Samyam Saptah [Woche der Selbstdisziplin]

Auf Ma‘s beharrliche Aufforderung, täglich eine gewisse Zeit für das Gebet freizuhalten, wandten viele Leute ein, es falle ihnen sehr schwer, lebenslange Gewohnheiten zu ändern. Sie seien dem Rhythmus ihrer vielfältigen Verpflichtungen unterworfen. Selbst wenn man sich bemühe, ein paar Minuten abzuzweigen, komme das Gemüt einem Zustand inneren Friedens niemals nahe.
      Oft sprach Ma bei solchen Schwierigkeiten ermutigende Worte: »Gut, wenn eure Zeit von alltäglichen Verpflichtungen und Gedanken erfüllt ist, könnt ihr wenigsten bestimmte Tage freihalten und sie ausschließlich dem ›Streben nach dem Höchsten‹ widmen.« Sie beschrieb dann das Samyam Vrata, den jeder für einen Tag einhalten könne. Daraus entstand die Idee des Samyam Saptah, das vom neugebildeten zentralen Organisationskomitee, der Shri Shri Anandamayi Sangha, vorbereitet werden sollte. Der Raja von Solan, Durga Singh, war nach dem Rücktritt der ersten Vorsitzenden, Rajmata Ananda Priya von Tehri Garhwal, einstimmig zum Vorsitzenden gewählt worden. Yogibhai, wie man ihn zwanglos nannte, schlug vor, ein einwöchiges Samyam-Programm zu organisieren. Alle Devotees sollten dazu eingeladen werden. Nach Abstimmung mit den Organisatoren begann die erste Woche des Samyam am 6. August 1952 im Varanasi Ashram.
      Dieser erste Versuch war so erfolgreich, daß das Samyam Saptah bis heute die meistbesuchte Veranstaltung des Ashrams ist. Alle Devotees empfinden Ma‘s lebendige Gegenwart aufs neue; die Mahatmas nehmen regelmäßig am Samyam Saptah teil und zeigen damit, daß auch sie an Ma‘s alldurchdringenden Segen bei dieser Gelegenheit glauben, bei der für eine kurze Zeit jeder zum idealen Asketen wird.
      Zitat aus dem Tagebuch einer Teilnehmerin:
      »Das Samyam Vrata begann nach einer Nacht, die ganz mit Kirtan und Meditation erfüllt war, denn es war Jhulan Purnima [die Vollmondnacht im August] und zugleich eine Mondfinsternis; die Woche endete in der Nacht von Krishnas Geburtstag (Janmashthami) mit Puja und Kirtan bis zum frühen Morgen. Jeden Morgen rief uns die Glocke um halb vier Uhr in der Frühe aus unserem kurzen Schlaf. Mataji selbst nahm mehrmals am Usha Kirtan [Kirtan vor Sonnenaufgang] um 4 Uhr teil. Nach der üblichen Morgenwäsche zogen wir uns zu individueller Puja, Japa und Meditation zurück, wie auch zu jeder anderen Zeit, die wir im Lauf des Tages erübrigen konnten.
      Zweidreiviertel Stunden verbrachten wir täglich in stiller Meditation in Ma’s Beisein: von 8 bis 9 Uhr, von 3 bis 4 Uhr nachmittags, von viertel vor neun bis neun Uhr abends und von viertel vor bis viertel nach zwölf nachts. Nach der Lesung aus der Gita am Morgen beantwortete Ma normalerweise Fragen oder erzählte, wenn sie danach gefragt wurde, Begebenheiten aus ihren früheren Jahren, oder Shri Krishnananda Avadhuta sprach. Am Nachmittag wurde aus dem Bhagavata Purana vorgelesen, und dann hielt Shri Krishnananda Avadhuta inspirierende und lehrreiche Vorträge über die Bedeutung des Samyam Vrata, über Sadhana, über die Haltung eines Sadhaka und ähnliche Themen von großem praktischen Nutzen für die Strebenden.

Shri Gopinath Kaviraj hatte einige einfache, aber sehr hilfreiche Anweisungen zu Asanas, Japa und Meditation verfaßt, die vorgelesen und besprochen wurden. Er kam auch zwei- oder dreimal selbst. Viele Bürger von Benares nahmen begeistert am Satsang teil und befolgten die Einschränkungen bezüglich der Ernährung und die Verhaltensregeln zu Hause.
      Ma war jeden Tag in den langen Stunden des Satsang von viertel vor acht bis halb oder viertel vor zwölf morgens anwesend, außerdem nachmittags von viertel vor drei bis halb sechs und zum Abendkirtan eine Stunde oder mehr. Um halb zehn abends scharten sich noch einmal viele Leute informell für etwa eine halbe Stunde auf dem offenen Hof mit Blick auf den Ganges um Ma. Dort wurden die Ereignisse des Tages besprochen und Vorschläge für den nächsten Tag gemacht.
      Man konnte sich für eine von drei Diäten entscheiden. Klasse A fastete am ersten und siebten Tag mit Gangeswasser, nahm am zweiten und sechsten Tag eine Mahlzeit aus ungesüßtem Milchreis mit gekochten Früchten zu sich, und am dritten, vierten und fünften Tag je einmal Reis mit Gemüse. Klasse B bekam mittags Reis, Rotis [frisch gebackene Brotfladen], gedünstetes Gemüse und Joghurt und abends Milch. Klasse C erhielt zusätzlich etwas Dal [Linsen].
      Man hatte keine Zeit, zwischendurch hungrig zu sein, die meisten fühlten sich sogar stärker und frischer als sonst. Ma selbst gab genaue Anweisungen, wie und von wem das Essen zuzubereiten sei. Während die Mahlzeiten ausgeteilt wurden, machte sie jeden Tag die Runde. Wie immer, aber hier noch sichtbarer als sonst, war Ma überall, behielt alles im Auge und gab jedem die Anleitung und Hilfe, die er brauchte.
      Ich denke, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß wir in dieser Woche etwas Bleibendes gewannen, eine neue Stärke bei der Wahrheitssuche, mehr Sicherheit und Entschlossenheit. Wir bekamen einen Vorgeschmack davon, wie wunderbar das Leben sein kann, wenn man es mit Satsang verbringt und jede Minute dem Streben nach Gott weiht.« Überraschenderweise entschieden sich die meisten Teilnehmer für die Klasse A. Einmal brach Ma nach der morgendlichen Gruppenmeditation die Stille mit einer leise gesummten bezaubernden Melodie. Nach einigen Minuten konnte man ein paar Worte heraushören:

he hitah, he pitah, he brahmatattvam
he hitah, he pitah, he brahmabhutam
he hitah, he pitah, he brahmasvarupam

Ma gab Bibhu Brahmachari ein Zeichen einzustimmen.
      Später sagte Ma, sie habe einen jungen Sadhu neben sich sitzen ›sehen‹, der diese Worte in der Melodie sang, die sie dann nach der Meditation hörbar wiederholte. Die Melodie war so kompliziert, daß niemand außer Bibhu Brahmachari sie nachsingen konnte. Ma legte fest, daß dieses Lied in allen zukünftigen Samyam-Wochen gesungen werden solle. Bibhu Brahmachari sang es allein in seiner sehr wohltönenden, tiefen Stimme. Später bestimmte Ma andere, die es singen durften, aber nur während des Samyam Saptah und nur, wenn Bibhu abwesend war.
      Noch etwas geschah während des Samyam Saptah zum erstenmal: der berühmte Sadhu Shankar Bharati vom Lalita Ghat in Varanasi kam während eines Satsang zum Ashram. Er blieb nur wenige Minuten am Treppenaufgang stehen und ging dann fort. Niemand als Ma nahm von diesem kurzen Besuch Notiz. Die Gelehrten von Varanasi hatten höchste Achtung vor Shankar Bharati wegen seiner profunden Kenntnis der Shastras, wegen seiner asketischen Lebensweise und seiner Schlichtheit. Er kam Ma im Lauf der Jahre sehr nahe. Einmal hatten seine Schüler einen stadtbekannten Arzt, Dr. Gopal Dasgupta gerufen, um ihn wegen Magenbeschwerden zu behandeln. Zur Überraschung des Arztes bestanden seine Mahlzeiten aus einer Brühe aus Gemüseresten von einem Markt in der Nähe des Lalita Ghat. Dr. Dasgupta berichtete dies Ma, die dafür sorgte, daß ihm jeden Tag eine einfache, gesunde Mahlzeit gebracht wurde. Dies nahm er bis zu seinem Tod an. Er war nicht gewohnt, Ratschläge über sein Wohlergehen zu beherzigen. Für ihn zählte nur, was er als den ›Willen‹ seines Ishta-Devata erkannte, der Göttin Lalita, neben deren Tempel er wohnte. Später identifizierte er Lalita Devi mit Ma und hielt sich in der