Die Regeln ändern sich (Unterkapitel)

Ma hat ihr Erdenleben einmal als Ereignis mit fünf Facetten (Pañcasamyoga) beschrieben. Außer sich selbst nannte sie ihre Großmutter in Kheora, ihre Eltern und Bholanath. Innerhalb eines Jahres starben ihr Vater und Bholanath. Ihre Großmutter war schon einige Zeit vor ihrer Heirat verstorben. Den einzigen Anker für Ma‘s Kheyala, auf der Erde zu bleiben, sahen die Devotees in Didima, ihrer Mutter. Didima blieb fast weitere dreißig Jahre bei uns. In dieser Zeit erlangte Ma solche Bekanntheit, daß sie beinahe eine Touristenattraktion für Indien wurde! Sie reiste weiterhin viel, besuchte zahlreiche Festveranstaltungen und sprach kontinuierlich, unermüdlich und unbeirrbar über das menschliche Streben nach Gott.
      Didi und Swami Akhandananda wären gern ständig bei Ma geblieben, aber das war nie für lange Zeit möglich. Ma betraute Didi mit der Ausführung ihres Kheyala, und dazu mußte Didi sich immer wieder von ihr trennen. Einmal sagte Ma: »Ich weiß, daß du stets an mein Wohlergehen denkst; aber ich beauftrage dich mit einer wichtigeren Arbeit. Denke daran, daß mir eine aufrichtige Bemühung im Sadhana lieber ist als jeder persönliche Dienst.«
      Ma fuhr im Juli 1939 in Begleitung von Ruma Devi und Abhaya zum alljährlichen Nama-Yajña nach Simla. Da keiner ihrer sonstigen Begleiter bei ihr war, schien sie leichter zugänglich, und man näherte sich ihr ohne Scheu. So war es in allen Orten, in denen sie Station machte, in Moradabad, Bareilly, Lucknow, Faizabad und Burdwan. Als Ma Anfang August 1939 nach Calcutta kam, fuhr sie sogleich zu Jyotish Guhas Haus. Sie hatte Abhaya nicht erlaubt, den Devotees ihren Besuch anzukündigen. Stattdessen sang sie an der Tür in der Art der Straßensänger ein paar Kirtan-Verse. Freudig überrascht eilten die Bewohner aus dem Haus. Mit ihnen zusammen ging Ma zu anderen Häusern, um ihr Eintreffen in der Stadt auf die gleiche Weise bekannt zu machen.
      Die Nachricht von ihrer Ankunft verbreitete sich unter den Devotees wie ein Lauffeuer. In kürzester Zeit wimmelte es im Birla-Tempel, wo sie logierte, von freudestrahlenden Männern, Frauen und Kindern.
      Viele baten sie um spirituelle Führung, worauf Ma erwiderte: »Ich bin euer Kind. Ihr habt eurem Kind nicht einmal eine richtige Schulbildung gegeben. Was für eine Führung könnt ihr jetzt von ihm erwarten? Ihr könnt aber immer die Klänge hören, die ihr selbst auf dieser ›Glocke‹anschlagt. Ihr könnt den Worten lauschen, die ihr so gern von mir hören wollt. Ich werde zu euch über das Gelöbnis des Gleichmuts (Samyam Vrata) sprechen, das ich bereits an vielen Orten eingeführt habe. Man sollte den festen Entschluß fassen, einmal in der Woche ausschließlich in der Sphäre der Wahrheit zu leben. An diesem Tag sollte man wenig essen und alle seine Worte und Taten sorgfältig beobachten, um auch die geringste unrechte Äußerung und jedes unwürdige Betragen zu vermeiden; man muß Herr seiner Gefühle sein. Auf seine Kinder sollte man als kindliche Manifestation des Göttlichen (Bala-Gopala) blicken; seine Frau oder seinen Mann sollte man nicht nur als Gegenstand der Liebe, sondern auch der Verehrung ansehen. Man soll allen Mitgliedern der Familie - einschließlich der Diener - in Demut Dienste leisten. Auch wenn es Anlaß zu Zorn oder andere Provokationen gibt, soll man gelassen reagieren und sich nicht aus seinem friedvollen Gemütszustand reißen lassen. Selbst wenn dies anfangs manchmal oder oft nicht gelingt, soll man unbeirrt fortfahren, bis das Ziel des vollkommenen Samyam im Denken, Sprechen und Handeln erreicht ist. Wenn eine Person in der Familie dieses Gelübde einhält, dann empfindet die ganze Familie die beruhigende Wirkung dieses einen Tages.« Ma unterbrach sich kurz und fügte dann lachend hinzu: »Vielleicht nutzen ein paar freche Kinder die Situation aus, aber das geht vorüber. Wenn ihr euch sicher fühlt, könnt ihr die Zahl der Tage erhöhen. Das Ziel ist, daß es nicht eine Ausnahme bleibt, sondern zu einer Lebensweise wird. Am festgesetzten Tag sollte man sich einige Zeit für die Lektüre heiliger Schriften, für Meditation oder Japa nehmen. Kurz und gut: so werdet ihr fähig, euch nach innen zu wenden und in Einklang mit dem Rhythmus eures eigenen Lebensatems zu kommen, der euch mit dem kosmischen Prana [Lebensenergie] verbindet. Ihr könnt dann darauf hoffen, Selbstverwirklichung zu erlangen, denn wer weiß, in welch glückverheißendem Moment ihr in diesem universellen Rhythmus vollkommener Harmonie festgehalten werdet.«

Ma blieb nur wenige Tage. Am 19. August kam sie nach Dacca, ebenfalls auf einen sehr kurzen Besuch. Von dort fuhr sie nach Kheora, wo sie fast 43 Jahre zuvor zur Welt gekommen war. Äußerlich hatte sich vieles geändert: Ma war jetzt unstreitig auf sich selbst angewiesen. Es gab keine anderen mehr, die ganz selbstverständlich gewußt hätten, wie ihre Angelegenheiten am besten zu regeln wären. Andererseits war sie so frei wie immer, und ihr Verhalten hatte sich in keiner Weise geändert. Dies alles drückte ihre Freundin aus Kindertagen und Namensschwester Nirmala Devi aus, als sie voller Erstaunen ausrief: »Du hast dich ja überhaupt nicht verändert!«
      Von nah und weit trafen Dorfbewohner in dem kleinen Dorf ein, um die nun berühmte ›Ma von Dacca‹ zu begrüßen. Ma besuchte ihre Bekannten aus der Kindheit. Eine große Gruppe von Devotees aus Dacca hatte sie begleitet. Sie fuhren in Booten auf Wasserläufen inmitten von Reisfeldern. Manchmal suchten sie im Schatten weitausladender Bäume vor der Mittagssonne Schutz. In dieser gemächlichen Weise trafen sie am 10. September in Vidyakut ein. Ma hatte ihre Kindheit vor und besonders nach ihrer Heirat zum größten Teil in Vidyakut verbracht. Sie grüßte alle Dorfbewohner freundlich im Dialekt der Gegend. Die Älteren redeten sie vertraulich mit ›du‹ an und wurden dann verlegen, da sie nicht wußten, ob die Schar der Devotees dies etwa respektlos fände.
      Innerhalb weniger Tage veränderte sich die Haltung der Leute von Vidyakut. Sie waren in einem Dilemma. Es war ihnen nicht mehr möglich, den vertraulichen Umgangston mit Ma beizubehalten, obwohl Ma nichts tat, sie davon abzubringen. Allmählich begannen die Leute, ihren Rat in spirituellen Fragen einzuholen. Selbst die Älteren baten sie, ihnen etwas zu sagen. Ma reagierte schnell auf die veränderte Stimmung. Sie sprach zu ihnen über den Samyam Vrata und verbrachte viele Stunden damit, ihren Problemen zuzuhören und sie zu einer neuen Form der täglichen Lebensgestaltung anzuleiten.
      Mitte September fuhr Ma von Dacca nach Calcutta zurück. Dann verließ sie Bengalen und reiste nach Solan. Von dort fuhr sie über Baijnath in den Fürstenstaat Suket, dessen Raja sie dringend gebeten hatte, seinen Staat zu besuchen. Er gehörte zu den Herrschern, denen das Wohlergehen seines Volkes aufrichtig am Herzen lag. Nach seiner Überzeugung wäre Ma‘s Anwesenheit ein Segen für seinen Staat und ein kostbares Geschenk für die Menschen.
      Ma‘s Begleiter hatten nie zuvor derart aufwendige Vorkehrungen und zeremonielle Empfänge erlebt wie nun, als sie in etwa 240 km Entfernung von Pathankot die Grenze von Suket überschritten. Der Raja und seine Familie konnten für Ma und auch für ihr Gefolge nicht genug tun. Ma‘s Gästezimmer war so sorgfältig geschmückt und so reich ausgestattet, als sei es der Tempel der Schutzgottheit des Palasts. Nach ein paar Tagen der für Ma‘s Gegenwart überall typischen freudigen Aktivitäten war es Zeit aufzubrechen. Von der Metropole Calcutta über das ostbengalische Dorf Vidyakut zum Fürstenstaat Suket weit im Westen Indiens ließ sich der ›Vogel im Flug‹ auf sehr verschiedenen Rastplätzen wieder.
Am Tag der AbreiseAm Tag der Abreise beschenkte der Raja Ma mit kostbarem Schmuck, Seidenkleidern und vielen anderen Gaben, die seinem fürstlichen Status entsprachen. Ma sagte sanft zu ihm: »Diese Dinge, die du mir geschenkt hast, gehören jetzt mir. Dann darf ich sie also weitergeben, wem ich möchte? Ich will sie Leuten anvertrauen, die es verdienen und die in meinem Namen gut damit umgehen werden ...« Nachdem sie möglichen Einwänden auf diese Weise zuvorgekommen war, begann sie, die Gaben unter den Anwesenden, meist Mitgliedern des Fürstenhauses und wichtigen Angehörigen des Hofs zu verteilen. Sie machte keinen Unterschied zwischen der vornehmen Gesellschaft und den Bediensteten. Der Berg von kostbaren Schmuckstücken, Gold- und Silbermünzen, Brokat und Seidenstoffen löste sich in kürzester Zeit auf. Als außergewöhnlicher Devotee akzeptierte der Raja von Suket gehorsam wie in allem anderen Ma‘s Entscheidung über seine fürstlichen Geschenke.
      Ma fuhr nach Baijnath, wo sie der feierlichen Eröffnung eines neuen, von Swami Tarananda erbauten Tempels beiwohnte. Sie war schon früher einmal mit Bhaiji in Baijnath gewesen. Viele der Dorfbewohnerinnen, die sie von damals kannten, lernten nun auch ihre Begleiter kennen. Ma verbrachte einen Tag in Amritsar und besuchte den goldenen Tempel. Auf dem Weg nach Bareilly blieb sie auch eine Weile in Almora. In Bareilly war Ma in einem Kreis bekannt, in dem Frauen den Ton angaben. Alle ihre Freundinnen waren gebildete Frauen, die mit sozialen Projekten verschiedener Art zu tun hatten. Sie feierten Ma‘s Anwesenheit in ihrer Mitte auf ihre eigene Weise. Auch die einfachen Frauen aus den Dörfern bei Almora hatten sich zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Sie nannten sich Ma‘s Sahelis [Freundinnen]. Ihr besonderes Lied zur Arati (Ambe Gaur Maiya) lernten im Lauf der Zeit alle Devotees in ganz Indien kennen. Sie wurden als die Ashta-Sakhis [acht Freundinnen] bekannt. Einfache Frauen aus dem Dorf nahmen Ma ebenso als eine der ihren auf, wie die vornehmsten Familien oder die hochkultivierte Gesellschaft in den Großstädten.
      Ma kam am 4. November 1939 nach Vindhyachala. Inzwischen war der Krieg erklärt worden. Obwohl Indien nicht direkt beteiligt war, bekam es seine Auswirkungen in vieler Hinsicht zu spüren. Lebensmittel und Kleidung wurden rationiert. In den Großstädten mußte nachts das Licht gelöscht werden. Die Unabhängigkeitsbewegung gewann an Stärke. Die indischen Führer sagten, ein freies Indien werde sich auf die Seite der Alliierten stellen; die britische Regierung habe ohne die Zustimmung einer indischen Regierung kein Recht, indische Soldaten auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen einzusetzen. Das Kriegskabinett ging natürlich über all diese Einwände hinweg. Winston Curchill soll gesagt haben, er werde ›nicht über die Liquidierung des Empire präsidieren‹.
      Ma blieb beinahe einen Monat in Vindhyachala. Wahrscheinlich in dieser Zeit kam Swami Paramananda in Kontakt mit dem Ashram.