Sivanada Yoga - Swami Venkateshananda


Selbstlosigkeit


Wenn man alles, was bisher diskutiert wurde, praktiziert - etwas Dienen, Nächstenliebe, Studium der Schriften, Japa, Kirtan und Meditation - und man auf eigene Weise danach strebt, die tugendhaften Qualitäten, die unter den Überschriften Yama und Niyama aufgezählt sind, zu entwickeln, wird man dann Selbstverwirklichung erreichen? Wird man Erleuchtung oder Moksha (Befreiung) erreichen? Wird man frei sein? Wenn nicht, warum nicht?

Letztendlich wird alles, was man tut, vom Ego getan. Wie wird das Ego eliminiert? Oder wie eliminiert das Ego sich selbst? Durch viel Handeln wird man mit Sicherheit ein besserer Mensch, da gibt es keinen Zweifel, aber es gibt das sehr angenehme Risiko, dass man eine sehr sattwige (reine) Person mit einer sattwigen Verhaftung wird. Man wird mit goldenen Ketten gebunden sein, nicht eisernen oder selbst kupfernen oder silbernen aber man wird trotz allem gebunden sein.

Es gibt eine andere feine Gefahr darin. Wenn ein normaler Mensch sich egoistisch verhält, wird er von dem einen oder anderen darauf hingewiesen. Aber wenn man diese ockergelben Sachen anzieht und ein Swami wird und egoistisch ist, werden die Leute einen verehren. „Oh, sieh, mit welcher Autorität dieser Mann redet.“ Wenn man rüde und unhöflich ist, sagen sie: „Das ist ein sehr strenger Mensch. Er bildet uns mit solcher Disziplin aus.“ In dem Augenblick, wo man diese Sachen anzieht, bekommt man eine brillante Zulassung!

Selbst wenn man sattwig (rein) lebt und all diese spirituellen Praktiken macht, gibt es keine Garantie dafür, dass man dadurch Selbstverwirklichung erreicht, weil Selbstverwirklichung kein Resultat oder eine Auswirkung ist, die durch eine Ursache hervorgerufen werden kann. Es heißt Nastyakritah kritena, „Das, was nicht die Wirkung einer Ursache ist, kann durch keine erdenkliche Ursache oder Methode erreicht werden.“ Man kann sich beispielsweise nicht einschlafen lassen. Wenn der Schlaf kommt, überwältigt er einen. Man kann ins Bett gehen, aber der Schlaf muss mit seinem eigenen süßen Willen und Vergnügen kommen. Deshalb erklärt die Kathopanishad (heilige Schrift) Nayamatma pravachanena labhyo na medhaya na bahudha srutena —„Dieser Atman (Selbstkenntnis) kann nicht durch vieles Reden darüber, durch Intelligenz oder das Hören von vielen Vorträgen erreicht werden.“

Wie wird Atmajnana (Selbstkenntnis) erreicht, wenn man es überhaupt erreichen kann? Yamavaisha vrunute tena labhyah tasyaisha atma vivrunute tanum savm — „Nur wenn der Atman oder Gott es will, wird man Atmajnana erreichen, weil Gott Sich enthüllen muss.“ Es ist nicht der Mensch, der Gott erkennt, sondern Gott kann nur sich selbst erkennen. Man nehme eine Mala und sage: „Nur Gott kann sich selbst erkennen“ als Mantra eintausendundacht Mal, und eine neue Wahrheit wird im Herzen entstehen—„Gott, ich kann gar nichts tun.“ Diese Wahrheit muss hervortreten. Es hat keinen Nutzen, das zu sagen, nur weil man faul ist und nichts tun will. Ich hoffe, der Unterschied zwischen diesen beiden wird klar! Zum Beispiel weiß man solange nicht, ob man den Tisch vor sich hochheben kann, bis man es versucht. Bevor man also sicher sagen kann: „Ich kann nicht“, muss man sein äußerstes versuchen. Was da sagt: „Oh, ich kann das nicht tun. Gott, bitte tu es“, ist reine Faulheit. Sadhana (alles, was wir bisher erörtert haben) heißt, sein äußerstes zu geben. Man hat es versucht. Man hat meditiert, Japa gemacht, Asanas usw., mit dem Ziel, Selbstverwirklichung zu erreichen. Was auch immer das Ego tut, vermehrt nur noch die Anzahl der Schleier, die das Selbst verhüllen. Darum steigert sich die Behinderung dieser Vision. Am Ende all dessen erkennt man, dass das Ego stärker und stärker und stärker wird, dass alles, was man tut, das Ego füttert.

Selbstverwirklichung ist nichts als die komplette und absolute Abwesenheit des Selbst oder der Selbstsucht. Man kann nicht wissen „Dies ist das Selbst“, weil Selbst kein Objekt sondern ein Subjekt ist. Aber man kann ganz sicher wissen, was Selbstsucht ist. Ich sage nur, man kann wissen, nicht, dass man es auch wirklich weiß. Die meisten selbst süchtigen Leute denken, sie sind sehr selbstlos, sehr unegoistisch. „Ich tue es nicht für mich selbst, ich tue es um Gottes willen.“ Oder: „Ich tue es um der Menschheit willen, der Nation willen, meiner Gemeinschaft willen.“ Wenn man an der Oberfläche kratzt, findet man dasselbe Ego, die selbe Selbstsucht. Es gibt Ärzte und Krankenschwestern in der ganzen Welt, die so tun, als täten sie selbstlosen Dienst an den Kranken, aber würden sie all dies tun, wenn sie weder Geld noch einen Namen dadurch erhielten? Yogis sind dafür da, um von Yoga und Vedanta zu berichten und der Menschheit selbstlos durch sich zu dienen. Würden sie all dies noch tun, wenn ihr Glück oder ihre Ehre oder Sicherheit auf dem Spiel stünden?

Selbstlosigkeit ist keine einfache Angelegenheit und es kann nicht erkannt werden - aber Selbstsucht kann erkannt werden. Wenn man sich selbst aufmerksam beobachtet und erkennt, dass so sehr man auch vorgebenmag, dass das, was man tut, nicht selbstsüchtig ist, ist es doch selbstsüchtig. Man wird nicht dafür bezahlt, das zu tun. Es macht nichts.Nahrung, Kleidung, Wohnung und medizinische Einrichtungen und was sonst noch benötigt wird, steht zur Verfügung. Man könnte also sagen, dass man keinen Lohn oder kein Gehalt für das bekommt, was man tut, aber das ist nicht notwendig. Es mag trotzdem noch Selbstsucht geben - man will beschützt sein, sicher, gewürdigt, bewundert, man will eine Art Würdenträger werden. All das könnte Selbstsucht sein! Wenn selbst das umgangen werden könnte, dann suchte man vielleicht nach dem Himmel. (Man ist darauf vorbereitet, hier ein paar Tage zu leiden und dann in den Himmel zu kommen.) Oder, wenn selbst das verhindert werden kann, sucht man immer noch nach Erleuchtung. Es ist das ‚ich’, das all das tut, es ist das Spiel des ich, des Ego-Selbst. Kann man das sehen? Auf dieselbe Art kann man sehen, dass selbst beim Gebet an Gott es wieder das Spiel des Selbst ist - weil die Beziehung zu anderen und die Handlungen, das Verhalten, die Gedanken, Worte und Taten immer noch durch Lust, Wut, Gier, Neid, Eifersucht, Egoismus und Hass gekennzeichnet sind. Ist es uns möglich zu sehen, dass alle unsere Handlungen durch diese Übel, welche die Aktivitäten des Selbst sind, behaftet sind?

Wenn es möglich ist, diese in uns zu erkennen, dann mag es möglich sein, sie loszuwerden. Was ist es, das all diese Qualitäten loswird? Das ist auch das Ego-Selbst. „Ich möchte all diese üblen Qualitäten in mir loswerden, so dass ich Gottesverwirklichung erreichen mag.“ Das Bewusstsein also, dass alle diese rajasigen und tamasigen Eigenschaften der Lust, Wut, Gier, Furcht und dem ganzen Rest loswird, bleibt verwirrt zurück! „Ich kann all dies tun - ich kann rein werden in Gedanke, Wort und Tat, in meinem Verhalten, in allem. Mit anderen Worten, ich kann sozusagen vollständig sattwig werden. Es ist nicht unmöglich. Ich kann vollständig sattwig werden… das ist alles. Wohin gehe ich von hier?“

Das Bewusstsein, das all diese Umwandlung wahrgenommen hat, bemerkt plötzlich die zerschmetternde Wahrheit, dass das ‚ich’, das Ego-Selbst, noch da ist. Dasselbe Ego-Selbst, das vor einigen Jahren dachte: „Ich bin ein schlimmer Mensch“, denkt jetzt: „Ich bin ein frommer Mensch.“ Vor ein paar Jahren dachte man: „Ich bin Herr Soundso“, jetzt denkt man: „Ich bin ein Swami Soundso.“ Das ist sehr, sehr einfach. Wenn man ein Objekt in einer Hand hält und man diese Seite nicht mag, dreh man es zur anderen Seite, welche sauberer, hübscher, gut anzusehen ist. Man hat es umgedreht, aber erinnert sich, dass die andere (erste) Seite noch immer da ist! Sie ist nicht weg. Man war einmal ein schlimmer Mensch und man hat es nicht gemocht, also hat man kehrt gemacht und ist ein guter Mensch geworden. Es dauert nicht einmal so lange, wieder ein schlimmer Mensch zu werden, weil die andere Seite immer noch da hängt.

Es gibt unzählige Geschichten in den Puranas, die das illustrieren. Swami Sivananda machte einmal sehr schön auf diese Wahrheit aufmerksam. Er schrieb gerade ein Buch mit dem Titel „Ashrams und Heilige in Indien“, und darin hatte er mit fantastischem Erinnerungsvermögen eine Liste aller prominenten Heiligen, Swamis, Yogis und Frommen in Indien herausgearbeitet. Er widmete jedem von ihnen eine Seite - mit einer kurzen Biographie und ihrer Arbeit. Er hatte selbst eine Liste und hakte einen nach dem anderen ab. Dann kam der Name eines Swamis, der lange Zeit ein Yogi und Heiliger war, aber dann plötzlich heiratete und so alles, was er getan hatte, verließ und etwas anderes anfing. Ich stand neben Swamiji, als er sagte: „Was ist mit diesem Mann? Er war ein großartiger Yogi. Dann heiratete er und… egal, ich werde seinen Namen mit aufnehmen. Ein guter Mensch wird schlecht. Ein schlechter wird gut. Das wechselt sich dauernd ab. Es sollte uns nicht beeinflussen oder berühren.“

Dasselbe, als ein Swami, der sein eigener Schüler gewesen war und mit ihm im Streit auseinander gegangen war und etwas sehr Niederträchtiges getan hatte, vom Ashram weggegangen war und 1948 zurückkam. Swami Sivananda saß in der Nähe seines Zimmers und als ich heraufkam, sagte er: „Soundso ist gekommen.“ Ich sah ihn nur an. „Er ist ein großer Mann. Hat dir jemand erzählt, was er getan hat?“ Ich sagte: „Ja, Swamiji, ich habe davon gehört.“ „Hm, der Mann mag niederträchtig gehandelt haben, aber die Menschen verändern sich. Er mag sich verändert haben. Lass uns ihm eine neue Chance geben.“ Aber später stellte sich heraus, dass er wieder niederträchtig war und ging. Man denkt, dass man von einem rajasigen oder tamasigen Zustand in einen sattwigen Zustand wechselt, aber der andere Zustand existiert noch. Das Bewusstsein wird sich dessen bewusst.

Es gibt einen äußerst feinen Sprung vom Objektbewusstsein zum Subjekt bewusstsein. Das heißt, man sieht die ganze Zeit etwas an, man sieht sich als Objekt an. „Ich war ein rajasiger Mensch, ein tamasiger Mensch, jetzt bin ich ein sattwiger Mensch.“ Es ist immer noch Objekt. Die Aufmerksamkeit muss plötzlich in das Selbst zurückspringen, das Selbst bleiben. Das Bewusstsein muss plötzlich erstarren und sich seiner selbst bewusst werden oder nur Bewusstsein sein.

Das ist durch eigenes Bemühen nicht möglich sondern muss durch Gnade geschehen. Alles, was wir bisher erörtert haben, ist für jeden möglich, aber dieser letzte Sprung von der Objektivierung zum ‚Sein’ als Subjekt ist durch menschliches Bemühen nicht zu tun. Allein Gnade hilft weiter. Darum ist dieser Zustand nicht beschrieben. Selbst Swami Sivananda weigerte sich, ihn zu beschreiben. Das muss erfahren werden oder die Erfahrung muss entstehen. In der Shrimad Bhagavatam gibt es die äußerst inspirierende Geschichte von Jada Bharata, der, während er seinen Lieblingsschüler Rahugana lehrt, sagt: „Dieses Wissen, das ich dir beschreibe, entsteht nicht durch das Studium oder dadurch, dies oder jenes zu tun oder selbst dem Haushälterleben zu entsagen und ein Mönch zu werden oder ein Asket.“ All dies sind Hilfen, aber „das einzige, das dich wirklich befähigen wird, es zu erfahren, ist, den Heiligen zu dienen, dem Lehrer zu dienen, dem Meister zu dienen, dich im Staub der heiligen Füße derGroßen zu baden.“ Dann geschieht dieser feine und vielleicht sehr einfache Sprung vom Objekt zum Subjekt. Es gibt Erleuchtung, Gottesverwirklichung, Selbstverwirklichung — was bedeutet, dass das Ego selbst (an das man so lange verhaftet war, es als Wahrheit betrachtend) plötzlich bweg ist und an seiner statt sieht man den Atman.

Die objektive Welt hat plötzlich aufgehört, die objektive Welt zu sein, aber sie verschwindet nicht. An ihrer statt erscheint Gott. Das ist Schönheit. Es ist nicht, als wenn all diese weltlichen Dinge verschwinden und man etwas anderes sieht, das man Gott nennt. Dann würde bloß ein anderes Objekt erscheinen! Alles bleibt, wie es ist und nichts bleibt, wie es ist. Der Baum ist immer noch der Baum, ein Mann immer noch ein Mann, eine Frau immer noch eine Frau, ein Gebäude ist immer noch ein Gebäude - alles ist noch da und nichts ist da. Plötzlich wird es erkannt - nicht dass man erkennt, dass dies ein Seil und keine Schlange ist. Was man sieht, verschwindet nicht. Was immer es in Wahrheit war, verschwindet nicht. Es ist immer noch da. Aber während man eine Schlange gesehen hat, ist es jetzt ein Seil. Man hat die Welt mit weltlichen Augen gesehen, jetzt sieht man Brahman mit Brahmanaugen. Wenn die innere Vision Jnana wird, dann wird das ganze Universum zu Brahman.