Sivanada Yoga - von Swami Venkatesananda


Selbstreinigung


Manchmal wies Swami Sivananda darauf hin, dass Atmajnana (Selbstverwirklichung) äußerst einfach ist. Gott, Brahman, Atman sind schon wirklich. Es ist der Atman, der dort sitzt, es ist Atman, der hier sitzt, es ist Atman, der mit dem Kopf nickt, es ist der Atman, der spricht. Wenn all dies Atman ist, worin liegt die Schwierigkeit, ihn zu verwirklichen? All die anderen Lehrer und Meister - die uns belehren, wie unheimlich schwierig es ist - haben nicht unrecht. Selbstverwirklichung ist sehr einfach, aber die Vorbereitung dafür, die Reinigung, die eine Voraussetzung darstellt, ist äußerst schwierig. Atmajnana ist leicht, weil es eine Gabe Gottes ist, nicht eine Leistung. Entweder kann man sagen, es ist schon da oder es ist eine Gabe Gottes, je nachdem, welche Ansicht man vertritt. Wenn man die Auffassung des Jnana Yoga annimmt, erkennt man, dass das Selbst bereits da ist. Wenn man die Einstellung des Bhakta annimmt, sagt man, es sei eine Gabe Gottes.

Warum praktizieren wir überhaupt Sadhana? Krishna erklärt dies sehr schön und umfassend in der Bhagavad Gita:

yunjyad-yogam-atmavisuddhaye (VI.12)


„Praktiziere Yoga zum Zwecke der Selbstreinigung.“ Yoga, Meditation und all die spirituellen Praktiken, die man unternimmt, sind allein dazu bestim mt, das Herz und den Geist zu reinigen, nicht um Gott zuverwirklichen. Swami Sivananda lehrte Selbstreinigung mit sehr einfachen und doch wirkungsvollen Methoden. Ich weiß nicht, was Eure Vorstellung von dem Wort ’Ausbildung’ ist. Gewöhnlich stellen wir uns vor, durch Lob und Tadel aus gebildet zu werden -Zuckerbrot und Peitsche. Doch das ist nicht Ausbildung. Ausbildung bedeutet, dass dieser Kassettenrekorder auf mich ausgerichtet ist, dass man beim Fotografieren die Kamera auf das Objekt ausrichtet. Ausbildung bedeutet, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was man lernen oder tun will, und zu beobachten. Genau dies und nichts anderes tat Swamiji. Weder gebrauchte er Versuchung noch Drohung -nur Ausrichtung. Die Schwierigkeit ist hierbei, dass es leicht ist, eine Kamera, einen Kassettenrekorder oder eine Waffe in eine bestimmte Richtung zielen zu lassen, weil es leblose Objekte sind. Sie denken nicht und ändern auch nicht ihre Meinung - aber Menschen tun dies. Da wir weder Kameras noch Gewehre waren, die eingestellt oder abgeschossen werden konnten, musste unsere Ausbildung länger dauern. Swamiji musste dies immer und immer und immer wieder tun. Bis jetzt habe ich in der ganzen Welt noch keinen geduldigeren Menschen als Swami Sivananda erlebt. Er hat niemanden als hoffnungslosen Fall behandelt. Wenn man es auf dem einen Weg nicht versteht oder erkennt, dann versuchte er es auf einem anderen Weg und auf noch einem - er wiederholte es so oft, bis man es eines Tages, wie er hoffte, sehen würde. In dem Moment, in dem man es sah, hatte man das Ziel erreicht. Darum hat er gesagt, dass Selbstverwirklichung furchtbar einfach ist. Wenn man in ein stock dunkles Zimmer kommt und nicht weiß, wo der Lichtschalter ist, fängt man an, nach ihm zu tasten. Das Licht anzumachen ist furchtbar einfach, aber den Schalter zu finden, ist nicht so einfach. Er war erleuchtet und er konnte sehen, darum sagte er: „Es ist zu deiner Rechten“. Man drehte sich herum, bis man nicht mehr wusste, wo links und rechts war - und dann beruhigte er einen. Er hat uns nie unter Spannung gehalten. Er hat uns immer angespornt, vieles zu tun und zu lernen, doch wenn er sah, dass man zusammenzubrechen drohte, hob er alle Regeln auf.

In jenen Tagen gab es nicht so viele Leute im Ashram und so hatte ich eine recht lange Zeit die heilige, glückliche und unangenehme Aufgabe, alle morgens um 4 Uhr aufzuwecken. Swamiji nahm es sehr genau damit, dass alle um 4 Uhr aufstanden und zur Meditationsstunde kamen oder in ihren Zimmern meditieren - gleichzeitig nahm er es sehr genau, dass ansonsten niemand in seinem Schlaf gestört wurde. Wenn jemand sich am Tage ausruhte, durften wir ihn nicht stören. Wenn Swamiji an einem Zimmern vorbeiging und sah, dass man sich darin ausruhte, war er still und gebot allen anderen in der Nähe, auch still zu sein.

Er lehrte eine Technik, wie man jemanden selbst um 4 Uhr morgens aufwecken konnte. Man sollte außen vor der Tür stehen und vorsichtig Ommm sagen - etwa eine Minute warten und dann Ommm ein wenig lauter sagen. Wenn das nicht funktionierte, gab es ein noch lauteres Ooomm. Dann an die Tür klopfen. Dies war nur um 4 Uhr erlaubt, sonst nicht. Obwohl er großen Wert darauf legte, dass man morgens zur Meditation aufstand, machte er auch Ausnahmen. Er fand doch die eine oder andere Entschuldigung, wenn er sah, dass man nicht daran gewöhnt war und Zeichen von Überspannung oder Ohnmacht auftraten, weil das Beibehalten dieser Spannung oft zum Zusammenbruch, einer Reaktion führen kann. Ein halbes Brot ist besser als kein Brot!

Hatte der Student die eine oder andere Schwäche, drückte Swamiji ein Auge zu und sagte: „Er hat seine Schwächen, aber er hat auch großartige Stärken.“ Wenn man zu einem Lügner sagt, „Du bist die Wahrheit in Person“, wird er vielleicht eines Tages glaubhaft. Swamiji machte höchst selten jemand auf seine Fehler aufmerksam und wenn doch, so tat er es sehr freundlich. Erst kamen ein paar Bananen, dann ein kleiner Nadelstich, dem Butter und Honig folgten. Wenn die Banane verdaut war und die Butter aufgebraucht, verstand man plötzlich: „Mein Gott, das wollte er mir sagen!“

Da wir leben und die ganze Zeit denken, geht es bei dieser Ausrichtung nicht darum, die eine oder andere Richtung zu ändern, sondern um Selbstreinigung Atma-suddhaye. Ihr werdet euch fragen, ob es nicht einfacher und besser für den Menschen wäre, wenn die Unreinheit hervorgehoben wird, so dass man sich reinigen kann. Wenn jemand ungeduldig ist, sollte ein Lehrer nicht sagen: „Du bist ungeduldig. Hör auf damit.“ Würde das nicht zu sofortiger Selbstreinigung führen? Meistens nicht, weil das Ego, das sich als ungeduldig erweist, seine Schwächen nicht sehen will. Man mag es nicht, und wenn man eine Medizin bekommt, die man nicht mag, besonders psychologische Medizin, wird sie nicht helfen.

Patanjali
sagt in den Yoga Sutras: „Wähle ein Objekt, das du magst.“ Sonst kann man nicht darauf meditieren, denn der Geist wird sich weigern, sich ihm zuzuwenden. Man wird sein Ziel nicht erreichen. Selbst wenn also ein großer Meister einem sagt, man sei ein ungeduldiger Mensch und sollte seine Ungeduld zügeln, wird es einen wahrscheinlich sofort verärgern. Was verärgert einen aber hierbei? Es ist gerade die Ungeduld, die einen verärgert! Hätte es jemand anderes gesagt, hätte man ihm wohl den Kiefer zerschlagen, doch weil es der Meister sagt und man keine Vergeltung üben will, weint man. Die Tränen sind nicht Tränen der Reue oder des Gewissens, sondern Tränen des Widerstandes. Wenn man etwas sagt und der andere anfängt zu weinen, bedeutet das, dass die Kommunikation beendet ist, er will nichts mehr hören. So einen Menschen kann man nicht ausbilden. Die Tränen an sich bedeuten: „Bitte sage das nicht noch einmal.“ So war Swami Sivananda nicht veranlagt. Er wollte nie die Gefühle anderer verletzen. Im Gegenteil, er weigerte sich sogar, diese Ausbildungsmethode bei seinen Schülern anzuwenden. Durch das Hervorheben der Fehler eines anderen kann man ihm niemals helfen, diese abzulegen. Er wird sie nicht sehen, die Tränen blenden ihn. Wenn Augen voll von Tränen sind, kann man weder sehen, was vor einem ist, noch in einem vorgeht. Es bedarf eines sehr festen und ruhigen Geistes, um die eigenen Unreinheiten zu sehen.

Nun kann man die Schwierigkeit der Selbstverwirklichung oder Selbstreinigung und die Schwierigkeit bei der Ausbildung eines Schülers sehen. Es  geht hier nicht um eine Kamera oder eine Waffe oder einen Kassettenrekorder sondern um ein denkendes, fühlendes menschliches Wesen. Dieses Verstehen oder diese Wahrnehmung dreht sich nicht einfach um Intelligenz oder Intellekt, die Umstellung physische Angewohnheiten und sich bei ihm über jemand anderen beklagte, es nicht glaubte. Offensichtlich hätte sich niemand in der Gegenwart Swami Sivanandas gestritten. Wir stritten uns nur, wenn der Meister nicht da war! Und so geschah aller Unfug hinter seinem Rücken. Wenn man eine Beschwerde gegen jemanden bei ihm vorbrachte, antwortete er: „Ach wirklich?“, aber er glaubte es nicht richtig, weil er es nicht mit seinen eigenen Augen gesehen hatte. Natürlich hätte er es auch nie gesehen, weil sich ja niemand in seiner Gegenwart so verhalten hätte.

Wenn der Sekretär oder irgend jemand beim Meister eine Beschwerde vorbrachte, dass So-und-so raucht und Swamiji spürte, dass da ein Keim von Wahr heit daran war - dann schrieb er einen Artikel über die Gefahren des Rauchens. Wenn die Person, gegen die die Beschwerde vorgebracht worden war, gut Maschine schreiben konnte, würde er ihn bitten, es zu schreiben. Es gab keine direkte Konfrontation, aber es war möglich, dass sich beimn Schreiben die Botschaft ins Herz schleichen würde. Konnte er nicht gut auf der Maschine schreiben, lies Swamiji es von jemand anderem schreiben und bat denjenigen, es mit zum Abendsatsang zu nehmen. In jenen Tagen wurde im Satsang für gewöhnlich viel aus Schriften und ab und an von Swamijis eigenen Texten gelesen. Andiesem Tag sagte er: „Mukunda, Du hast diesen Artikel geschrieben?“ „Ja, Swamiji.“ „Bitte ihn, es vorzulesen“ - wie zufällig, als wäre es gar nicht wichtig, wer es nun liest. So wurde es dem Mann gegeben, gegen den die Beschwerde eingereicht wurde. Im Satsang mit all diesen Leuten um sich musste er laut vor lesen: „Rauche nicht, es ist tödlich, es vergiftet deine Lunge, etc. Höre darum sofort mit dem Rauchen auf!“ Möglicherweise verstand er die Botschaft. Oftmals bat Swamiji jemanden, einen Vortrag zu halten. Sagen wir, man wäre ein Mensch mit schlechter Laune. Jederzeit konnte man gebeten werden, in einer Gruppe einen Vortrag über Wut zu halten. Dann hätte man nie behauptet, dass Wut gut sei. Man hätte hervorgehoben, dass ein spiritueller Aspirant völlig ruhig und geduldig und so weiter sein muss. Währenddessen hörte man sich selber unumgänglich zu.

Das fundamentale Prinzip all dessen ist, dass man niemals von Swami Sivananda kritisierst wurde. Wäre man von ihm kritisiert oder ins Gebet genommen worden, würde all dies wirkungslos gewesen sein. Wenn man sich trotz aller Ausbildung nicht zurückhalten konnte, einen Streit mit jemand anderem anfing und der Streit sich so hochschaukelte, dass er ihm zu Ohren kam und beide vor ihn gebracht wurden, war das erste, was er tat, einen zu loben. „Ihr habt diese Qualität und jene Qualität. Fähig zu sein, der Welt zu entsagen und hierher zu kommen und im Ganges zu baden, ist das größte Glück. Ihr müsst in hunderten vergangener Geburten spirituelle Praktiken (Sadhana) gepflegt haben, um spirituell veranlagt zu sein. Und ihr müsst die Gnade tausender Heiliger verdient haben, um hier in einen Ashram gebracht worden zu sein, um ein spirituelles Leben zu führen.“ Wenn er dann hervorgehoben hatte, dass man an spirituellen Qualitäten sagenhaft reich war, fügte er hinzu, „Warum wollt ihr streiten? Es ist nur ein kleiner Fehler. Werdet nicht wütend. Wenn ihr wütend werdet, könntet ihr eure Zukunftsaussichten verderben, eure ganze Arbeit. Habt ihr schon Frühstück gegessen? Habt ihr Kaffee getrunken, Tee? Soll ich noch etwas holen?“ Fertig. Ein ganzes Bund Karotten und ein kleines bisschen Peitsche, und sofort wird es in noch mehr Obst und Milch eingepackt. Zu irgendeinem Zeitpunkt muss die Person einfach auf die Unreinheit aufmerksam werden.

Unreinheit ist keine statische Sache. Wir sagen, dass es im Charakter einer Person liegt, schlechte Laune zu haben, geizig oder dumm zu sein. Doch selbst das ändert sich. Möglicherweise hat jemand psychologische Angewohn heiten gehabt und ist durch irgendeine Art konstruktiver Kritik (nicht vom Meister, sondern von anderen) auf diese besonderen Fehler auf merksam gemacht worden und konnte viele davon irgendwie überwinden, einen nach dem anderen. Dann wird er furchtbar eingebildet und egoistisch und sagt: „Ich war ein Scheusal, ich habe jeden gehasst. Jetzt bin ich sehr, sehr friedvoll.“ Er ist aus der Bratpfanne in das Feuer gerutscht. In der Bratpfanne hätte er es noch ein paar Tage gemacht, im Feuer ist sofort Schluss mit ihm! Sein Ego ist jetzt enorm. Das ist nicht gut. Wenn man diese Übel attackiert, steht man sich Angesicht zu Angesicht mit dem Ego (dem Oberbefehlshaber, wie Swamiji immer sagte). Wenn man die Soldaten attackiert, rückt der Oberbefehlshaber ins Blickfeld. Wut, Gier und Eifersucht sind ganz ohne Wirkung und an sich letztendlich gar nicht so schlimme Dinge. Aber indem man sich mit ihnen beschäftigt, mag man herausfinden, dass das Ego eines ist. Das Ego nimmt all diese Formen an. Dasselbe Ego verkleidet sich als Wut zu einem Zeitpunkt, und wenn man die Wut überwunden hat, wird es zu Eifersucht oder Gier. Dasselbe Ego kommt wieder und wieder. Der Versuch, diese psychologischen Merkmale zu verstehen, hat nicht zum Ziel, sie zu überwinden - ‘überwinden’ impliziert Arroganz, Egoismus, Eitelkeit - sondern sie zu verstehen. Was lodert auf? Das Ego. Was ist gierig? Das Ego. Was ist eifersüchtig? Wieder das Ego. Also ist man nie sicher.

Krishna zeigt diese Wahrheit im letzten Vers des zweiten Kapitels auf.

esha brahmi sthitih partha nai'nam prapya vimuhyati (II.72)

„Dies ist das Brahmische Stadium, das Stadium der Erleuchtung. Hat man es erreicht, wird man nicht mehr getäuscht“ - man wird nicht mehr zum Narren gehalten. Wird man zum Narren gehalten, ist man nicht erleuchtet, man glaubte nur, man wäre erleuchtet, man glaubte, ein Heiliger zu sein. Man ist es nicht. Noch einmal:

sthitva 'syamantakale 'pi brahmanirvanamrcchati (II.72)

„Wenn man am Ende des Lebens darin gefestigt ist, ist man sicher.“ Wenn man vollständig und ganz tot ist, ist man absolut sicher. Bis dahin gibt es die Möglichkeit, dass ein Fehler, der überwunden wurde, durch das Ego als anderer wieder aufersteht. Dieses sind Swamijis berühmte und oft wiederholte Worte: „Bis zum Ende deines Lebens musst du wachsam sein.“