Ma’s Begegnung mit Mahatma Gandhi

Mahatma Gandhi war zu dieser Zeit gerade zu einem Treffen mit Tschiang Kai Schek nach Calcutta gefahren. Am 18. Februar kam er nach Wardha zurück. Am nächsten Tag wurde ein Treffen in Sevagram einberufen, auf dem die weitreichenden Aufgaben, die Bajaj bislang allein geschultert hatte, neu verteilt werden sollten. Gandhi sandte einen Boten mit einer besonderen Einladung zu Ma, an diesem Treffen teilzunehmen. Da Ma nicht das Kheyala hatte, Sevagram zu besuchen, gingen Janaki Behn und andere ohne sie. Inzwischen bat Ma Didi und Hari Ram, die Abreise aus Wardha vorzubereiten, falls das ohne großes Durcheinander möglich sei. Bei ihrer Rückkehr aus Sevagram waren Janaki Behn und Kamalanayana bestürzt, daß Ma schon so bald abreisen wolle. Sie sagten, sie hätten Gandhi versichert, Ma werde ein paar Tage bleiben, sonst wäre er mit ihnen zurückgekommen, obwohl er nach seiner langen Reise sehr müde war. Ma lächelte und sagte, sie sei immer bei Pitaji [Gandhi], und auf ein besonderes Treffen komme es nicht an. Zum Glück für Kamalanayana, der Gandhi schon holen wollte, weil er wußte, daß dies sein Wunsch wäre, kam die Nachricht, an diesem Abend würden wegen Truppenbewegungen keine Züge für Zivilisten verkehren. Ma könne frühestens am nächsten Morgen fahren.
      Am Abend suchten Acharya Vinoba Bhave und Dr. Rajendra Prasad [prominente Führer der Unabhängigkeitsbewegung] Ma auf. Von ihnen erfuhr sie, daß Mahatma Gandhi nach dem Gebetstreffen zu ihr kommen wolle. Nach einer Weile verließ Ma ihre Unterkunft, um nach Sevagram zu fahren. Kamalanayana war überglücklich, daß sie ihr Kheyala geändert hatte. In Sevagram saß Gandhi umgeben von vielen Leuten in seinem Zimmer. Als Ma die Stufen zu der Hütte hinaufstieg, breitete er beide Arme aus, wie um ein kleines Mädchen willkommen zu heißen. Ma reagierte entsprechend: sie kam zu ihm herauf und setzte sich neben ihn. Er ergriff zuerst das Wort: »Weißt du, wer Jamna Lal zu dir geschickt hat? Das war ich. Er sagte mir frei heraus, daß er bei dir den inneren Frieden gefunden hat, den ich ihm in unserer langen, dreißigjährigen Verbindung nicht geben konnte. Es war Kamala Nehru, die mir von dir erzählte.« Er schaute in die versammelte Runde und fuhr fort: »Kamala hat Mataji als ihren Guru angesehen.«
      Sie erwiderte: »Pitaji, ich bin niemandes Guru. Wie könnte ich? Ich bin ein kleines Mädchen.« Gandhi nahm diese Worte sehr erfreut auf: »Ja, ja, du bist mein kleines Mädchen; ich habe einen Fehler gemacht, als ich dich ›Mataji‹ nannte.« Gandhi schien von Ma sehr angetan. Er sagte ihr: »Ich hörte, daß du morgen früh schon wieder abreisen willst. Das kann nicht sein. Du mußt noch ein paar Tage bleiben.« Aus seinem zuversichtlichen Ton war klar erkennbar, daß er nicht entfernt daran dachte, seine ›kleine Tochter‹ könne ungehorsam sein. Ma entgegnete jedoch: »Pitaji, du mußt wissen, daß dieses kleine Mädchen ein bißchen verrückt ist. Sie kann nicht immer darauf hören, was Ältere sagen. Und warum auch? In dieser Hinsicht hat das Kind die Wesensart ihres Vaters angenommen.«
      Alle Anwesenden brachen in Gelächter aus, aber Gandhi versuchte es noch einmal: »Wenn du meinen Wunsch missachtest, werden alle über mich lachen. Sie werden sagen: ›Er konnte nicht einmal ein verrücktes Kind überzeugen. Wie will er Tschiang Kai Schek beeinflussen?‹ Ich werde sehr lächerlich dastehen!« Ma erwiderte lachend: »Als ob Pitaji sich etwas daraus machte, was die Leute sagen. Und was ist außerdem schlimm daran, wenn die Leute sich auf Pitajis Kosten ein wenig belustigen?«

Alle, auch der Mahatma, verstanden nun, daß sie nicht gewillt war, ihre Pläne zu ändern. Er erkundigte sich dann, ob für den Transport der Reisenden zum Bahnhof am nächsten Morgen gesorgt sei. Ma und Janaki Behn verbrachten die Nacht in Gandhis Hütte. Einmal in der Nacht richtete Ma das Wort plötzlich an die fünf oder sechs Personen, die Gandhi auf die eine oder andere Weise assistierten: »Was werdet ihr tun, wenn ich Mahatmaji euch allen wegnehme?« Ohne Zögern erklärten alle: »Wir gehen mit ihm!« Ma lächelte, schien die Antwort aber nicht zu beachten. Sie sagte leise direkt zu Gandhi: »Ich werde dich im rechten Augenblick holen. Was sagst du dazu, Pitaji?« Gandhi verstand offensichtlich, was Ma meinte, denn er stimmte im selben ruhigen, ernsten Ton zu. Didi und Hari Ram, die dabei saßen, tauschten schnell besorgte Blicke aus: War es möglich, daß Gandhi nicht mehr lange bei ihnen sein sollte?
      Am nächsten Morgen fuhr Ma aus Wardha ab. Beim Abschied sagte sie: »Ich weiß, daß Pitaji diesem kleinen Mädchen ihren Ungehorsam nicht übel nimmt.«
      »Als ob dir mein Mißfallen etwas ausmachte!« »Pitaji, wenn ich das Kheyala habe, komme ich ohne Vorankündigung und ohne auf eine Einladung zu warten in deine Hütte.«
      »Ja, so dringen Diebe und Räuber heimlich ein, ohne daß die Hausbewohner es merken.«
      »Sehr gut! Pitaji hat mich eine Diebin genannt. Ich werde alles stehlen, was ihm gehört. Soll ich?«
      Lächelnd nickte Gandhi und sagte leise: »Solch ein Diebstahl ist ein seltenes Glück.«
      Am Bahnhof von Wardha kam Ma noch einmal auf des Thema der vorigen Nacht zurück. Sie sagte zu Janaki Behn: »Sag Mahatmaji, er solle bereit sein. Schließlich ist es bald Zeit, nach Hause zu gehen.«
      Hari Ram erinnerte sich an Bajajs glühenden Wunsch, Gandhi möge in direkten Kontakt mit Ma kommen. Die Freiheitshoffnungen der ganzen Nation ruhten auf Gandhi. Es war nur recht, daß er Ma‘s Segen für diese große Aufgabe hätte. Hari Ram wußte, daß auch Bhaiji auf eine Begegnung der beiden gehofft hatte. Doch auch der beste Devotee hatte Ma‘s unerforschliches Kheyala nicht ergründen können. Wie Janaki Sen und Nishikanta Bhattacharya damals, vor vielen Jahren in Bajitpur die Bedeutung der wunderbaren Kräfte Ma‘s nicht erfassen konnten, so konnten nun Hari Ram und andere den enormen Einfluß Ma‘s auf die Gründerväter der indischen Nation, die vor, während oder nach der Erlangung der Unabhängigkeit mit ihr in Berührung kamen, nicht recht ermessen.
      Ma begegnete Gandhi noch einmal in Delhi im Jahr 1946, etwa 14 Monate vor seinem Tod. Auch bei diesem Treffen bat er sie mit allem Nachdruck, dessen er fähig war, bei ihm zu bleiben und nicht umherzuziehen. Mit gleichem Nachdruck antwortete ihm Ma lächelnd: »Glaube mir, Pitaji, ich bin immer bei dir.«