonung auf den Universellen Prinzipien des Lebens. Sie beruht nicht nur auf Erfahrungen, sonder auch auf Vernunft. Ihre Betonung liegt auf den Basisgrundsätzen aller Lebenswerte, von denen die Menschen im Osten glauben, daß sie ihrer Natur gemäß universell sind.

Das westliche Denken folgert die Universalität einer Sache aus der Beobachtung besonderer Einzelfälle. Wo viele Pferde sind, liegt dem östlichen Denken gemäß, ein allgemeines universelles Prinzip namens „Pferdhaftigkeit“ zugrunde. Die Universalität besteht in der westlichen Denkweise nicht grundsätzlich. Sie existiert nur aufgrund einer Schlußfolgerung, die bei der Beobachtung vieler Einzelheiten festgestellt wird. In der östlichen Denkweise steht die Universalität über dem Einzelnen, in der westlichen Denkweise hingegen steht das Einzelne über der Universalität. Hier liegt der große Unterschied zwischen der westlichen und der östlichen Denkweise. Tatsache ist, daß die Universalität nicht von der Beobachtung des Einzelnen abgeleitet werden kann, denn die Universalität kann auch ohne das Einzelne existieren.

Wir sind tief in das Reich der Philosophie hineingegangen, und ich möchte mit Dir nicht zuviel über dieses Thema sprechen. Ich kann Dir nur vorschlagen, bestimmte Dinge darüber zu lesen, wo beschrieben wird, wie Menschen eine Harmonie zwischen den beiden Denkweisen erreicht haben. Ich wäre überrascht, wenn Du irgendein Buch über die Vermischung der östlichen und westlichen Denkweise studiert hättest.

Besucher: Nein, habe ich nicht.

Swamiji: Hast Du von einem derartigen Versuch noch nichts gehört?

Besucher: Ich habe etwas von einer Ausbilderin in Kalifornien gehört. Sie heißt Barbara Clark. Sie versucht, die Vereinigung des rationalen mit der mehr intuitiven östlichen Denkweise zu erreichen.

Swamiji: Östliches Denken ist nicht irrational.

Besucher: Nein, nein! Es ist rationales Denken zuzüglich Intuition.

Swamiji: Es basiert auf intuitiver Wahrnehmung.

Besucher. Ja.

Swamiji: Rationalität steht nicht im Widerspruch zu intuitiver Wahrnehmung, obgleich seine Gültigkeit akzeptiert wird. Hast Du irgendein Buch über die östliche Philosophie gelesen?

Besucher: Welches? Jedenfalls keines über Erziehung.

Swamiji: Worüber wir diskutieren, hat nichts mit Ausbildung zu tun. Es ist etwas Philosophisches. Bist Du mit irgendeiner Abhandlung über dieses Thema schon in Berührung gekommen?

Besucher: Nein, eigentlich nicht.

Swamiji: Um herauszufinden, was wir wissen möchten, müssen wir zunächst wissen, woraus dieses Universum besteht. Du lebst in einer Welt, nicht wahr?

Besucher: Ja.

Swamiji: Aus welchem Material besteht die Welt? Woraus wurde sie gemacht? Wenn man aus größerer Entfernung das Universum, Dich und mich eingeschlossen, betrachtet - welche Struktur hat das Universum, und was bestimmt diese Struktur aller Dinge, die sich im Universum befindet? Alles im Universum wird in jeder Weise durch die Gesamtstruktur bestimmt, zu dem alle Einzelteile gehören. Darum muß man zuerst wissen, was dieses Universum eigentlich ist. Was ist dieses Universum? Hier beginnt die Philosophie.

Auf diese Frage gibt es viele Antworten. Entsprechend der westlichen Denkweise befindet sich die Welt vollkommen außerhalb des Individuums. Die Welt wird als Objekt behandelt, weil sie sich außerhalb von Dir befindet und Dich nicht berührt. Die Welt ist das Objekt Deiner subjektiven Wahrnehmungen. Du kannst damit umgehen, ohne davon berührt zu sein oder irgend etwas mit der Außenwelt zu tun zu haben. Das Subjekt trägt nichts zur Natur des Objektes bei. Dies ist die moderne wissenschaftliche Betrachtungsweise. Die Welt der Wissenschaft betrachtet die Objekte der Welt als völlig unabhängig vom Beobachter. In Indien, - im östlichen Denken -, ist dies selbst völlig anders. Die Welt befindet sich hier nicht außerhalb des Betrachters, da man ein Teil der Welt ist, - wie will man sonst die Welt studieren? Studiert man womöglich sein eigenes Selbst? Man muß sich über die Konsequenzen dieser Denkweise klar werden. Kommst Du zu dem Ergebnis, daß sich die Welt vollkommen außerhalb von Dir selbst befindet und sie Dich überhaupt nicht berührt? Ich denke, daß es sich nicht so verhält.

Besucher: Es ist ein großer Fehler.

Swamiji: Die Welt beeinflußt Dich auf außerordentliche Weise, und man muß verstehen, um welche Einflußarten es sich dabei handelt. Es gibt zwei Einflußarten: mechanische und organische. Ein organischer Einfluß ist wie der Einfluß des ganzen Körpers auf seine Körperglieder. Das Mechanische verhält sich wie bei einer Maschine, wobei die Maschinenteile die Maschinenstruktur beeinflussen. Genauso muß man sich vorstellen, wie man selbst die Welt beeinflußt. Worin besteht die Beziehung zwischen Dir und der Welt? Über dieses Thema kommt man zu dem, was in philosophischen Zirkeln als Erkenntnislehre bekannt ist. Wenn man noch weiter darüber nachdenkt, steigt man tief in das Thema ein.

Da man nicht außerhalb der Welt stehen kann, beschließt man letztendlich, daß „man selbst die Welt ist“. Man wird zu diesem Ergebnis kommen. Wie aber will man mit der Welt umgehen, wenn man selbst die Welt ist? Man muß mit ihr in der Weise umgehen, wie man mit sich selbst umgeht. Weiter sollte ich jetzt nicht mehr mit Dir darüber sprechen, sondern Dich zunächst mit einigen Untersuchungen vertraut machen, so daß Du sehen wirst, welche enormen Unterschiede es dabei im Denken gibt. Das Studium der Welt ist nur ein Studium Deines eigenen Selbst’. „Kenne Dein Selbst und sei frei“, sagt das Orakel von Delphi.

Besucher: Das wird meine nächste Reise sein.

Swamiji: Ich werde Dich morgen wiedersehen. Hari Om.

Besucher: Wir haben gestern mit dem „Erkenne Dein Selbst“ aufgehört und es scheint so, daß sich der westliche Geist dagegen auflehnt „sein Selbst zu erkennen“.

Swamiji: Das liegt daran, daß der westliche Verstand nicht weiß, was das „Selbst“ ist. Ein altes Sprichwort sagt: „Verleumde erst den Hund und dann verdamme ihn.“ Wenn Du jemanden kritisieren möchtest, finde zuerst einen Fehler bei dieser Person, dann kannst Du sie kritisieren. Eine Person, die nicht weiß, was das Selbst ist, hat nicht das Recht darüber zu sprechen, - und der westliche Geist kann solange nicht darüber sprechen, solange er nicht genau herausgefunden hat, was das Selbst ist. Man hat selbst über das Selbst eine falsche Vorstellung. Was ist das Selbst, der westlichen Denkweise entsprechend. Es ist dort das rein körperlich gebundene psychologische Selbst? Dies ist es, was man dort glaubt, aber das ist eine falsche Definition. Das SELBST befindet sich nicht innerhalb des Körpers.

Besucher: Für den westlichen Verstand ist das SELBST häufig nur die Wahrnehmung, der Denkprozeß.

Swamiji: Das zeugt von Denkarmut, was sehr bedauerlich und unkorrekt ist. Das SELBST befindet sich nicht im Körper, es ist weder in der Großhirnrinde noch im Gehirn. Es ist Bewußtsein, ein Bewußtheitsprinzip. Warum stellst Du mir diese Frage? Welche Bedeutung hat sie für Deinen psychologischen Unterricht?

Besucher: Ich bin ein Lehrer.

Swamiji: Du brauchst das Thema vom SELBST Deinen Schülern nicht näherzubringen, weil es möglicherweise nicht Teil Deines Lehrplanes ist.

Besucher: Oh doch, ist es schon!

Swamiji: Warum sprichst Du über das SELBST? Die Psychologie benötigt kein SELBST. Sie ist ein Studium des Verstandes, der Vernunft und der Gefühle, ein Studium der psychischen Funktionen. Warum machst Du Dir also Gedanken über das SELBST? Laß es sein oder nicht sein. Was kümmert ES uns?

Besucher: ES sich entwickeln lassen, wie ES ist?

Swamiji: Kümmere Dich überhaupt nicht um das SELBST. Was macht es schon? Warum sollte es ein SELBST geben? Dein Verstand und Vernunft, Deine Gefühle und die psychischen Bewegungen sind da, und Du bist darin eingebunden, - das ist das wirkliche menschliche Sein. Was man menschliches Sein nennt, ist eine Anhäufung psychologischer Funktionen. Was findest Du darüber hinaus im menschlichen Dasein? Was gibt es außer diesem Körper und der psychologischen Funktionen noch im menschlichen Dasein? An dieser Stelle endet das westliche Denken und geht auch nicht darüber hinaus, weil darüber hinaus nichts sichtbar, wahrnehmbar, denkbar und auch nicht für das eigene Leben notwendig ist.

Welchen Nutzen hat das Leben? Es gibt ein Denksystem namens Pragmatismus und Utilitarismus. Alles, was gut im Leben funktioniert, ist wirklich und alles andere ist unwirklich, damit man ohne das Vorhandensein eines SELBST ein glückliches Leben führen kann. Was ist gut daran, über das Selbst nachzudenken? Es muß einen Grund dafür geben? Wie kommt das Selbst überhaupt in den Blickpunkt, wenn man Psychologie studiert? Es gibt kein SELBST in der Psychologie, es gibt dort nur eine mentale Funktion. Ich frage Dich deshalb, wieso hast Du die Frage nach dem SELBST gestellt, wenn ES nicht Teil Deines Lehrplanes ist?

Besucher: Für den westlichen Verstand?

Swamiji: Ja.

Besucher: Ich sage, daß ES sein sollte. Man sollte über ES sprechen.

Swamiji: Warum sollte man? Angenommen, man würde nicht darüber sprechen, worin liegt der Verlust?

Besucher: Was man dadurch verlieren würde?

Swamiji: Ja. Was würde man dadurch verlieren? Man kommt auch ohne ES gut aus.

Besucher: Oh, Ich nehme an, daß man auch so gut weiterkommt.

Swamiji: Ja, ja. Worin liegt also das Problem? Wenn man ES berührt, ist man sofort in einer „Zwickmühle“.

Besucher: Ja. Ist es denn für mich als Lehrer nicht notwendig, darüber zu sprechen?

Swamiji: Für einen persönlich Strebenden, einen neugierigen Sucher oder einen Liebhaber der Absoluten Wirklichkeit kann man ES in seine Betrachtung einbeziehen und versuchen herauszufinden, was ES ist, aber für einen Psychologielehrer ist es nicht erforderlich. Wenn man neugierig und wißbegierig ist und nach höheren Wirklichkeiten als denen strebt, die in der Welt zu Verfügung stehen, - wenn man mit allen sichtbaren Dingen in der Welt unzufrieden ist, - wenn man fühlt, daß es noch etwas mehr in dieser Welt geben muß, als nur Endliches und Sterbliches, und daß es etwas geben muß, das nicht dem Zeitprozeß unterworfen ist, - wenn man nach einer endlosen Wirklichkeit sucht, - wenn dieses Streben vorhanden ist, dann stellt sich die Frage nach dem SELBST. Verfolgst Du diesen Weg oder bist Du mit Deiner Aufgabe als Psychologielehrer zufrieden?

Besucher: Nein. Ich bin kein Psychologielehrer, aber ich glaube, daß die Leute auf eine Ebene der Bewußtheit im allgemeinen kommen und dabei den Widerstand gegenüber der Selbsterkenntnis ablegen sollten.

Swamiji: Du brauchst dafür ein Training in diesem Ashram. Du mußt Dich hier einem Studiengang unterziehen, denn dies ist kein Thema, das auf dem Marktplatz diskutiert wird.

Besucher: Nein, - das verstehe ich.

Swamiji: Dies ist eine ernste Angelegenheit. Sie kann nicht so einfach verstanden werden, aber, wenn man ES einmal erkannt hat, will man nichts anderes mehr in dieser Welt.

Besucher: Das ist wahr.

Swamiji: Du wirst einfach darauf gedrillt, um zu erkennen, was ES ist.

Besucher: Das ist wahr. Um ein Gefühl für das SELBST zu bekommen, frage ich als Lehrer: „Wie kann man ES in Kindern, in anderen Menschen und in Lehrern, die Lehrer unterrichten, entwickeln?“

Swamiji: Das ist Psychologie. Du kommst wieder zur Psychologie zurück. Man kann ein sehr guter Student und Psychologielehrer sein, ohne dabei über das SELBST zu sprechen. Psychologen sprechen tatsächlich niemals über das SELBST. ES existiert überhaupt nicht. Für die Psychologen, wie zum Beispiel David Hume, ist ES eine Art Illusion. Hast Du jemals von ihm und auch von Freud gehört?

Besucher: Ja, das habe ich.

Swamiji: Sie sagen, daß es so etwas wie das SELBST überhaupt nicht gibt, - ES existiert einfach nicht.

Besucher: Nun gut, ich teile deren Meinung nicht unbedingt.

Swamiji: Selbst wenn Du der selben Ansicht bist, was verlierst Du dabei? Wenn Du dadurch etwas verlierst, dann ist das etwas anderes. Einige standhafte westliche Denker - natürlich mit einigen Ausnahmen - beharren auf der Ansicht, daß das SELBST von zweifelhafter, begrifflicher und halluzinatorischer Existenz ist. Freud und andere wollen Glauben machen, daß Religion nur eine Illusion ist, und daß Gott, das SELBST und alle anderen nur Begriffe sind, die mit dieser Illusion verbunden sind, so daß wir auch ohne sie glücklich sein können. Man kann auch ohne Gott glücklich sein. Warum will jemand überhaupt einen Gott? Frage Freud, er wird Dir alles über diese Dinge erzählen. Kennst Du Freuds Psychologie? Was sagt er über das SELBST? ES existiert nicht!

Besucher: Ja. Er ist diesen Dingen gegenüber offen

Swamiji: Frage Freud, ob ES existiert. Frag ihn! Ich kann Freud selbst fragen: „Existierst Du oder nicht? Oder existiert jemand anders?“

Luciano: Swamiji, Du sagtest, das Leben kann im psychologischen Sinne glücklich sein, doch die Erfahrung zeigt uns, daß nicht alle Leben glücklich verlaufen.

Swamiji: Alle sind glücklich, oder ist jemand nicht glücklich? Dann laßt es mich wissen, wer von den hier sitzenden Menschen nicht glücklich ist? Sie sind alle gesund, sie haben Frühstück und Mittagessen bekommen und sie haben gut geschlafen. Haben Sie auch Geld bekommen? Sag’ mir, was hast du für ein Problem? Wenn irgend etwa falsch läuft, laß es mich wissen. Du hast eine gute Arbeit, gutes Einkommen und eine gute Gesundheit, Du wirst medizinisch versorgt und kannst reisen, wohin Du möchtest. Was läuft in Deinem Leben verkehrt?

Luciano: Gar nichts.

Swamiji: Was ist am Leben falsch? Alles ist gut. Nach allgemeiner westlicher Auffassung sagt man, alles ist in Ordnung. Aber es ist eben nicht alles in Ordnung!

Amerikanischer Besucher: Das ist wahr.

Swamiji: Es gibt noch eine Kehrseite der Medaille. Man träumt, daß alles gut ist, und doch hängt das Damoklesschwert über Deinem Kopf, was jedoch niemanden interessiert und auch niemanden stört. Weißt Du, was das Damoklesschwert bedeutet?

Besucher: Ja.

Swamiji: Das Damoklesschwert - das Schwert des „Todes“ - kann alle Werte des Lebens innerhalb einer Minute auslöschen. Deine ganze Ehre, Studien, Pomp und Besitz können innerhalb einer Sekunde durch den Tod ausgelöscht werden. Wo befindet sich der Tod? Ich richte an Dich als Psychologen die Frage: Warum sollte überhaupt irgend jemand sterben? Was würde es ausmachen, wenn niemand sterben würde? Laß alle Leute am Leben.

Besucher: Es gibt einen Kreislauf.

Swamiji: Möchtest Du, daß jemand stirbt?

Besucher: Sie müssen sterben. Es ist ein Teil des natürlichen Kreislaufes.

Swamiji: Nun gut, glaubst Du an die Existenz der NATUR?

Besucher: Oh, ja.

Swamiji: Ist man der NATUR untergeordnet oder ist man unabhängig? Hat man keine Wahlfreiheit? Ist man ein Diener der Natur, deren Befehlen man gehorchen muß, um dann von ihr getötet und womöglich wiedergeboren zu werden? Ist man ein Sklave der NATUR-Gesetze oder ist man weitestgehend unabhängig? Sag’ es mir. Wer möchte schon der Sklave irgendwelcher Gesetze sein? Sogar in politischen Parteien suchen die Menschen nach Unabhängigkeit. Sie wollen auch keine Diener der Regierung sein. Sie wollen Unabhängigkeit. Jeder strebt nach Unabhängigkeit. Wie kannst Du sagen, daß die NATUR hart zu Dir ist und Dich sogar eines Tages töten will? Zu welcher Art von NATUR gehörst Du, und wer erschuf diese monströse NATUR? Wer ist diese gefährliche Person, die solch eine NATUR erschuf, die jeden wieder schluckt? Man muß diese Fragen beantworten und kann sich nicht einfach an ihnen vorbeidrücken. Dies ist der Samen des beginnenden psychologischen Denkens - Fragen über Fragen, bis man eine Antwort bekommt.

Besucher: Ja.

Swamiji: Ich kann nicht viel mit Dir sprechen. Ich habe Dir gesagt, daß Du für längere Zeit hierbleiben und an einem Kursus teilnehmen mußt, währenddessen Du einige Studien betreiben kannst, die vielleicht fünfzig Prozent Deiner Probleme lösen werden. Ich kann Dir etwas Literatur zum Studieren geben.

Besucher: Gut, das will ich tun.

Swamiji: Diese Fragen, die Du gestellt hast, und die ich versucht habe zu beantworten, sind Fragen, die das Leben als Ganzes betreffen. Es ist nicht Dein oder mein Problem, es ist ein Problem der ganzen Schöpfung. Man kann es nicht innerhalb einer Minute gründlich erörtern, man braucht dafür Zeit und genug Geduld und den starken Wunsch, es wissen zu wollen.

Besucher: Ja, ich verstehe das.

Swamiji: Andererseits, wenn alles in Ordnung ist, sei glücklich.

Besucher: Ich kann nicht hierbleiben, aber mein Herz bleibt bei Dir. Danke.