Ma in Gesellschaft von Gelehrten

Man spricht von einer Renaissance der klassischen indischen Philosophie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Universitäten brachten eine neue Generation von Gelehrten hervor, die in der eigenen Tradition verwurzelt blieben, aber auch viel vom Westen lernten und von ihm beeinflußt wurden. Pioniere wie Dr. S. Radhakrishnan wurden als Sprecher des modernen Neo-Vedanta berühmt.
      Ma war 1929 mit einer Gruppe von Philosophieprofessoren in Kontakt gekommen, von denen einige über die Jahre mit ihr in Verbindung blieben. Dr. Nalini Kanta Brahma wollte z.B. beweisen, daß es sich bei Ma‘s Lehre nicht um Universalismus handelte, sondern um eine vollkommene Synthese der zwei scheinbar unvereinbaren Aussagen des Advaita, nämlich ›sarvam khalvidam brahma‹ [Alles in der Welt der Erscheinungen ist nichts als Brahman] und ›neti neti‹ [nicht dieses, nicht das], d.h. nichts in dieser Welt der Erscheinungen ist Brahman, alles ist unreal.
      Ein anderer nahmhafter Gelehrter, der Ma gut kennenlernte, war Dr. T.M.P. Mahadevan. Er begegnete ihr 1952 in Madras, als man ihn bat, für sie zu dolmetschen. Zwar beherrschte er Hindi überhaupt nicht, doch Ma verwendete so viele philosophische Sanskritbegriffe, daß ihm die Aufgabe gelang. S.S. Cohen schreibt: »Am 1. November übernahm Dr. T.M.P. Mahadevan, Direktor des philosophischen Seminars an der Universität von Madras, die schwierige Aufgabe, Matajis Antworten simultan zu übersetzen. Am nächsten Tag lieferte er folgendes schriftliche Protokoll der Gespräche ab:
      »Wo Fragen entstehen, gibt es auch Antworten. Wer fragt wen? Es gibt überall nur einen Atman; das bist du. Wo Dualität herrscht, ist Elend. Du bist nicht-dual und ewig. Du suchst und ersehnst Wahrheit, Wissen, Glückseligkeit, weil du das bist. Niemand wünscht sich Tod, Unwissenheit und Leid. Es stimmt, daß der Mensch vom Bösen fasziniert ist. Wenn er ihm nachgibt, kommt er zu Fall. Das liegt an Vasana, d.h. dem Nicht-Erkennen (na) der Existenz Gottes (Vasa). Um dem entgegenzuwirken, muß man von Gott, seinem wahren Selbst, angezogen sein.«
      Eine Frage: »Wie können wir wissen, ob es Wiedergeburt gibt?«
Ma: »Ja, Unwissenheit existiert, dazu braucht man gar nicht bis zur Wiedergeburt zu gehen. Man weiß nicht einmal, was im nächsten Augenblick geschieht. Dennoch gibt es auch Wissen. Die den Schleier der Unwissenheit durchdrungen haben, sagen uns, daß wir der ewige Atman sind.« 1955 bat Dr. Mahadevan Ma um eine Botschaft an die interreligiöse Konferenz in Madras. Nach wiederholten Bemühungen gelang es Didi, Ma folgende Äußerung zu entlocken:

»Unsterbliches Selbst! Sei ein Pilger auf dem Weg zur Unsterblichkeit. Unsterbliches Selbst, unsterblicher Wanderer, bleibe immer in deinem eigenen Selbst.«

Auf ihren Reisen durchs ganze Land traf Ma viele weitere Gelehrte. Einmal besuchte sie einen kranken Devotee im Krankenhaus in Calcutta. Sie hörte, daß Dr. S. Radhakrishnan im Nebenzimmer war. Auf eigene Initiative betrat sie das Zimmer, berührte den von Beruhigungsmitteln betäubten Gelehrten leicht und verließ das Zimmer, bevor die Krankenschwestern merkten, was geschehen war. Als Dr. Radhakrishnan von dem Besuch hörte, war er überwältigt. Auf seine Einladung besuchte ihn Ma, als er wieder gesund war und sie angemessen empfangen konnte, im Rashtrapati Bhavan [Palais des Präsidenten von Indien in New Delhi]. Wenn von den Gelehrten dieses Landes die Rede ist, denkt man wegen seines umfassenden und tiefen Wissens zuallererst an Pandit Gopinath Kaviraj. Wir brauchen seine vielen Ehrentitel aus West und Ost und seine vielen Auszeichnungen von Seiten der Regierung und verschiedener Universitäten nicht aufzuzählen. Ein anderer Gelehrter, Shri Anirvan - selbst ein bedeutender Yogi und bekannter Autor - bezeigte ihm mit folgenden Worten seine Hochachtung:
      »Gopinath war die personifizierte Klang-Form der unsterblichen Seele Indiens; das lebende Inbild der Gelehrsamkeit des alten Landes; das Licht seines Genius war nicht auf Indien begrenzt - es erleuchtete den Weltgeist. Er machte keinen Unterschied zwischen seiner Heimat und fremden Ländern. Wo immer das menschliche Bewußtsein eine hohe Stufe erreicht hat, wußte er das zutiefst zu würdigen.«
      Kaviraj berichtet über seine ersten Eindrücke von Ma: »Die Empfehlung meines Kollegen Pandit P.M. Vidya Vinoda, der für seine hohen Ansprüche an Menschen und Dinge bekannt war und niemanden mit seiner Kritik verschonte, schien mir von besonderem Gewicht.«
      Kaviraj lernte Ma Anfang September 1928 kennen. Er schreibt: »Sie beantwortete alle Fragen und beseitigte die Zweifel der Fragesteller mit ein paar kurzen Sätzen in ihrer unnachahmlich charmanten Art. Da die Fragesteller unterschiedlichen kulturellen Niveaus entstammten und verschiedene intellektuelle und spirituelle Standpunkte vertraten, erstreckten sich die Fragen natürlich auf viele verschiedene Gebiete und waren unterschiedlich interessant und relevant. Es war wunderbar, wie Mutter sich allen diesen Fragen mit derselben Leichtigkeit und Spontaneität stellte. Sie brauchte nie einen Moment nachzudenken, um auch auf die kompliziertesten und verzwicktesten Probleme einzugehen, die man ihr vorlegte. Ihre Antworten waren in der Regel sehr praktisch und gingen dem Fragenden unmittelbar zu Herzen. Ihre Sprache war äußerst prägnant und ausdruckskräftig. Jedes Wort aus ihrem Mund war bedeutungsvoll; auch an Humor mangelte es nicht, wenn die Situation es erforderte.«