Sivananda Yoga - von Swami Venkatesananda

 

Der Yoga der Synthese


Swami Sivanandas Herangehensweise an spirituelles Leben im Allgemeinen war ein Yoga der Synthese. Das ist kein besonderer Yoga, genannt Synthetischer Yoga, Yoga der Synthese oder Integraler Yoga, sondern Yoga. Yoga bedeutet Einheit, darum kann es keine Spezialisierung geben. Man kann kein Karmayogi sein, wenn man nicht weiß, was man tut, warum man es tut, wer es tut, für wen es getan wird und wenn die richtige Einstellung nicht vorhanden ist. Man kann kein hingebungsvoller Verehrer Gottes sein, wenn diese Hingabe oder Liebe sich nicht in der rechten Tat äußert. Die eindeutigste Warnung findet man in der Bhagavatam (indische Schrift). Nämlich, dass jener, der Gott nur in Statuen, Bildern und Tempeln sieht und die kleinsten, die gemeinsten Wesen Gottes nicht leiden kann, kein hingebungsvoller Verehrer ist. Auf dieselbe Weise warnte Swami Sivananda selbst uns, dass man Tugend nicht entwickeln kann, wenn man sich von der Welt isoliert. Es gibt keine Tugend in der Isolation, es kann nicht gefördert, enthüllt, offenbart oder gesehen werden in der Isolation. Also ist kein Yama, Niyama, keine Meditation oder Japa möglich ohne Karma Yoga, ohne Bhakti.

Im Falle jener, die das Glück hatten, zu seinen Füßen zu leben, schrieb Swami Sivananda ein außerordentlich schönes Sadhana vor, welches gleichzeitig persönlichen und spirituellen Fortschritt, Entwicklung und allgemein Gutes oder Dienst an der Menschheit umfasste. Oft werden Worte und Sätze aus einem Zusammenhang zitiert. Manchmal macht jemand darauf aufmerksam: „Hat Swami Sivananda nicht gesagt, dass Arbeit Gottesanbetung ist, bringt sie Gott dar?“ Ja, natürlich. Arbeit ist Gottesanbetung und man sollte alle Arbeit Gott darbringen. Swami Sivananda selbst sagte, dass, was auch immer man tut - es keine Rolle spielt, ob es eine Verwaltungsarbeit oder die Arbeit eines Straßenfegers ist - sie sollte Gott dargebracht werden, es sollte als Gottesverehrung angesehen werden. Richtig, aber was bedeutet ‚Gottesverehrung’? Ist es einem möglich, diese Handlungen als Gottesverehrung zu sehen, wenn man Gott nie verehrt hat? Ist es möglich, diese Handlung Gott darzubringen, wenn man der göttlichen Gegenwart nicht in einer anderen Form verbunden war und ihr etwas dargebracht hat? Denn während man etwas tut, ist der Geist eifrig mit der Handlung selbst beschäftigt. Wo entwickelt man dieses Bhava (innere Einstellung) des Fühlens der göttlichen Gegenwart, so dass man dieses Handeln als Gottesverehrung ansehen kann? Wie nimmt man diese verehrende Einstellung in seinen täglichen Arbeiten an, nicht nur Tätigkeiten hier im Ashram, sondern draußen, was noch viel mehr Irrenhaus und Hetzjagd ist?

„Arbeit ist Verehrung“, aber in der Sprache Swami Sivanandas bedeutete es Arbeit und Verehrung, nicht eins auf Kosten des anderen. Wenn man sagt, dass man persönliches Sadhana macht und seinen Dienst an der Menschheit vernachlässigt, wird man egozentrisch, egoistisch, eine Insel für sich selbst, ein Parasit für die Gesellschaft. Swami Sivananda wollte nie, dass jemand völlig isoliert ist, nicht einmal im Namen des Yogasadhana. Er wies darauf hin, dass große Weise in vollständiger Zurückgezogenheit verbleiben mögen, doch dass es in der Natur der Dinge liegt, dass es von hnen nur sehr wenige auf der Welt gibt. Für uns, welche die Mehrheit bilden, verordnete er eine andere Art der Zurückgezogenheit. Unser Sadhana oder spirituelle Praxis (was immer dir das bedeuten mag) nicht zu vernachlässigen und gleichzeitig nicht den Dienst am Lehrer, an der Gesellschaft oder der Nation zu vernachlässigen und diese bei jedem Schritt miteinander zu verbinden. Aktiven, dynamischen Dienst mit einer inneren Haltung der Verehrung zu verbinden—Zurückgezogenheit und äußere Kontakte gleichzeitig. Das war die Schönheit seiner Herangehensweise an spirituelles Leben und es war auch die Schwierigkeit. Wenn man inmitten von Leuten ist, erkennt man, dass man völlig allein ist und wenn man allein im Wald ist, erkennt man, dass man eins mit der Menschheit ist. Er demonstrierte dies in seinem eigenen Leben. Wer auch nur ein paar Schritte mit ihm spazieren ging, konnte es in seinem Gesicht sehen, an seinem Verhalten, dass er, während er von Menschen umgeben war, ernstlich allein war, unberührt. Oftmals sagte er: „Ich habe die ganze letzte Nacht nicht geschlafen. In diesem kleinen Zimmer war ich in Verbindung mit der ganzen Welt.“ Und dann sagte er uns, wir sollten So-und-so schreiben, So-und-so Bücher schicken und So-und-so Prasad geben. Dort in seinem Kutir (was buchstäblich eine Höhle ist) war er also in Kontakt mir der ganzen Welt und wenn er von der ganzen Menschheit umgeben war, war er vollständig frei, unabhängig. Wie man nall dies verband, war der Yoga, den er uns lehrte.

Was passiert, wenn man dies nicht tut? Wenn man sagt: „Ich bin ein Vairagi, ein Mann der Entsagung. Ich mag die Gemeinschaft nicht, ich will allein bleiben ohne jeglichen Kontakt“, ist es möglich, dass man sich voller Zielstrebigkeit, Vairagya und Viveka in eine Höhle zurückzieht. Besonders, wenn man eine lange Zeit von Menschen umgeben war, können diese Qualitäten stark entwickelt sein. Man mag spüren: „Nur in ein paar Tagen werde ich Gott zu fassen bekommen.“ Aber dieser Gott mag sich als Schwerfälligkeit, Faulheit, Untätigkeit und Schlaf entpuppen — es sei denn, man ist für solch ein Leben ausersehen worden, es sei denn, man ist ein Dattatreya, ein Ramana Maharshi oder ein Sukadeva. Es ist möglich, dass es nicht so viele gibt, die dafür qualifiziert sind. Der eigene Egoismus festigt sich sehr gut, denn während der Geist denkt: „Ich strebe nach Moksha (Befreiung)“, ist es das ‚ich’, das nach Selbstvergrößerung strebt. Solange wie ‚ich’ strebe, gibt es kein Moksha. Es ist recht einfach. Da Moksha das Moksha vom ‚ich’ ist, gibt es kein Moksha, solange ‚ich’ strebe sondern nur totalen Egoismus. Swami Sivananda hat oft darauf hingewiesen, dass es wenige Aspiranten oder Yogis gibt, die allein fruchtbar ein Leben der Zurückgezogenheit führen können und als spirituelle Sonnen erleuchten und ihre Weisheit und ihren Segen in die ganze Welt ausstrahlen. Man erkennt, dass solche Menschen existiert haben und existieren, aber leider gibt es sehr wenige. Für die meisten ist ein Leben in Zurückgezogenheit gefährlich. Sollte man sich dann unaufhörlich mit selbstlosem Dienen beschäftigen und den berühmten Slogan anwenden: Manava-seva ist Mahadava-seva (Dienst am Menschen ist Dienst an Gott)? Es ist poetisch, inspirierend und es verkauft sich gut. Es wird leicht von jedermann akzeptiert. Wenn man den Menschen sagt: „Ich widme mich dem Dienst an der Menschheit“, sammeln sich alle um einen herum. Ich nehme an, ihr habt die Gefahr bereits erkannt. Man soll selbstlosen, motivlosen, wunschlosen Dienst leisten. Selbstloser Dienst ist selbst auslöschender Dienst, wobei man fast unerkannt bleibt, doch von dem Moment an, wo man diesen Weg des Dienstes an der Menschheit oder selbstlosen Dienstes beschreitet, ist man verhindert, es selbstlos zu machen. Selbst wenn man es versucht, werden sich ein paar Leute um einen versammeln und sagen: „Oh, Maharaj, was für einen großen Dienst du tust.“ Zehn oder fünfzehn Tage lang sagt man: „Oh nein, nein, ich bin nur ein Werkzeug in den Händen Gottes, Gott allein tut dies“ — dann beginnt man langsam zu spüren, „ja, all dieser Ruhm gehört Gott. Dieser Gott ist in mir. All dieser Ruhm gehört Gott.“ Es ist selbstlos, aber das Selbst wächst mehr und mehr, weil man die anderen Aspekte des Yoga vernachlässigt hat. Ein Glied entwickelt sich auf Kosten der anderen. Während ungeheures soziales Wohl durch jemanden erzielt wird, ist das persönliche Sadhana verschwunden.

Vielleicht finden einige Menschen, dass diese Gefahr Guru-seva nicht innewohnt, weil es unwahrscheinlich ist, dass der Lehrer das Ego aufbläht. Also denkt man, dass man, was Guru-seva angeht, alles andere völlig vernachlässigen und Guru-seva als das höchste Sadhana behandeln könnte. Das ist möglich. Vielleicht gibt es eine Gültigkeit darin, obgleich ich mich an mindestens eine Gelegenheit erinnere, zu der ich empfand, dass Swami Sivananda überhaupt nicht mit dieser Einstellung zufrieden war. Es geschah 1946, als es sehr viel Arbeit zu tun gab und nur wenige im Ashram, sie zu verrichten. Swamiji arbeitete damals, wo jetzt die Post liegt und einige der kleinen Zimmer entlang des Gebäudes wurden von uns auch als Büroräume genutzt. Ich saß in einem der Zimmer und schrieb gegen fünf oder sechs Uhr nachmittags Schreibmaschine. Plötzlich sah ich Swamiji vor dem Zimmer auf der Veranda stehen. Er sah mich recht ernst an und sagte: „Was tust du?“ Ich sagte ihm, was ich tat. „Hast du heute schon Japa gemacht, hast du schon meditiert?“ Ich stand auf, sah ihn an und sagte: „Ich mache dies hier.“ Ich habe nicht dagegen gesprochen. Auf dem Plakat an meiner Wand stand: ‚Arbeit ist Verehrung’! Er sagte: „Nimm die Schreibmaschine und wirf sie in den Ganges, setz dich hin und meditiere eine Weile.“

Er zeigte uns dies selbst in seinem eigenen Leben. Der Ashram war vergleichsweise ruhig in jenen Zeiten, aber dennoch hatte er alle Verantwortung für die Leitung des Ashrams und all die Kopfschmerzen, die damit einhergingen. Aber er hatte bestimmte Zeiten für bestimmte Handlungen: so viel Zeit für den Briefwechsel, so viel für das Studium und Schreiben, so viel für Büroarbeit, so viele Stunden für Satsang, so viele Stunden für den Morgendarshan im Büro, so viele Stunden für sein eigenes, persönliche Sadhana. Trotz seines Alters, trotz all dieser Faktoren hatte er immer noch Zeit für seine eigene Puja. Als er sich nicht mehr bücken konnte und nicht mehr auf dem Boden sitzen konnte, wurde der Altar erhöht und dort machte er seine Puja jeden Tag. Die Puja bedeutete den Schriftgelehrten zufolge wahrscheinlich nichts, aber Gott zufolge war es wahrscheinlich die beste Puja auf der Welt. Vielleicht benötigte er all dies gar nicht zu seiner eigenen Befreiung, aber wir hatten da ein Beispiel.

Wenn man meint, eine Praxis reicht aus und man braucht nichts anderes, ist wieder das Ego mit im Spiel. Man ist nicht frei. Nur wenn alle gleichmäßig miteinander verbunden sind, ist es möglich, die Existenz des Selbst auch nur wahrzunehmen. Erst wenn das Selbst als nicht existent entdeckt wordei ist, gibt es selbstlosen Dienst. Solange das Selbst nicht als nicht existent entdeckt worden ist, gibt es keinen selbstlosen Dienst. Tatsache ist, dass jeder Dienst selbstloser Dienst ist, weil es kein Selbst gibt, welches irgendetwas tut! Es ist immer Gott, der es tut. Also selbst, wenn ich hier sitze und stolz und froh bin, zu sprechen, ist es tatsächlich Gott, der all dies tut, aber diese Wahrheit muss entdeckt werden, nicht vorgestellt oder nur gedacht. Es reicht nicht aus, bloß zu denken, dass man selbstlos, unegoistisch ist. Wenn Gott mysteriös ist, ist das Ego noch mysteriöser, weil es ein Nicht-Wesen ist. Und dieses falsche Nicht-Wesen (wie ein Schatten an der Wand) kann nicht herausgelöst, zerstört oder entfernt werden, außer man wirft ein Licht darauf. Wenn man versucht, diesen Schatten mit allen Mitteln, ausgenommen Beleuchtung, zu entfernen, hat es keine Wirkung. Wenn man gegen das Ego mit allen Mitteln außer der Erleuchtung (Atmajnana) ankämpft, mag man sogar ein Ego erschaffen. Dagegen anzukämpfen und sich vorzustellen, es wäre verschwunden, macht es nur stärker und stärker und stärker. Darum wird an einer Stelle berichtet, dass Ramana Maharshi gesagt haben soll, dass selbst Dhyana (Meditation) egoistisch sei—das Werk des Ego—und darum kein Lösung. Vichara ist ihm zufolge die einzige Lösung.

Wenn man Yoga lebt, Sadhana macht (Japa, Puja, Meditation und den ganzen Rest) und gleichzeitig Dienst am Lehrer, an der Gemeinschaft und an Gott auf die verschiedensten Weisen nicht vernachlässigt, entsteht kein Ego. Durch Morgenmeditation, Japa, Puja und so weiter erhebt man das Bewusstsein und wird so achtsam, dass es wie eine schatten lose Lampe wird, eine Art Lampe, die auf eine Weise leuchtet, dass kein Schatten entstehen kann, mit Strahlen von allen Seiten. Morgenmeditation, Puja, Studium der Schriften und so weiter, alles zusammen wird zu einer schattenlosen Lampe, die das Wachsen des Egos verhindert. Was auch immer man den restlichen Tag über macht, man ist unaufhörlich aufmerksam, unaufhörlich achtsam. Man spürt die Gegenwart Gottes in sich, während man meditiert, man spürt die Gegenwart Gottes in sich, wenn man in den Tempel zum Opfern geht. Man ist beseelt von dem Geist der Hingabe, selbst wenn man Gott nur ein einziges Blatt zu Füßen legt. In diesem Sinne ist alles, was zu tun ist, zu tun. Diese Einstellung wird durch das persönliche Sadhana erzeugt. Aber wenn man sein Leben nur auf dieses persönliche Sadhana beschränkt – obwohl es eigentlich nicht möglich ist – kann man seine Einstellung im Leben nicht ausdrücken, man kann nicht überprüfen, ob man wirklich diese Einstellung hat. Man geht also hinaus, mischt sich unter Menschen, tut seine Pflicht oder seinen Seva und beobachtet während all dessen, wie wirkungsvoll das Sadhana gewesen ist. War es effektiv oder ist der Geist immer noch Subjekt derselben alten Gedanken und Gefühle von Hass, Eifersucht, Neigungen und Abneigungen, Sehnsüchten, Eitelkeit, Gier?

Dann könnte man wirklich und wahrhaftig das göttliche Leben führen. Dann und nur dann könnte man den Zustand des Yogis erahnen, der sagen kann: „Ich tue nichts, Gott tut es. Gott macht sogar das Sadhana, das ‚mein persönliches Sadhana’ heißt, Japa, Meditation und Puja. Gott allein tut all dies. Er dient sich selbst durch sich selbst.“