Yoga Geschichten

Ratnakar der Räuber

Es war einmal ein sehr geschickter Räuber, der weithin gefürchtet war. Er lebte in einem Wald, durch den eine Fernstrasse führte. Er versteckte sich auf Bäumen und sowie jemand des Weges kam, sprang er dem Reisenden vor die Füße, bedrohte ihn mit einem Schwert und forderte die Herausgabe von Gold und Wertsachen.

Der König hatte schon des öfteren seine Truppen in den Wald geschickt, um ihn gefangen zu nehmen. Aber da er so geschickt war und die Gabe hatte, tagelang regungslos in einem Baumwipfel auszuharren, hatten sie ihn nie fassen können – denn schließlich konnten sie nicht jeden Baum durchsuchen.

Eines Tages kam Narada, ein großer Weiser und Heiliger, des Weges. Narada hatte meist eine Vina (indisches Saiteninstrument) bei sich und pflegte Mantras zu singen. So spielte er auch jetzt auf seiner Vina und sang dazu: „Om Namo Narayanaya. Om Namo Narayanaya. Om Namo Narayanaya”, als ihm Ratnakar plötzlich vor die Füße sprang und ihm drohend sein Schwert hinhielt.

„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er drohend.

„Nein, bisher noch nicht, wir haben uns ja noch nicht vorgestellt. Aber wir können uns gerne bekannt machen. Ich heiße Narada. Und wie heißt du?“

„Ich bin Ratnakar der Räuber“

„Ja, sehr angenehm. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Ratnakar, der es gewohnt war, dass alle ihn fürchteten, war etwas irritiert.

„Gib’ mir Gold und Diamanten und alles, was Du an Wertvollem bei dir trägst. Sonst schlage ich dir eine Hand und einen Fuß ab“, sagte er und richtete drohend seine Waffe auf ihn.

Narada zeigte immer noch nicht den mindesten Anflug von Angst und wich auch nicht zurück. Im Gegenteil, er lächelte und sagte dann ganz ruhig:

„Weißt du, ich lebe von dem, was mir die Leute unterwegs zu essen geben. Geld und Gold habe ich leider keines.“ Er überlegte einen Augenblick, dann fügte er hinzu: „Aber hier, meine Vina kann ich Dir gerne geben und Dir auch zeigen, wie man damit umgeht.“ „Vina, was ist das?“

„Dieses Musikinstrument hier. Aber weißt du, einen alten wehrlosen Mann wie mich zu überfallen, bringt dir wahrlich keinen Ruhm und ist deiner nicht würdig. Ich kenne einen Gegner, der ist tausendmal stärker als du.“ „Stärker als ich? Das gibt es nicht. Ich habe bisher jeden besiegt! Wer soll das sein?“ „Es ist dein eigener Geist.“ „Mein Geist? Was soll das heißen?“ „Dein größter Gegner ist dein Geist, deine Gedanken. Du kannst sie nämlich nicht kontrollieren und beherrschen. Ich kann es dir beweisen. Setz’ dich mal fünf Minuten ruhig hin“ – hier zeigte Narada dem Räuber, wie man sich kreuzbeinig zur Meditation hinsetzt – „und jetzt versuche mal, fünf Minuten lang an nichts zu denken.“ – Nun, jeder weiß, was passiert, wenn man an nichts denken will – zahllose Gedanken stürzen auf einen ein.

Nach ein paar Minuten beendete Narada das Experiment und fragte: „Und, wer war stärker, du oder dein Geist?“ Ratnakar antwortete: „Du, du scheinst etwas zu wissen. Gibt es einen Trick?“ Als Räuber wusste er, dass man im Leben meist nur mit Tricks zurechtkam. Narada erwiderte: „Ja, es gibt einen Trick. Man muss den Namen Gottes, ein Mantra, beständig wiederholen. Und für dich wäre ‚Rama’ am geeignetsten.“ „Der Name Gottes? Mit Gott will ich nichts zu tun haben. Ich will den Geist beherrschen, weiter nichts.“ „Gut, es geht auch anders. Lass mich mal überlegen. Ja, ich hab’s. Kennst du Mara?“ „Den Dämon? Ja, klar.“ „Gut. Dann setze dich hin und wiederhole ‚Mara Mara Mara...’ In einer Woche komme ich wieder und dann kannst du mir sagen, welche Fortschritte du gemacht hast.“ Ratnakar setzte sich wieder in Meditationshaltung hin und begann zu wiederholen: „Mara Mara Mara Mara … ma … Rama Rama.....“ Ganz unmerklich wurde bei der ununterbrochenen Wiederholung aus „Mara“ „Rama“. Narada blieb noch eine Weile bei ihm und meditierte mit ihm, dann ging er seines Weges.

Eine Woche später kam er wieder vorbei, um nach seinem neuen Schüler zu sehen. Es war alles still. Er ging mehrfach an der besagten Stelle auf und ab, aber keiner sprang ihm vor die Füße und weit und breit war kein Ratnakar zu sehen. „Ratnakar, Ratnakar“, rief er. Keine Antwort. Aber am Wegesrand gab es einen großen Termitenhügel mit einem regen Verkehr an Ameisen. Mit der yogischen Kraft seines Dritten Auges erkannte Narada plötzlich, dass hier die Stelle war, wo er Ratnakar verlassen hatte und dass Ratnakar unter dem Ameisenhügel war.

Das ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in den mythologischen Geschichten, dass Ameisen einen Hügel über selbstverwirklichte Weise bauen. Das soll zwei Dinge veranschaulichen: Zum einen, dass Tiere niemanden verletzen, der selbst diese friedliche Schwingung der Meditation und des Nichtverletzens ausstrahlt und sich von dieser Schwingung auch angezogen fühlen, und zum anderen soll es die große Konzentration und Tiefe der Versenkung zeigen, die nicht einmal durch einen ununterbrochenen Strom von Ameisen zu stören ist.

Narada sprach nur einmal „Ooooom“ und weckte so Ratnakar aus seinem Samadhi (überbewusster Zustand). Ratnakar erhielt den Namen Valmiki (der aus einem Ameisenhügel kam) und wurde ein großer Heiliger und Weiser. Er schrieb anschließend das berühmte Sanskrit-Epos Ramayana, in dem die ganze Geschichte von Rama und Sita erzählt wird.