Jamna Lal Bajaj

Seth Jamna Lal Bajaj, die rechte Hand Mahatma Gandhis, kam im August 1941 nach Dehra Dun, um Jawaharlal Nehru im Gefängnis und Indira Gandhi in Mussoorie zu besuchen. Nachdem er diese Aufgaben erledigt hatte, wollte er Ma kennenlernen. Schon bei der ersten Begegnung schien Bajaj gleichsam am Ende seiner Reise angelangt. Die letzten Jahre hatte er rastlos unter dem Joch politischer Arbeit gestanden. Als Mahatma Gandhi seine innere Unruhe bemerkte, riet er ihm, Kamala Nehrus ›Guru‹, Shri Anandamayi Ma, aufzusuchen. Bajaj konnte sich nicht von Ma losreißen. Er bat Gandhi telegraphisch um Erlaubnis, länger in Dehra Dun bleiben zu dürfen. Die Bewohner des Ashrams waren tief berührt von seiner absoluten Hingabe an Ma und seiner spontanen Bereitschaft, ihre Gefährten als seine Familie anzusehen. Sie lernten ihn gut kennen und erfüllten ihm den Wunsch, als einer der ihren aufgenommen zu werden, indem sie ihn ›Bhaiyaji‹ [verehrter Bruder] nannten.
      Im Gespräch mit Ma begann er eines Tages einen Satz: »Als ich im Gefängnis war ...«, worauf Ma ihn unterbrach: »Du bist immer noch im Gefängnis! Oder meinst du, du hättest schon Freiheit erlangt?« In ernsthafterem Ton fuhr sie fort: »Man muß nach wirklicher Freiheit streben. Ein bißchen Zeit, nur ein wenig, muß jeden Tag für die Andacht an Gott freigehalten werden. Wenn man sein Handeln als Gottes Werk ansieht, das Er auf Seine Weise ausführt, dann vermeidet man die bindende Wirkung des Tuns. Anders kann Handeln nicht zur Freiheit führen.«
      Jamna Lal Bajaj erinnerte die Devotees in vieler Hinsicht an Bhaiji. Seine vollkommene Hingabe an Ma‘s Kheyala war vorbildlich. Er war bereit, sich vom Dienst an seinem Land und Volk zurückzuziehen. Er wollte Gandhi dies telegraphisch mitteilen, doch Ma riet ihm ab: »Du mußt nach Wardha zurückkehren und deine Pflichten erfüllen. Niemand weiß, wie lange er in dieser Welt bleiben darf. Vielleicht sechs Monate oder sechs Jahre. Die Zukunft ist immer ungewiß, und es ist am besten, nicht zu weit vorauszuplanen.«
      Bajaj hatte Ma offenbar so verstanden, daß er nicht mehr viele Jahre zu leben habe. Nach Wardha zurückgekehrt, zog er in eine kleine Lehmhütte in Gopuri und widmete seine freie Zeit dem Sadhana. Sein größter Wunsch war, daß Ma nach Wardha käme und mit Mahatma Gandhi zusammenträfe. Er hatte sie schon wiederholt eingeladen, auch Gandhi selbst hatte sich der Einladung angeschlossen, doch Ma hatte dazu kein Kheyala. Sie reiste weiterhin kreuz und quer durchs Land.
      Anfang 1942 nahm Ma eine Einladung nach Pundri an, einem Dorf in der Nähe von Mainpuri. Man hatte sorgfältige Vorbereitungen für Ma‘s Empfang getroffen. Anlaß war die Weihung eines neu erbauten Tempels im Dorf. Ma und ihre Begleiter wurden in Etawah, der nächsten Bahnstation, abgeholt. Von dort legte man die Strecke von ca. 58 km in zwei Autos zurück. Nach etwa einer Stunde blieb Ma‘s Wagen stehen. Der Fahrer stellte verblüfft fest, daß der Tank leer war. Der andere Wagen mit Paramananda war schon vorausgefahren und außer Sichtweite. Der Feldweg war wenig befahren, und es gab keine Hoffnung auf baldige Hilfe. Ma stieg aus dem Auto und sagte unbekümmert zu ihren Begleitern Didi und Abhaya: »Macht euch nichts draus. Was geschehen ist, ist nur zum Guten. Laßt uns zu Fuß gehen. Wir kommen bestimmt in ein Dorf, wo wir etwas zu essen und ein Obdach erbeten können.«
      Der Fahrer ließ den Wagen zurück und begleitete Ma. Er hoffte, irgendwo ein Fahrrad leihen zu können und damit nach Pundri vorauszufahren, um den anderen von dem Mißgeschick zu berichten. Nach ca. eineinhalb Kilometern erreichten sie das Dorf Kimini, wo ein freundlicher Brahmane ihnen Erfrischungen reichte, aber ein Fahrrad gab es nicht! So hielten sie unter einem Baum am Wegrand Rast. Bald kam Navratan Singh auf der Suche nach ihnen in einem anderen Wagen. Er war äußerst verlegen, daß Ma solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt war, wie leicht sie auch darüber hinwegging. Ma kam in Pundri an, und die Freude war wieder ungetrübt.

Am Abend saß Ma im Kreis der Dorfbewohner. Einer von ihnen fragte: »Mataji, bist du orthodox oder gehörst du dem Arya Samaj an?«
      »Was meinst du?«
      »Wenn du die Aufstellung von Kultbildern in einem Tempel unterstützt, müßtest du als orthodox bezeichnet werden?«
»Was du auch sagst, Pitaji»Was du auch sagst, Pitaji, und auch was jeder andere sagt, das bin ich.«
      »Mataji, es gibt so viele Glaubensrichtungen; es ist verwirrend, wenn jeder seinen eigenen Glauben zu predigen beginnt und den der anderen schmäht.«
      »Die Gottesverehrung eines anderen herabzuwürdigen ist völlig unangebracht und nutzlos. Stell dir einen Mann auf Pilgerschaft vor. Wenn er seine Wanderung immer wieder unterbricht, um über ihren Wert zu diskutieren, dann erreicht er sein Ziel unweigerlich mit großer Verspätung. Das Beste ist, unbeirrt in eine Richtung voranzuschreiten.«
      Nach zwei Wochen in Pundri brach Ma auf. Die Dorfbewohner, die sie in dieser kurzen Zeit sehr ins Herz geschlossen hatten, standen mit gefalteten Händen und Tränen in den Augen an ihrem Wagen. Ma verabschiedete sich von ihnen und kam Anfang Februar 1942 nach Lucknow. Die Devotees hofften, daß sie lange bliebe. Am 9. Februar erklärte Ma ihr Kheyala, die Stadt noch am selben Tag zu verlassen. Man fand heraus, daß der letzte Zug, der aus Lucknow abfuhr, der Schnellzug nach Jhansi war. Da Ma nichts über ihr Reiseziel sagte, kaufte Hari Ram Fahrkarten nach Kanpur. Während sie auf die Abfahrt des Zugs warteten, sahen sie zu ihrer Überraschung Kamalanayana, den Sohn von Jamna Lal Bajaj. Sie erfuhren zu ihrer Erschütterung, daß Bajaj am selben Nachmittag in Wardha gestorben war. Kamalanayana sah es als ein Zeichen der Vorsehung, daß Ma mit demselben Zug nach Jhansi (wie er meinte) fuhr. Er bat sie, ihn nach Wardha zu begleiten und damit den letzten Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Doch Ma forderte ihn freundlich auf, diesmal nicht weiter auf einen Besuch zu drängen. Didi, Abhaya und andere standen Bajaj sehr nahe, und Hari Ram war sein Freund. Sie waren traurig über die Nachricht von seinem Tod und fanden Ma‘s Zurückhaltung kränkend. Später sagte Ma: »Warum seid ihr so betrübt? Für mich ist er keineswegs verloren, ich sehe keinen Grund zum Kummer.« Hari Ram und Didi konnten Ma‘s Gleichmut nicht teilen und bedauerten weiterhin, daß sie nicht zu seinen Lebzeiten nach Wardha gereist war. Genau sechs Monate waren seit seiner Begegnung mit Ma in Dehra Dun vergangen.
      Ma fuhr nach Jhansi. Eine Woche später erklärte sie sich bereit, nach Wardha weiterzufahren. Bei ihrer Ankunft holte Kamalanayana sie ab und brachte sie auf ihren Wunsch nach Gopuri. Dort traf sie die Witwe Janaki Behn, die mit Tränen in den Augen untröstlich an die wiederholten Bitten ihres Mannes um Ma‘s Besuch erinnerte. Sie sagte: »Wärest du auch nur eine Woche früher gekommen, hätte er dich hier willkommen heißen können.« Auf ihre unnachahmliche Weise linderte Ma den Schmerz der trauernden Familie um den Verlust. Sie sagte: »Selbst jetzt bin ich gekommen, um ihn zu besuchen. Jetzt ist der richtige Moment für meinen Besuch. Was immer geschieht, geschieht nur zum Besten. Wenn du mit diesem Gedanken leben kannst, gibt es keinen Anlaß zum Kummer.«
      Ma verbrachte viele Stunden mit Janaki Behn, Kamalanayana und ihren Freunden im Gespräch über Bajaj. Ma sagte: »Der Tod ist nur eine andere Daseinsform. Laßt euch nicht von dem Gedanken quälen, er wäre jetzt für immer von euch getrennt. Wenn ihr nicht aufhört zu trauern, kann er nicht zu einer höheren Stufe aufsteigen. Es ist eure Pflicht, ihm seinen Weg zu erleichtern, indem ihr handelt, wie er es von euch erwarten würde, wenn er lebte.« Janaki Behn sagte: »Ma, ich verstehe, was du meinst, aber es ist schwer, diesen schrecklichen Trennungsschmerz zu überwinden.« Ma erwiderte: »Die Trauer ist nur natürlich. Denk nicht, ich verstünde nicht, wie schwer es ist, seines Schmerzes Herr zu werden.«
      Der Tod ist unausweichlich, aber Ma‘s Anwesenheit in Gopuri milderte das Trauma des plötzlichen Verlustes erheblich. Da Bajaj sich Ma so vollkommen ergeben hatte, nahm sie es auf sich, seine Angehörigen aus ihrer lähmenden Trauer herauszuführen. So gesehen, hätte auch er es vielleicht vorgezogen, daß Ma zu diesem Zeitpunkt nach Wardha kam, statt zu seinen Lebzeiten. Janaki Behn berichtete Ma, daß die letzten Lebenstage ihres Mannes glücklich waren. Nach der Rückkehr von seiner Begegnung mit ihr war er sehr verändert. Er verbrachte viel Zeit allein und führte seine Pflichten innerlich losgelöst aus. Insgesamt schien er mit sich selbst im Frieden gewesen zu sein.