Japa Yoga von Swami Sivananda

  • 1. Kapitel Die Lehre des Japa

Was ist Japa?

Japa ist die Wiederholung eines Mantras oder Namens Gottes. Im jetzigen Kali Yuga (Eisernes Zeitalter) ist die körperliche Verfassung der überwiegenden Mehrheit der Menschen nicht gut; daher sind strenge Hatha-Yoga-Praktiken schwierig. Japa ist ein leichter Weg zur Gottesverwirklichung. Tukaram von Deo, ein Heiliger aus Maharashtra, Dhruva, Prahlada, Valmiki Rishi, Ramakrishna Paramahamsa – sie alle erreichten Erlösung durch Aussprechen des Namens Gottes.

Japa ist ein wichtiger Teil des Yoga. In der Gita steht: "Yajnanam Japa-Yajnosmi – Unter den Yajnas (Opfern) bin ich das Opfer des Japa". Im Kali Yuga kann schon allein das Praktizieren von Japa ewigen Frieden, Glückseligkeit und Unsterblichkeit bringen. Japa führt letztendlich zu Samadhi, dem überbewußten Zustand, zur Einheit mit Gott. Japa muß zur Gewohnheit werden und mit einem sattwigen (reinen), göttlichen Gefühl, mit Reinheit, Liebe (Prema) und Glauben (Shraddha) ausgeübt werden. Es gibt keine erhebendere Yoga-Art als Japa. Es verleiht alle überirdischen Kräfte (IshtaSiddhis), Hingabe (Bhakti) und Befreiung (Mukti).

Japa ist die Wiederholung des Mantras. Dhyana ist Meditation auf die Gestalt Gottes mit Eigenschaften. Das ist der Unterschied zwischen Japa und Dhyana. Es gibt Meditation mit Japa (Japa-Sahita) und Meditation ohne Japa (Japa-Rahita). Am Anfang sollte man die Meditation mit Japa verbinden. Wenn man Fortschritte macht, fällt die Mantrawiederholung irgendwann von selbst weg und es bleibt nur Meditation übrig. Das ist ein fortgeschrittenes Stadium. Dann kann man Konzentration getrennt üben. In dieser Hinsicht kann man so vorgehen, wie es einem am besten liegt. Om ist sowohl Saguna (mit Eigenschaften) als auch Nirguna (ohne Eigenschaften), manifestiertes und unmanifestiertes Brahman (Absolutes). Ein Anhänger Ramas kann "Om Ram" wiederholen zur Verehrung des manifestierten Brahman.

Der Name (Nama) und das Objekt (Rupa), das durch den Namen bezeichnet wird, sind untrennbar. Gedanke und Wort sind untrennbar. Immer wenn man an den Namen seines Sohnes denkt, steht sein Gesicht vor dem inneren Auge, und umgekehrt. Genauso erscheint das Bild Ramas oder Krishnas im Geist, wenn man ein Rama- oder Krishna-Mantra wiederholt. Deshalb gehören Japa und Dhyana zusammen. Sie sind untrennbar.

Stelle dir während der Mantra-Wiederholung vor, daß du wirklich zu deinem persönlichen Gott betest, daß er dir tatsächlich zuhört, sich dir voll Barmherzigkeit und Gnade zuwendet und dir mit vollen Händen Freiheit von Furcht schenkt, um dich zu Moksha, der ersehnten Befreiung, zu führen. Halte dieses innige Gefühl (Bhava) aufrecht.

Übe Japa mit Gefühl aus. Kenne die Bedeutung des Mantras. Spüre Seine Gegenwart in allem und überall. Rücke näher und dichter an Ihn heran, wenn du das Mantra wiederholst. Stelle dir vor, er strahlt im Innern deines Herzens. Er ist Zeuge deiner Mantra-Wiederholung und deines Gemütes.

Man muß Japa (Mantra-Wiederholung) und Nama-Smarana (Erinnerung an den Namen Gottes) ernsthaft und aufrichtig mit vollkommenem Glauben betreiben. Seinen Namen zu singen ist nichts anderes als Ihm zu dienen. Wenn man an Seinen Namen denkt, muß man denselben Fluß von Liebe und Hingabe im Herzen fühlen, wie man ihn natürlicherweise im Herzen haben wird, wenn man Ihn tatsächlich sieht. Man muß vollkommen an die Ewigkeit seines Namens glauben.

Mantra Yoga

Mantra Yoga ist eine exakte Wissenschaft. "Mananat trayate iti mantrah – Ein Mantra ist das, wodurch man – bei ständigem Wiederholen und sich daran Erinnern – vom Rad der Geburt und des Todes erlöst wird." Durch diese Mantra-Wiederholung (Manana) in der Meditation erlangt Jiva, die individuelle Seele, Freiheit von Sünde, Freude im Himmel und endgültige Befreiung sowie die "vierfache Frucht" (Chaturvarga), nämlich Dharma (rechtes Handeln), Artha (Wohlstand), Kama (Wunscherfüllung) und Moksha (Befreiung). Ein Mantra heißt so, weil es sich durch einen geistigen Prozeß entfaltet. Die Wurzel "man" im Wort Mantra kommt von der ersten Silbe des Sanskritwortes für "denken" und "tra" ist abgeleitet von "trai", "schützen" oder "befreien" von den Bindungen des Samsara und der Welt der Erscheinungen. Durch die Kombination von "man" (daran denken, sich daran erinnern) und "tra"(führen) entsteht Mantra, eine mächtige Klangschwingung, die die Erfüllung der vier Hauptbestrebungen des Men-schen (Chaturvarga), nämlich Dharma, Artha, Kama und Moksha mit sich bringt.

Ein Mantra ist eine Gottheit. Es ist göttliche Macht (Daivi Shakti), die sich in einem Klangkörper manifestiert. Das Mantra selbst ist die Gottheit. Der Aspirant sollte sein möglichstes tun, um seine Einheit mit dem Mantra der Gottheit zu verwirklichen. In dem Maß, in dem ihm dies gelingt, unterstützt die Kraft des Mantras (Mantra-Shakti) die Kraft seiner spirituellen Praxis (Sadhana-Shakti). So wie eine Flamme vom Wind angefacht wird, wird die persönliche Energie des Aspiranten durch die Energie des Mantras gestärkt, worauf sich die individuelle Shakti (Kraft, Energie) wieder mit der Mantra-Shakti verbindet und diese weiter verstärkt.

Die Energie, die der Aspirant in seine spirituelle Übung steckt, weckt das Mantra aus dem Schlaf. Das Mantra einer Gottheit ist der Buchstabe oder die Buchstabenkombination, die dem Übenden, der es durch die Kraft seiner spirituellen Praxis erweckt hat, das Wesen seiner Gottheit enthüllt. Das Mantra ist eine geballte strahlende, feurige Energie (Tejas). Es weckt übernatürliche Kräfte. Ein Mantra erzeugt und beschleunigt schöpferische Kraft. Für das spirituelle Leben brauchen wir Harmonie in allen Teilen unseres Seins.

Das gesamte Wesen muß in vollkommener Ruhe und Übereinstimmung mit dem Göttlichen sein. Nur dann kann die spirituelle Wahrheit verwirklicht werden. Das Mantra führt zu Harmonie. Ein Mantra hat die Macht, kosmisches und allumfassendes Bewußtsein freizusetzen. Es verleiht dem Schüler Erleuchtung, Freiheit, höchsten Frieden, unendliche Glückseligkeit und Unsterblichkeit. Wenn das Mantra ständig wiederholt wird, weckt es das kosmische Bewußtsein (Chit oder Chaitanya). Im Mantra ist kosmisches Bewußtsein verborgen.

Klänge exisitieren in vier grundlegenden Zuständen: erstens Vaikhari, hörbarer Klang in seiner maximalen Differenzierung; zweitens Madhyama, der innere, feine, ätherische Klang, der für das physikalische Ohr unhörbar ist; drittens Pasyanti, ein noch höherer, innerlicherer, ätherischerer Zustand; viertens Para, der "höchste" Klang, der die kosmische Energie (Ishwara Shakti) repräsentiert. Er ist der ursächliche, unmanifestierte, indifferenzierte (Karana) Klangzustand. Der Para-Klang ist immer gleich, nicht unterschiedlich in den verschiedenen Sprachen wie Vaikhari. Er ist die unveränderliche Ursubstanz aller Klänge, die Quelle des Universums.

Mantra-Wiederholung kann den Übenden zur Verwirklichung seines höchsten Zieles bringen, selbst wenn er die Bedeutung des Mantras nicht kennt. Es wird dann nur ein bißchen länger dauern. Im Namen Gottes und im Mantra liegt eine unbeschreibliche Kraft. Wer das Mantra mit Konzentration auf seine Bedeutung wiederholt, wird schnell Gottesbewußtsein erlangen.

Die Wiederholung des Mantras entfernt den Schmutz des Geistes, wie Verlangen, Ärger und Gier. Wie ein gereinigter Spiegel seine Umgebung widerspiegeln kann, so erwirbt der Geist nach Befreiung von seinen Unreinheiten die Fähigkeit, die höhere spirituelle Wahrheit zu reflektieren. Wie Seife ein schmutziges Tuch reinigt, ist das Mantra eine spirituelle Seife zur Reinigung des Geistes. Wie Feuer Gold reinigt, so reinigt das Mantra den Geist. Schon ein wenig Mantra-Rezitation mit Glauben, richtigem Gefühl und einpünktiger Konzentration auf seine Bedeutung zerstört alle Unreinheiten des Geistes. Man sollte den Namen Gottes oder irgendein Mantra jeden Tag regelmäßig wiederholen. Mantra-Wiederholung löscht Sünden aus und gewährt immerwährenden Frieden, unendliche Wonne, Wohlergehen und Unsterblichkeit. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.

Klang und Bild

Klänge sind Schwingungen. Sie lassen bestimmte Formen entstehen. Jeder Klang ruft eine Form in der unsichtbaren Welt hervor. Klangkombinationen schaffen komplexe Formen. Wissenschaftliche Bücher beschreiben Experimente, die zeigen, wie Töne eines Instruments in einem Sandbett bestimmte geometrische Figuren hervorrufen. Das beweist, daß rhythmische Schwingungen gleichmäßige geometrische Figuren entstehen lassen. Hinduistische Bücher über Musik beschreiben anschaulich bestimmte Formen verschiedener Melodien, der "Ragas" und "Raginis". Der Megha-Raga-Ton zum Beispiel soll eine majestätische, auf einem Elefant sitzende Gesalt sein. Der Vasanta-Raga-Ton wird als schöner, blumengeschmückter Jüngling beschrieben. Ein richtig gesungener Raga- oder Ragini-Ton ruft also ätherische Schwingungsreihen hervor, die eine charakteristische Form dieses Tons entstehen lassen.

Diese Ansicht wurde durch Versuche von Frau Watts Hughes, der Autorin von "Voice Figure", bekräftigt. Sie präsentierte vor einem ausgewählten Publikum die überwältigenden wissenschaftlichen Ergebnisse ihrer mehrjährigen geduldigen Forschungsarbeit. Frau Hughes singt in ein einfaches, "Eidophon" genanntes Instrument, das aus einem Rohr und einer beweglichen Membran besteht. Jeder Ton nimmt eine bestimmte, gleichbleibende Form an, wie sie während der Vorlesung demonstrierte. Sie legte winzige Samenkörner auf die flexible Membran, die durch die Tonschwingungen in Bewegung versetzt wurden und so bestimmte geometrische Muster bildeten. Danach benutzte sie verschiedene pulverisierte Substanzen, wobei sich Copodium-Staub als besonders geeignet erwies. Ein Berichterstatter beschreibt die Formen der Töne als beeindruckende geometrische, perspektivische und schattierte Bilder: "Sterne, Spiralen, Schlangen und Phantasiegebilde, die sich in ihrer Fülle fantastischer Muster gegenseitig übertreffen." Das waren die ersten demonstrierten Formen. Einmal sang Frau Hughes einen Ton, woraufhin ein Gänseblümchen erschien und wieder verschwand. Sie sagte: "Ich habe wochenlang versucht, es wieder erscheinen zu lassen; jetzt ist es mir endlich gelungen."

Jetzt kennt sie die präzisen Modulationen dieses besonderen Tons, der ein Gänseblümchen ist. Die Gänseblümchen-Form entsteht dauerhaft und klar durch eine spezielle Abfolge von Crescendo (stärker werdend) und Diminuendo (schwächer werdend) beim Singen. Nachdem die Gäste überwältigt auf eine Reihe von Gänseblümchen gestarrt hatten – einige davon mit mehreren Lagen von Blütenblättern, die ganz deutlich sichtbar waren –, zeigte sie ihnen andere Töne, Gänseblümchen von großer Schönheit. "Wunderbar! Wunderschön!" riefen sie aus. Eine auserlesene Form nach der anderen erschien auf der Leinwand! Den Blumen folgten Meeresungeheuer, Schlangenformen in sich aufblähender Rundheit, voller Licht, Schatten, Details und Perspektive. Dann kamen Formen von Bäumen, Bäume mit fallenden Früchten, Bäume mit einem felsigen Vordergrund, Bäume mit dem Meer im Hintergrund. "Genau wie japanische Landschaften!", riefen die Menschen im Publikum.

Als Madame Finlang in Frankreich das "Ave Maria" sang, entstand die Form der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß. Der Gesang einer Hymne an "Bhairava" durch einen bengalischen Studenten aus Varanasi, der in Frankreich studierte, ließ die Gestalt Bhairavas, einer Inkarnation Shivas, mit seinem Fahrzeug, dem Hund, erscheinen.

So entsteht durch wiederholtes Singen des Namens Gottes schrittweise die Form der Gottheit oder die besondere Manifestation der Gottheit, die man verehrt. Es wirkt wie ein Brennglas, das den segensreichen Einfluß des Göttlichen Wesens von der Mitte her ausstrahlen und den Betenden ganz durchdringen läßt.

Zu Beginn des meditativen Zustands intensiviert sich der innere Gedankenfluß. Je tiefer die Meditation, desto stärker wird diese Wirkung. Die nach oben gerichtete Konzentration des Geistes schickt einen Kraftstrom durch den Scheitel des Kopfes hindurch. Die Antwort kommt in Form eines feinen Magnetismusregens. Diese abwärts gerichtete Kraft schickt ein wundervolles Glühen durch den Körper, und man fühlt sich wie in sanfter Elektrizität gebadet.


Die oben beschriebenen Experimente beweisen folgende Tatsachen:

  1. Klänge produzieren Formen.
  2. Bestimmte Töne rufen bestimmte Formen hervor.
  3. Wenn man eine bestimmte Form entstehen lassen will, muß man einen bestimmten Ton in einer bestimmten Tonhöhe erzeugen.

Die Wiederholung des Panchakshara (fünfsilbigen) Mantras "Om Nama Shivaya" läßt die Form von Shiva entstehen. Die Wiederholung von "Om Namo Narayanaya", des Ashtakshara (achtsilbigen) Mantras von Vischnu, bringt die Form von Vishnu hervor. In einem Mantra sind die Tonschwingungen äußerst wichtig, ebenso die Tonhöhe (Svara) und die Klangfarbe (Varna). In der unsichtbaren Welt gehören zu allen Tönen Farben, so daß sie farbige Formen in allen Schattierungen hervorbringen. Gleichermaßen sind Farben von Tönen begleitet. Um eine bestimmte Form zu erzeugen, braucht es einen bestimmten Ton. Töne in verschiedenen Tonhöhen rufen unterschiedliche Formen hervor. In der Wissenschaft der Mantras benutzen wir verschiedene Mantras, um verschiedene Götter anzurufen. Wenn man Shiva anbetet, benutzt man "Om Namah Shivaya", aber wenn man Vishnu oder Shakti anrufen will, muß man das Mantra ändern. Was geschieht, wenn ein Mantra rezitiert wird? Die mehrfache Wiederholung des Mantras läßt im Geist die Form der Gottheit entstehen, die mit dem Mantra verbunden ist. Diese Gestalt wird zum Mittelpunkt des Bewußtseins, wenn sie direkt wahrgenommen wird. Daher sagt man, das Mantra ist Gott selbst. Dies erklärt vielleicht die vielfach mißverstandene Behauptung der Mimamsa-Philosophen, wonach die Götter nicht ohne Mantras existieren (Mantratmako Devah). Wenn also ein Mantra einer Gottheit richtig rezitiert wird, schaffen seine Schwingungen auf höherer Ebene die besondere Form, die diese Gottheit verkörpert.