Samadhi Yoga

Anhang I: Eine Erklärung zu Yoga

Ansprache anlässlich des Besuchs des von der indischen Regierung ernannten „Komitees zur Evaluierung von Yoga Praktiken“ bei der Divine Life Society, Sivananda Ashram, Sivanandanagar (Himalaya) vorgelegt.

Pujya Atman,

Respektvolle Grüße und Ehrerbietung.

Es ist uns eine große Freude, Sie hier an diesem heiligen Ort begrüßen zu dürfen, und wir empfinden es als Privileg, Ihnen sagen zu können, dass die Divine Life Society, die von Seiner Heiligkeit Sri Swami Sivanandaji Maharaj im Jahre 1936 gegründet wurde, zur größtmöglichen Verbreitung der wertvollsten und besten Elemente der großen Kultur und des lebendigen Idealismus Indiens beiträgt. Seine Heiligkeit hat ohne Unterlass daran gearbeitet, durch diese Gesellschaft und durch den Ashram die essentiellen, ethischen und spirituellen Werte Indiens und das Wissen vom Höheren Leben weltweit zu verbreiten – und Einrichtungen für das Erlernen und Üben von Yoga bereit zu stellen und zugänglich zu machen.

Und was verstehen wir unter Yoga?

Es ist wahrlich keine Überraschung, dass die meisten Menschen keinen Zugang zu Yoga über die physische Ebene hinaus haben, da wahrer Yoga strenge persönliche Disziplin und intensives Nachdenken unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers erfordert. Der Großteil strebt nach materiellem Vorteil, und wenngleich Yoga übersinnlichen und spirituellen Segen verspricht, wird er für Durchschnittsgeister, die nach sofortigen greifbaren Resultaten schreien, unattraktiv. Yoga ist kein Mittel für bloße persönliche Erholung, sondern ist von universeller Natur und kann und sollte in allen Bereichen des Lebens – im sozialen, nationalen, politischen etc. – wirksam eingesetzt werden. Diese Auffassung von Yoga reicht weit über die physische und auch über die geistige Ausdehnung der Existenz hinaus. Darum ist die Vorstellung von Anfängern, dass Yoga aus physischen Übungen, also nur aus Asanas und Pranayamas, bestehe, ein großer Irrtum. Wir verstehen Yoga als einen kosmischen Prozess der göttlichen Natur (Aishvara Yoga), der sich in jedem Individuum des Kosmos bemerkbar macht. Physische Übungen, Sport und Erholung haben mit echtem Yoga nichts zu tun, wenngleich spezielle Übungen wie Asanas und Pranayamas, Bandhas, Mudras und Kriyas in besonderen Yogatechniken als Hilfsmittel erachtet werden. Doch Yoga kann unter keinen Umständen auf die Ebene von erholsamen Übungen, Sport  und Ähnlichem reduziert werden.  

Yoga ist nicht einseitig, darin liegt der Wesenskern der ganzen Sache. Yoga ist allumfassend – er beinhaltet physische, geistige und moralische Erziehung und Kultur in höchstem spirituellem Leben, welches jeder in der Welt als das höchste Ideal der Existenz erkennen muss. Wenn es da heißt, dass ein Staatsmann oder ein Geschäftsführer in erster Linie ein Philosoph sein sollte, ist damit gemeint, dass der Geist die Materie beherrschen soll, dass das Universelle das Individuelle bestimmen soll, und dass die Einbindung des Lebens in die unterschiedlichen Phasen und Schichten der Verwirklichung von Idealen und Werten über persönliche Interessen und Wünsche regieren soll. Yoga tut all das, und ein Leben in Yoga ist echte Philosophie. Es kann keinen unterschiedlichen Yoga für die persönliche Ebene und für die soziale und regierungspolitische Ebene etc. geben, denn Yoga ist Eins. Man wendet ihn in unterschiedlichen Bereichen des Lebens auf unterschiedliche Weise an. Yoga ist ein integrales Bildungssystem, d.h. Erziehung nicht nur des Körpers und des Geistes oder Intellekts, sondern auch der inneren Seele. Yoga ist das vollständige Leben! Soziale Arbeit, Bildungsreformen und philantropisches Handeln sowie politische Aktivität und Bemühungen um nationalen Aufschwung sind, zumindest der Standardschrift des Yoga, der Bhagavad Gita, nach, nur im Licht dieses Yoga der Selbst-Integration im individuellen Rahmen, in der Familie, der Gemeinde, der Nation und der Welt bedeutungsvoll. Was könnte eine größere Freude sein als die Hoffnung, dass die Regierungen der Welt, insbesondere die des heutigen freien Indiens, zum Licht der Erkenntnis dieser großartigen Kunst und Wissenschaft des Lebens erwachen und sie im täglichen Leben der Menschen zu vollem Einsatz bringen!

Im Moment gibt es keinerlei derartigen Yoga im Leben der Nationen zu beobachten. Und die Verantwortung liegt in dieser Hinsicht nicht nur bei der Regierung; sie liegt auch bei der Bevölkerung. Die Menschen müssen mehr Interesse und Verständnis dafür entwickeln und erkennen, wie grundlegend er für ein sinnerfülltes Leben ist. Die Frage dreht sich ausschließlich darum, ob wir für Nahrung, Kleidung und Unterkunft, für einen Ruf, Berühmtheit, Macht und Reichtum leben oder ob es einen tieferen, breiteren Sinn in unserer Existenz und in unserem Tun hier auf der Erde gibt. Selbst wenn man davon ausginge, dass die weltlichen und materiellen Ideale um ihrer selbst willen erstrebenswert sind, erklärt Yoga, dass diese erfolgreich erlangt werden können, und zwar in ihrer wahren Form, dank einer Sichtweise, die über das rein Weltliche hinausgehoben wird. Und wenn es doch einen höheren Lebenszweck als diesen gibt, braucht nicht gesagt zu werden, dass Yoga nicht auf Techniken für körperliche Gesundheit reduziert werden kann. Sobald die Menschen genügend Interesse dafür entwickeln, dieses Wissen in ihren Alltag zu integrieren, wird die Regierung automatisch gebührende Aufmerksamkeit darauf richten. Öffentliche Unterstützung hängt von öffentlichen Interessen ab, und diese Interessen beruhen wiederum direkt auf Verständnis. Das erste, was getan werden muss, ist, die Unwissenheit zu beseitigen. Dann wird das erwartete Ergebnis folgen.

Was sind kulturelle und nationale Interessen? Eine Antwort auf diese Frage zeigt den Grad auf, zu dem die menschliche Gesellschaft die Yoga Praxis braucht. Kultur ist hauptsächlich eine persönliche Sache, da die Gesellschaft oder die Nation nichts als eine Gruppe von Individuen ist, die durch ein gemeinsames Ziel verbunden sind. Was der Nation gut tut, kann nicht schlecht für das Individuum sein, noch kann, was wahrhaft gut für das Individuum ist, nationalem Interesse entgegen stehen; denn das GUTE ist eins, auch wenn Vorlieben und Abneigungen vielleicht vielfältig sind. Um dieses Gute zu erreichen, streben alle und müssen alle danach streben. Die Regierung ist der Hüter der Hauptinteressen der Nation, nicht nur der materiellen und intellektuellen, sondern auch der moralischen und spirituellen. In diesem Punkt ist Yoga im nationalen Leben eine große Unterstützung. Das sollten die Menschen fühlen. Und die Regierung sollte das fördern. Die Gnade Gottes ist mit uns.

Was Yoga einzigartig macht ist, dass diese Methode auf alle Seiten der menschlichen Persönlichkeit wirkt. Einem einzelnen Aspekt des Yoga nachzugehen, ganz und richtig, bedeutet ebenso eine parallele Fortentwicklung in allen anderen Aspekten. Es sollte einem gelingen, den Anforderungen der individuellen Umstände nachzukommen, indem man sich der trans-empirischen Realität zuwendet, die der Individualität zugrunde liegt. Ein Yogi par excellence ist der, welcher, stets mit dem inneren ewigen Wesen vereint, als normale Person lebt und in der Welt zum Wohle aller arbeitet, Lokasangraha (Dienst an der Menschheit) tut, und die Unwissenden leitet ohne ihren Glauben zu verletzen. Es bedeutet, zu lernen, mit dem Universum freundlich umzugehen, und nicht zu versuchen, es zu erobern als ob es sich um einen Feind handelt. Das Relative sollte dem Absoluten entsprechen, obgleich das Relative in den Eigenschaften, die es manifestiert, anders ist als das Absolute. Gemeint ist höchster Gehorsam dem Gesetz gegenüber aus Liebe.

Ausgestattet mit dieser inneren Erleuchtung mag ein Schüler dem Pfad des Yoga in jedem denkbaren Beruf im Leben zu folgen trachten. Jede Tat wird dann notwendigerweise zu einem Ausdruck dafür, dem Virat (Gott) in allen Wesen zu dienen. Alle Handlungen werden durch die Liebe, die das Herz des Anhängers durchströmt, zu einer Geste der Verehrung Gottes. Jede Erscheinung im Universum, jedes Stück Erfahrung, jeder Bewusstheitszustand wird zu göttlicher Anbetung und zum Ausdruck des Unendlichen. Das Schöne hieran ist, dass man sich in jeder Phase des Lebens, selbst während der allerersten Schritte, auf das Unendliche einstimmt, mit der Kraft die einem auf diesem jeweiligen Niveau vergönnt ist. Die einzige Voraussetzung ist allerdings, dass man die niederen Gelüste, Eitelkeit und Einbildung durch und durch aufgibt. Kein Mensch, der an Täuschungen festhält und das Fleisch und den Mammon370 verehrt, kein Mensch, der nicht voller Ehrfurcht ist gegenüber dem Wunder der beseligenden Vision Gottes in Form der Schöpfung, kein Mensch, der glaubt, dass dies hier eines und jenes dort etwas anderes sei, kann hoffen, im Yoga erfolgreich zu sein. Für uns ist Yoga dieses Leben, das ein Jeder von uns leben muss, im Wissen, was dieses Leben ist, und wie es sich in Wirklichkeit zum Universum verhält.

Mit diesen bescheidenen Worten heißen wir das „Komitee zur Evaluierung von Yoga Praktiken“ herzlich willkommen.

DIE DIVINE LIFE SOCIETY