Das Lila, eine Frau zu sein

Die Vielzahl verheirateter Frauen, von denen Ma meist umgeben war, hatte besondere Freude an ihr Lila als ›Frau‹. Frauen fühlten sich von Ma stets wirklich verstanden und anerkannt. Männer waren dagegen immer ungeduldig, manchmal auch eifersüchtig, wenn sie aus scheinbar trivialen Gründen von allen Treffen unter Frauen ausgeschlossen waren.
      Als Ma das Kheyala hatte, daß Didi und Maroni die heilige Schnur tragen sollten, war das eine durchschlagende Neuerung. Später folgten ihnen viele andere junge Frauen darin, sich die Privilegien ebenso wie die strikten Regeln der Zweimalgeborenen zu eigen zu machen.
      Ma führte ganz unauffällig bedeutende Veränderungen ein. Einmal sollte ein Mädchen aus dem Kanyapeeth in Ma‘s Beisein aus einem heiligen Buch vorlesen. Während sie las, legte ihr Ma einen Blütenkranz um den Hals. Auf ein Zeichen von ihr wurde ein kleines Pult, auf das sie das Buch legen konnte, vor dem lesenden Mädchen auf den Boden gestellt. Ihre Stirn wurde mit einem Zeichen aus Sandelpaste markiert. Sie sah nun wie ein für diese Rolle bestimmter Pathak [Vorleser] aus. Diese unscheinbaren Anfänge hatten erstaunliche Folgen. Viele Mädchen aus dem Kanyapeeth sind jetzt Gelehrte und können ohne weiteres öffentliche Vorträge zu religiösen Themen halten. Im September 1995 wurde Gita Banerjee in Varanasi ausgewählt, für eine Woche Vorträge über das Shrimad Bhagavatam zu halten. Sie nahm mit Selbstvertrauen auf dem Vyasasana [Sitz des Vortragenden] Platz und hielt inspirierende Vorträge über die heilige Schrift. Eine würdige Gabe in diesem 100. Geburtsjahr Ma‘s.
      Im Juni 1982 kam Shri Abhinava Bharati Tirtha, der Jagadguru Shankaracharya und Oberhaupt des Shringeri Peetham, mit seinem wichtigsten Gefährten Chhote Maharaj nach Kankhal, um Ma zu besuchen. Der ganze Ashram bereitete ihm einen großartigen Empfang, wie er seiner herausgehobenen Position im Sadhu-Samaj angemessen war. Blumenschmuck und der Klang von Kirtan kündigten ein bevorstehendes Fest an. Alle Riten zum Empfang eines bedeutenden Mahatma wurden ausgeführt.
      Der Jagadguru Shankaracharya schien sehr erfreut. Als er mit Ma im großen Saal saß, stellte sie ihm viele der an ihrer Seite stehenden ›Mädchen‹ vor, zuerst Jaya Bhattcharya, die Leiterin des Kanyapeeth. Als er von ihren akademischen Leistungen hörte, stellte der Jagadguru ihr auf Sanskrit eine Frage über die schwer verständliche Abhandlung Khandanakhandakhadya. Jaya antwortete sehr höflich auf Sanskrit, sie habe die Abhandlung mit Ma‘s und Maharajjis Segen wohl gelesen, aber noch keine Zeit gehabt, über ihre Feinheiten zu meditieren. Sie fügte hinzu: »Wir freuen uns, daß Ihr uns besucht habt. Bitte, kommt wieder.« Maharajji schien mit dieser Antwort sehr zufrieden. Ma stellte dann weitere akademisch gebildete Mädchen vor, die in ihren einfachen gelben Dhotis wie Brahmacharinis aus der Zeit der Upanishaden aussahen. Ms. Padma Mishra, die Präsidentin des Kanyapeeth, war die letzte. Ma sagte: »Pitaji, alle Leistungen dieser Schule sind Padmas Verdienst.«

Der Jagadguru war sichtlich beeindruckt, er wandte sich an seinen Begleiter und sagte auf Sanskrit: »Bei Ma ist dies alles möglich.« Swami Prakashananda dachte beim Anblick von Ma‘s strahlendem Gesicht, daß man auf ihre ›Mädchen‹ wahrhaft stolz sein konnte. Viele teilten seine Bewunderung, denn daß gut ausgebildete Mädchen sich Ma‘s oft wiederholtem Ausspruch ›Allein von Gott zu sprechen ist der Mühe wert, alles andere ist leidvoll und vergebens‹ zu eigen machen, ist ein erstaunliches und erhebendes Vorbild.
      Wie mit allen ihren Lehren ist es schwierig, Ma‘s Kheyal zur Stellung der Frau in unserer Gesellschaft zu analysieren. Daß sie zwischen Männern und Frauen keinen Unterschied machte, was deren Rechte und Pflichten anging, ist offensichtlich, obschon man von ihr gehört hat, es sei kein würdiges Lebensziel, nach einem gleichen Anteil am Besitz zu streben. Sie ermutigte alle Frauen, in eigener Initiative ihren Platz in der Welt zu finden, aber sie trat für eine vom Ethos des Dienens - nicht der Unterwürfigkeit - geprägte Lebensweise ein. Oft sagte sie: »Meine Mutter sagte immer« oder »Meine Mutter hat uns das nicht erlaubt« oder »Meine Mutter hat es so und nicht so gemacht.« Didimas Leben war erfüllt von Seelenstärke, Verzicht, Dienstbereitschaft, Selbstvertrauen unter schwierigen Bedingungen und totaler Identifikation mit dem göttlichen Willen. Ihr Sinn für Humor machte sie immun gegen alle Versuche, ihre Stellung oder Würde herabzusetzen. Sie ließ sich weder wegen ihrer Armut bedauern, noch wegen der Härte ihres Lebens bemitleiden. Sie mußte mit ihrem eigenen Maß gemessen werden, und das war die ungetrübte Würde der Selbstgenügsamkeit.
      Ma schätzte diese Eigenschaften und sprach mit vielen verheirateten Frauen darüber. Sie wollte den Frauen nahebringen, daß sie der Angelpunkt einer intakten Familie seien. Eine Familie hält den Druck verschiedener äußerer Einwirkungen aus, wenn ihr Kern stark ist und sie das Geben und Nehmen der zwischenmenschlichen Beziehungen abfedern kann. Ma bestand jedoch nicht darauf, unter unerträglichen Umständen durchzuhalten. Ein oder zweimal hat sie einer Trennung von Eheleuten zugestimmt, obwohl sie Paare im allgemeinen immer zu einem harmonischen Zusammensein ermutigte. Gespräche über zwischenmenschliche Beziehungen ergaben sich bei ihr oft:
      Frage: »Ma, finden die Leute, die zu dir kommen, Frieden in ihrem Leben?«
      Ma: »Frag sie!«
      Eine Dame: »Ja, wir haben Frieden gefunden.«
      Ma: »Stimmt das? Vielleicht im Moment. Aber sobald du glaubst, daß dein Mann dich vernachlässigt, weinst du; so ist es auch mit den Männern. Wenn er denkt, seine Frau kümmere sich nicht genug um ihn, wird er wütend. Und dann? Man ist eingeschnappt, das Gespräch bricht ab, in manchen Familien für zehn Minuten, in anderen für zehn Tage oder zehn Monate oder sogar zehn Jahre - stimmt es nicht?«

Alle lachten über Ma‘s Darstellung familiärer Probleme. Beschämt gaben sie zu, daß sie Recht habe. Ma fuhr fort: »Manche Frauen sehen zu ihren Männern auf und führen ihre Tätigkeiten mit voller Aufmerksamkeit aus; andere sind dagegen von ihrer eigenen Wichtigkeit erfüllt: ›Warum hört er nicht auf mich? Wenn er nicht tut, was ich will, tue ich auch nicht, was er will‹ - die typische Haltung eines Händlers, eines pakka Sethji [echter Ladenbesitzer]!«
      Die Zuhörer stimmten in Ma‘s Lachen ein. Sie fragte ernsthafter:
      »Auch ein Haushalt ist ein Ashram. Heißt es nicht Grihastashram [Stadium des Lebens als Haushälter]? Wo gäbe es kein Shrama [Härten], kein Leid? Wenn ein Ehemann auf seine Frau hört, wird die Frau auf ihren Mann achten, es muß ein gegenseitiges Einverständnis, ein klares gemeinsames Ziel geben. Eine Einstellung des Dienens sollte herrschen, sonst gibt es Zerwürfnisse. Die Mutter sollte auf den Sohn achten, der Sohn an die Mutter denken - wenn jeder in dem Bewußtsein dient, daß es Gott selbst ist, dem er dient, dann könnt ihr auf Frieden hoffen. Spricht man nicht von Janata-Janardana - Gott in Form des Volks. Euer Ziel sollte sein, in allen Menschen euren Ishta zu sehen; wenn ihr allen angenehm seid, erfreut ihr euren eigenen Ishta. Wenn euer Familienleben nicht harmonisch und friedlich ist, könnt ihr euch nur mühsam eurem spirituellen Ziel nähern. Und seht niemanden als euren Gegner oder Feind an. Es gibt nur den Einen. ›Andere‹ existieren nicht. Alle sind Freunde.«
      Manchmal wurde Ma die Frage gestellt, wer höher und wer niedriger stehe. Bei einem Samyam-Saptah machte ein Aufseher des Satsang einmal eine provozierende Bemerkung. Ein Teilnehmer fragte Ma: »Der Kontrolleur hat eben festgestellt, daß die Brüder den Morgen- und Abendkirtan nicht sehr zahlreich besuchen. Die Schwestern sind bei allen Veranstaltungen des Tages regelmäßiger. Sind demnach Frauen religiöser und kommen schneller zu Gott?«
      Ma antwortete lächelnd: »Frauen haben mehr Selbstdisziplin; schließlich sind sie Mütter. Eine Mutter weiß, wie man dient und durchhält. Jeder bekommt so viel, wie er zu geben imstande ist, ganz gleich, ob ihr hier seid oder zu Haus!«
      Frage: »Können wir weniger geben als sie?«
      Ma vermied eine direkte Antwort. Sie sagte: »Mir fällt dazu eine Legende ein. Als Gott die Welt erschuf und allen Wesen ihren Platz gab, fragte ihn das Böse: ›Wo ist mein Platz?‹ Gott antwortete: ›Richte dich in den Herzen ein, in denen kein Platz für Gottesliebe und Hingabe ist.‹ Wer Gott ergeben ist, wird Freiheit erlangen.«
      Frage: »Haben Frauen in ihrem Streben nach Gott bessere Chancen als Männer?«
      Ma: »Wer sich am tiefsten konzentrieren kann, macht die schnellsten Fortschritte.«
      Der Fragesteller insistierte: »Frauen sind nicht so intelligent, deshalb sind sie von Natur aus gottesfürchtig!«
      Ma verzichtete auf die selbverständliche Erwiderung. Sie fragte: »Willst du sagen, daß die Intelligenteren schneller vorankommen? Ist es nicht so, daß man Ego und Intelligenz Gott unterwerfen muß?«
      »Gewiß.«
      »Also?«
      »Jetzt hast du mich verwirrt!« (Gelächter)
      Ein anderer fragte geradeheraus: »Wer ist wichtiger, die Frau oder der Mann?«
      Ma antwortete: »Beide. Sagst du nicht Hara-Parvati, oder Radhe-Shyama oder Sita-Rama? Der eine ist ohne die andere unvollständig. Wo wärest du ohne deine Shakti
      Ma ließ sich nie in soziale Kontroversen hineinziehen. Wer bei ihr Rat und Hilfe in seinen Schwierigkeiten suchte, wurde als Individuum angehört, und sie bezog sich immer direkt auf seine besondere Situation. Sie führte Hunderte und Tausende solcher Gespräche. Ihre Antworten folgten keinem Standardmuster, denn sie sprach immer mit dem jeweiligen Einzelnen. Verallgemeinernd kann mann höchstens sagen, daß sie den Frauen die Pflicht auferlegte, die schöpferischen Lebenskräfte zusammenzuhalten. Sie unterschied zwischen Gleichheit der Chancen und einer unrealistischen Forderung nach absoluter Gleichheit. Immer hielt sie die Eigenschaft der Freundlichkeit hoch, die alle möglichen Mißverständnisse überbrücken konnte. Sie selbst war in erster Linie allen eine absolut verläßliche Freundin.