Ashram - Leben in Gemeinschaft


Jeder spürte die Notwendigkeit eines Ashrams in Dhaka. Als ich einmal in einer Mondnacht nach Shahbag kam, sagte Ma: „Lass uns auf den Wiesen spazierengehen.“ Pitaji, Ma und ich gingen hinaus. Wir setzten uns auf dem Gras in der Nähe eines verfallenen Gebäudes nieder (dem späteren Gebäude des Dhaka Ashrams). Ich erklärte Ma sehr demütig, dass Shahbag Eigentum des Nawab von Dhaka sei und wir einen Ashram gründen sollten, da es nicht viel länger möglich sein würde, dort noch Kirtan, Puja und dergleichen abzuhalten. Ma antwortete: „Die ganze Welt ist voll von Ashrams, was wollt ihr mit einem neuen anfangen?“ Ich sagte: „Wir wollen kein großes Projekt, wir möchten nur ein kleines Gelände, an dem wir uns um Deine Lotosfüße versammeln und Kirtan singen können.“ Pitaji pflichtete mir bei. Ma sagte: „Wenn du ein Gebäude dieser Art errichten willst, so wird das Grundstück des alten Hauses, das du dort drüben siehst, das Beste sein. Es ist deine alte Heimat.“
      Sie lachte und blieb dann still. Zu jener Zeit stand ein verfallener Shiva-Tempel dort inmitten von Schutthaufen, Steinen,  Ziegeln und wucherndem Dschungel. Der Ort wimmelte von Schlangen. Als die Ashramgebäude fertiggestellt waren, sahen wir viele große Schlangen dort. Damals pflegte Ma bei bestimmten Gelegenheiten Milch und Bananen in jenem verlassenen Shiva-Tempel darzubringen.
      Eines Montags wurde etwas rohe Milch mit fünf bis sieben Bananen in einem neuen irdenen Gefäß geopfert. Sieben Tage später ging Ma zwischen neun und zehn Uhr abends wieder dorthin. Sie fand die Milch und die Bananen im selben unveränderten Zustand wie sie dargebracht worden waren. Nicht eine einzige Ameise hatte das Gefäß berührt. Ma sagte, Sie wolle einen Schluck davon trinken. Viele Leute versuchten, Sie daran zu hindern, weil sie dachten, die Milch könne infiziert sein. Aber Ma muss man gewähren lassen. Sie nahm einen Schluck, und viele nahmen ebenfalls Prasad. Der Rest wurde dort im Gefäß gelassen. Am nächsten Morgen stellte man fest,dass der gesamte Inhalt aufgeleckt worden war. Kein einziger Tropfen war übriggeblieben.
      Erkundigungen ergaben, dass der Shiva-Tempel und das angrenzende Land zum Ramna-Kali-Besitztum gehörten. Als wir uns an den Priester, Sj. Nityananda Giri, wandten, sagte er, er könne das Eigentum nicht unter der Summe von 6000 Rupies abgeben.
      Als Niranjan wenige Monate später nach Dhaka versetzt wurde, versuchten wir, das Geld zusammenzubekommen, aber ohne Erfolg. Gegen Anfang 1927 lag ich ernsthaft erkrankt zu Bett. Eines Tages besuchte mich Niranjan und sagte, der Zamindar von Gouripur, Sj.Brojendra Kishore Ray Chowdhuri, habe 1000 Rupies geschickt. Niranjan fügte hinzu: „Versuche zuerst, bald gesund zu werden. Danach werden wir uns bemühen, mehr Mittel zusammenzubekommen. Nach und nach sammelte Niranjan noch mehr Geld, aber Nityananda Giri beharrte auf seiner Forderung von 6000 Rupies für das Grundstück. Nach anderthalb Jahre währender Krankheit nahm ich wieder meine Pflichten in der Landwirtschaftskammer von Dhaka auf. Wir besichtigten viele Grundstücke für den geplanten Ashram. Aber keines schien bessergeeignet als das, was Ma vorgeschlagen hatte.
      Wir waren in Verlegenheit. Anfang 1929 war Ma in Kalkutta. Shriman Benoy Bhushan Banerji ging zu Ihr und sprach mit Ihr über die Gründung des Dhaka-Ashrams. Als er zurückkam und mir von seiner Unterhaltung mit Ihr berichtete, kehrte meine Hoffnung zurück. Eines Tages beschloss ich, dass ich den Priester des Ramna-Kali-Tempels treffen und endlich den Kauf des Grundstücks abschließen sollte. Als ich aus dem Haus ging, sah ich Ma‘s Bild über meinem Kopf schweben, was mir die Überzeugung gab, dass unser Wunsch erfüllt werden würde. Der Priester sagte: „Da es euch nicht möglich ist, die große Summe für den tatsächlichen Kauf aufzubringen, können wir einstweilen einen Pachtvertrag mit 500 Rupies Anzahlung und 300 Rupies jährlicher Pacht abschließen. Später kann dann ein dauerhaftes Abkommen getroffen werden.“ Nach vielen Diskussionen wurde schließlich beschlossen, das Grundstück zunächst einmal zu pachten.    

Natürlich wurde diese Regelung von vielen nicht unbedingt gutgeheißen. Sollte jedoch überhaupt ein Ashram gegründet werden, so schien das gewählte Grundstück für diesen Zweck am besten geeignet. Der Ashram war für Ma bestimmt, und wir waren davon überzeugt, dass Sie für alles Notwendige sorgen würde. Es war daher nutzlos, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Mit dieser Einstellung pachteten wir das Grundstück zu den angebotenen Bedingungen. Shri Mathura Nath Basu, Nishikanta Mitra und Brindaban Chandra Basak waren maßgeblich bei der Abwicklung beteiligt. Am 13. April 1929 wurde Ma gebeten, Ihre Füße auf das verfallene Grundstück zu setzen. Niranjan trauerte damals über den verfrühten Tod seiner Frau, doch konnte auch er bei jener Gelegenheit dabei sein. Etwa zwei Monate später verließ er ebenfalls diese Welt. Mit den von ihm gesammelten Spenden wurde die Grundlage für den Ashram geschaffen. Wo immer er und seine Frau jetzt in der anderen Welt sein mögen, ihre Verbindung mit Ma besteht bis zum heutigen Tag - das ist meine Überzeugung.
      In Bezug auf den Ashram sagte Ma: „Ein Ashram bedeutet ein heiliger Ort, der Gedanken an Gott im Menschen erweckt. All seine Bewohner müssen sich sehr bemühen, die Atmosphäre durch ununterbrochenes Gebet, Sadhana, edle Gedanken, Meditation und religiöse Gespräche rein zu halten. An einem solchen Ort reicht es, wenn es einige strohgedeckte Hütten gibt, in denen die Bewohner, so gut es geht, leben können.“ Aufgrund dieser Aussage wurde damals als erstes eine kleine Hütte für Ma errichtet.
      Shri Shri Ma‘s Handlungen und das Spiel Ihrer verschiedenen inneren Zustände sind für den menschlichen Geist nicht begreifbar. Es ist sinnlos, das, was Sie will, verhindern zu wollen oder danach zu fragen, warum Sie so und nicht anders handelt. Am 2. Mai 1929 betrat Shri Shri Ma unter Freudenrufen den neuen Ramna Ashram. Sj. Baut Chandra Basak brachte Girlanden und Armbänder aus Blumen und schmückte Ma damit wie Krishna . Auch Ma schien in ausgelassener Stimmung zu sein. Aber ich blieb zurückhaltend und beobachtete Ihre Bewegungen. Irgendwie schien mir geheimnisvoll der Schatten einer Wolke über allem zu lauern. Ma‘s Lächeln und Blicke schienen in ferne Regionen zu schweifen. Ich kehrte um zwei Uhr morgens nach Hause zurück. Anderntags besuchte Pitaji gegen Abend unseren Stadtteil. Ein Bote kam mit der Mitteilung, dass Pitaji sofort zum Ashram zurückkommen solle. Ich begleitete ihn. Es war ungefähr zehn oder halb elf Uhr abends. Alle Personen im Ashram wirkten ziemlich traurig und niedergeschlagen. Ein Schatten der Besorgnis verdüsterte ihre Gesichter. Ma saß draußen außerhalb des Ashramgeländes. Wir erfuhren, dass Sie sehr früh bei Morgengrauen aus dem Ashram gegangen war. Die ganze Zeit bis halb elf Uhr abends war Sie in den Feldern umhergewandert.
      Als Sie Pitaji erblickte, sagte Ma: „Lass diesen Körper mit seinem Vater auf eine Reise gehen. Du selbst bleibe bitte im Ashram.“ Pitaji protestierte zunächst heftig, dann platzte es plötzlich aus ihm heraus: „Gut, dann geschehe eben Dein Wille“. Viele begleiteten Ma zum Bahnhof. Pitaji und ich blieben zurück, aber nach einiger Zeit gingen wir ebenfalls dorthin. Pitaji versuchte mit allen Mitteln, Ihr das Vorhaben auszureden und erklärte deutlich seine Mißbilligung. Aber Ma war nicht umzustimmen.
      Der Zug nach Mymensingh stand bereit, und Ma stieg ein. Pitaji bat mich, Sie zu begleiten und in ein anderes Abteil zu gehen, falls Sie etwas dagegen einwenden würde. Seinen Anweisungen gehorchend begleitete ich Sie.
      Als ich, nur mit einem Lendentuch bekleidet und ohne jemanden aus meiner Familie über meine plötzliche Abreise zu informieren, gegen Mitternacht so nach Mymensingh aufbrach, gab es einen starken inneren Kampf in meinem Herzen. Ich finde kaum Worte, es zu beschreiben. Die Sonne wird die Quelle allen Lebens und aller Aktivität genannt, und als die Nacht langsam verging und den Strahlen der Morgensonne wich, weckten die Anforderungen von Büro und Familienleben meine Erinnerungen an zahllose unbeendete Pflichten, die auf mich warteten. Welche Sklaven der Routine sind wir doch alle! Die Ketten der Welt sind zu fest und zu unmerklich, um so einfach abgeschnitten zu werden. Sogar als ich auf diese Weise eine einzigartige Gelegenheit hatte, zu Ma‘s Füßen zu sitzen, war mein Geist seltsam von dunklen Gedanken an die Pflichten jenes Tages überschattet. Jahr für Jahr hatte ich mich gesehnt, diese Füße zu berühren, und Sie hatte mich praktisch dem Rachen des Todes entrissen. Es schien mir, als seien unsere Achtung, Verehrung und Liebe nichts als vorübergehende Gefühlsimpulse - in Wirklichkeit beten wir insgeheim nur unsere eigennützigen Wünsche an. Ma sagt ebenfalls: „Eure Gefühle von Liebe und Verehrung gleiten wie Windböen über euren Körper und Geist. Wenn sich nicht die innerste Kammer eurer Seele öffnet, so dass wirkliche Hingabe frei fließen kann, wie könnt ihr dann das echte Gefühl anstelle bloßen Scheins darbringen?“
      Als wir Mymensingh erreichten, fragte ich Ma: „Wohin möchtest Du als nächstes fahren?“ Ihre Antwort war: „In die Berge.“ Ich sagte: „Die Regenzeit steht bereits bevor. Ist es ratsam, jetzt mit Deinem alten Vater in die Berge zu fahren? Wenn Du einige Zeitlang abgeschieden bleiben möchtest, Lass uns doch nach Cox‘s Bazar am Meer fahren.“ Ma schwieg. 

Normalerweise gibt Ma nur einmal eine Anweisung oder einen Vorschlag. Wenn wir ihn vorbehaltlos als solchen ausführen, stellt es sich am Ende als das Beste für uns heraus. Andernfalls werden wir entweder von den Folgen enttäuscht oder geraten in irgendwelche unvorhergesehenen Schwierigkeiten.
      Wir diskutierten untereinander, wohin wir als nächstes fahren sollten, und es wurde beschlossen, mit dem Abendzug nach Cox‘s Bazar aufzubrechen. Als wir den Ashugunj-Bahnhof erreichten, gab es ein starkes Unwetter. Ma sagte: „Das Wüten dieses Sturmes ist nichts im Vergleich zu dem, was ihr morgen erleben werdet.“ In Chittagong gingen wir an Bord des Dampfers nach Cox‘s Bazar. Als dieser das Meer an der Mündung des Karnafuly erreichte, erhob sich ein starker Sturm. Das Schiff schaukelte bedenklich, und Wellen gingen über Deck. Die Passagiere schrien vor Angst, aber Ma‘s Freude beim Anblick des stürmischen Meeres kannte keine Grenzen.
      Während Sie das Spiel des Sturmes mit den Wellen beobachtete, sagte Sie: „Hört nur den ununterbrochenen Kirtan dort! Wenn der Mensch spirituelle Fortschritte machen will, muss er sich durch alle Stürme des weltlichen Lebens hindurch immer an Gottes Namen erinnern, Seinen Ruhm besingen und versuchen, Seiner mächtigen Stimme zu lauschen.“
      Von Cox‘s Bazar fuhren wir weiter nach Adinath, einem Tempel auf dem Berggipfel der Insel Mash Khali. Ma blieb dort. Ich kehrte nach Dhaka zurück. Einige Tage später fuhr Pitaji nach Adinath und brachte Ma nach Kalkutta. Von dort fuhr Sie mit Ihrem Vater nach Hardwar.
      Später reiste Sie nach Sahasra Dhara (Dehradun), Benares, Vindhyachal und Navadvip. Von dort aus kehrte Sie mit Pitaji nach Kalkutta zurück und fuhr weiter nach Chandpur. Ich traf Ma auf Ihrem Weg von Navadvip durch Kalkutta. Ich erfuhr, dass Sie nur einige Früchte und ein Glas Saft zu sich nahm und bereits einige Tage auf diese Weise in Ihren eigenen Meditationen versunken und Tag und Nacht auf dem Boden liegend verbracht hatte. Ich bemerkte auch, dass Sie sich mechanisch bewegte wie eine Marionette, die einen Körper aus Ton mit sich schleift, aber von einer unsichtbaren Hand gelenkt wird. Als ich Sie in diesem Zustand sah, kam ich zu dem Schluß, dass sich das Göttliche, wenn es einen irdischen Körper annimmt, wie ein normaler Sterblicher verhalten und den Gesetzen dieser materiellen Scheinwelt gehorchen muss.
      Nach einigen Tagen kamen Ma und Pitaji von Chandpur nach Dhaka und blieben dort im Siddheshvari Ashram. Pitaji wurde ernstlich krank. Als er sich nach heftigem Leiden wieder auf dem Weg zur Besserung befand, wurde Ma krank und bettlägerig. Dies wurde bereits zuvor beschrieben[37],
      Im Oktober 1929 wurde die Bildgestalt Kalis unter eine Wellblechkonstruktion gestellt, die zu diesem Zweck im Ramna Ashram errichtet worden war. 1930 wurde der ganze Goldschmuck der Göttin gestohlen und Ihre Hand von dem Dieb abgebrochen.
      Zweifel kamen auf, ob die beschädigte Bildgestalt überhaupt weiter verehrt werden dürfe. Viele Pandits wurden in der Angelegenheit um Rat gefragt. Mahamahopadhyaya Panchanan Tarkaratna sagte: „Da die Bildgestalt Kalis nach der jährlichen Puja auf Anweisung einer Heiligen nicht versenkt wurde, sollte man sich auch in diesem besonderen Fall nach Ihren Anweisungen richten, obwohl die Verehrung einer beschädigten Bildgestalt unter normalen Umständen nicht gestattet ist.“ Auf Ma‘s Geheiß wurde die Bildgestalt ausgebessert und weiter verehrt.
      Als ich Ma lange Zeit vorher einmal auf die Notwendigkeit eines Tempels für Kali angesprochen hatte, gab Sie zur Antwort: „Warte noch ein Jahr.“ Binnen einem Jahr, d.h. Anfang 1931, wurde dank der herausragenden Bemühungen von Sjs. Bhupati Nath Mitra und Nagendra Nath Roy der Grundstein des Tempels gelegt. Als ein Graben für das Fundament gezogen wurde, entdeckte man vier bis fünf kleine und große Gräber, die jeweils ein Skelett enthielten, einige in sitzender, andere in liegender Haltung.
      Ma sagte diesbezüglich zu mir: „Der ganze Ort strahlt eine besondere, heilige Atmosphäre aus. Einige Sannyasis (Mönche) haben früher hier gelebt. Du selbst warst einer von ihnen. Ich habe einige dieser Heiligen auf dem Ramna-Gelände umherwandeln sehen. Diese Sadhus wünschen, dass ein Tempel auf ihren Gräbern errichtet wird, so dass Menschen kommen und hier zu Gott beten mögen und so die Reinheit des Ortes für das Wohlergehen der Bevölkerung aufrechterhalten. Das ist der Grund, weshalb du dazu neigtest, hier einen Ashram zu errichten. Die an diesem Unternehmen beteiligten Personen müssen irgendeine Verbindung mit den verstorbenen Heiligen gehabt haben.“
      Ich fragte Ma: „Wenn ich bereits ein Sannyasi war, warum muss ich mich heute noch so abmühen?“ Sie antwortete: „Man muss seine unvollendeten Aufgaben erfüllen, bis man sein Karma abgetragen hat.“
      Vor der Gründung des Dhaka Ashrams, als Ma in Shahbag wohnte, wurde fast jeden Abend Kirtan gesungen, an Voll- und Neumondtagen sogar bis spät in die Nacht hinein. In einer Vollmondnacht lag ich auf meinem Bett. Es war elf Uhr abends, und ich war hellwach. Eine ganze Weile lang vernahm ich innerlich eine süße Melodie, in der sich zwei Verse ständig wiederholten:

hare murare madhukaitabhare,
gopala, govinda, mukunda shaure.

Es kam mir so vor, als würde Ma dieses Lied in Shahbag singen - es klang wie Ihre Stimme. Am anderen Morgen erfuhr ich, dass Ma tatsächlich dieses Lied zu eben jener Zeit gesungen hatte. Sie sang nur diese zwei Verse immer und immer wieder.
      Ich war wirklich zu bedauern. Obwohl Ma versuchte, mir die göttliche Schönheit von Kirtan zu zeigen, konnte ich kaum Geschmack daran finden. Eines Abends ging ich mit Niranjan nach Shahbag. Kirtan wurde gesungen. Ma sagte: „Diejenigen von euch, die nicht mit Kirtan gesungen haben, sollten jetzt zusammen Gottes Namen singen.“ Niranjan und ich sangen mit sehr gedämpften, fast unhörbaren Stimmen, da wir von Natur aus zurückhaltend veranlagt waren. Ich fühlte jedoch ernsthafte Gewissensbisse, weil ich Ma‘s Wünsche nicht wirklich erfüllen konnte.
      Plötzlich sagte Ma: „Heute ist Samstag, und morgen ist Sonntag. Warum setzt ihr euch nicht zusammen und verbringt einige Stunden der Nacht mit dem Singen von Kirtan?“ Niranjan kehrte nach Hause zurück. Ich blieb die ganze Nacht in Shahbag und sang Kirtan. In den frühen Morgenstunden begann Ma in einer morgendlichen Melodie zu singen:

hari, hari, hari, hari, hari, hari, hari bol

Das erweckte eine neue Inspiration in mir. Von jenem Tag an spürte ich, dass Kirtan einen viel höheren Rang im spirituellen Leben einnimmt als andere religiöse Riten und Gebräuche. Die heutige Regel, jeden Samstagabend im Ashram Kirtan zu singen, begann im November 1926. An jenem Tag wurde dem Wort „Hari“ zum ersten Mal das Wort „Ma“ beigefügt. Nach einigen Tagen begann man, jeden Tag abwechselnd Kirtan in den Häusern von Ma‘s Devotees abzuhalten.
       Während des Kirtans in Shahbag kamen die Worte „Hari Bol“ am meisten vor. Ich bekam aber das Gefühl, dass alle Gebete unserer Seele sich doch eigentlich an Ma richten, da Sie das höchste Ideal unserer Gedanken und Verehrung darstellt, und dass daher das Wort „Ma“ das Grundelement unseres Kirtans sein sollte. Ich sprach diese Gedanken vor einigen Leuten aus, aber sie schenkten meinen Worten keine Beachtung. Ich selbst konnte nicht gut singen, und so ließ ich die Sache einige Zeitlang auf sich beruhen.
      Als Shriman Anathbandhu und Brahmacari Kamalakanta in den Dhaka-Ashram kamen, bat ich sie, allmählich das Wort „Ma“ in den Kirtan einzuführen. Zu jener Zeit kam auch Sj. Kulada Kanta Banerji nach Shahbag. Er hatte eine tiefe Achtung vor den religiösen Riten und Bräuchen der Hindus und kannte sich sehr gut darin aus. Auch er zögerte, eine solche Neuerung in den Kirtan einzuführen. In manchen Liedern jedoch gab es eine Kombination der Namen von „Hari“ und „Ma“. Es ist wirklich schwierig, unsere festgelegten Gewohnheiten, Einstellungen und Ausdrucksformen zu ändern. Besonders im religiösen Bereich ist es für die meisten Leute sehr bequem, sich in gewohnten Bahnen zu bewegen. Darüberhinaus erfordert es beträchtliche Willenskraft, um die Ketten der Tradition abzuschütteln.
      Damals dachte ich: Wir versuchen, unsere Aufmerksamkeit auf Ma zu konzentrieren und all unsere Wünsche zielen darauf, den Staub Ihrer Lotosfüße zu berühren. Innerlich sehen wir Ihr Gesicht vor uns, unsere Ohren fangen begierig jedes Wort auf, das von Ihren Lippen kommt, und all unsere Liebe und Verehrung strömt unaufhaltsam hin zu Ihrer Gnade. Wenn wir in so einem Zustand während des Kirtans singen: „prana gauranga, nitya nanda, esho he gaur, boso he amar hriday prangane“ - „Gauranga und Nityananda sind mein Leben. Komm, oh Gaur, kehre ein in die Kammer meines Herzens!“ und ekstatisch auf dem Boden rollen - wie kann da Harmonie und Einklang zwischen unserem Lied und dem Strom unserer Liebe und Verehrung sein
       Das Ziel aller Verehrung oder Konzentration ist doch, unseren vielfältigen Bestrebungen eine einheitliche Richtung zu geben und all unsere unbedeutenden einzelnen Wünsche und Sehnsüchte auf das Göttliche Wesen zu lenken, das wir verehren. Versuchen wir jedoch - anstatt unsere Gefühle und Gedanken zu schönen Bildern aus ferner Vergangenheit schweifen zu lassen, die durch die verschiedenen Themen, Melodien und Stimmungen der traditionellen Lieder vor uns aufleben - uns vielmehr durch solche Gedanken, Melodien und Lieder auf die lebendige Gegenwart Ma‘s zu konzentrieren, welche direkt Ihren Namen enthalten, und durch persönliche Bilder, die eine ungebrochene Anziehungskraft für uns besitzen, so wird eine neue Inspiration unsere Verehrung und unseren Kirtan beseelen. Wir werden fähig zu wahrer Konzentration und gewinnen Ihre Gnade.
       Wenn wir wirkliche Devotees von Ma sein wollen, sollten wir allein mit dem Namen „Ma“ die Inbrunst und Stärke, die Schönheit und Harmonie der alten Vaishnava-Komponisten im Kirtan wiederbeleben können. Das Wort „Ma“ ist ein natürliches Wort, das gleich von Geburt an spontan von den Lippen eines Kindes kommt. Es stammt direkt aus der Silbe „Om“ und ist der Atem unseres Lebens. Der erste Schrei eines Kindes, wenn es aus dem Schoß der Mutter kommt, ist „Om-Ma“, was dasselbe ist wie „Om“. Es ist das Klangsymbol schlechthin für alle menschlichen Wesen, um die Zuwendung der Mutter zum Kind zu lenken.
      Wenn wir wirklich fühlen, dass Ma die maßgebliche Göttin unserer Welt ist, dann sollte Kirtan mit dem Namen„Ma“ die leichteste und natürlichste Art der Verehrung für uns sein.
      Etwa zu jener Zeit komponierte ich das folgende Lied und fügte den Namen „Ma“ zum normalen Kirtan hinzu:       

In Freude und Schmerz, in Glück und Leid,
ruf Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma,
Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma.

Wenn das Kind aus seiner Mutter Leib hervorkommt,
nimmt Mutter es auf ihren Schoß
und weiht es ein mit dem Mantra OM.
Kindlich lernt es zu sprechen Ma, Ma, Ma.

So lernt ihr dann, auf eigenen Füßen zu stehen
und vergesst allmählich jenes erste Wort,
womit euer Leben begann.

Dann forscht ihr in den Veden und Tantras,
um die Reichweite von Ma zu finden,
die doch unendlich ist.

Wollt ihr je die Wahrheit eures Herzens finden,
so lasst alle Namen, Formen in das Mantra Ma eingehen.
Sagt immer Ma, Ma, dass Tränen aus euren Augen strömen,
und findet in Shri Anandamayi Ma
die endgültige Zuflucht eurer Lebensreise.

Gegen Anfang 1928 war ich in Giridih. Eines Morgensbesuchten Pitaji und Ma mich unvermutet. Ich sprach sie darauf an, dass unser Ashram eine besondere Art von Kirtan mit einem eigenen göttlichen Klangsymbol haben sollte, so wie alle Ashrams ihre jeweiligen Hymnen haben. Die eine Person, um die sich alle Ashramaktivitäten drehen, sollte der Mittelpunkt sein, auf den sich alle Bhajans und Kirtans gemeinsam ausrichten. Durch so eine Harmonie würden unsere Bemühungen zu spirituellem Fortschritt neuen Ansporn erhalten. So wurden einige Kirtans mit den Namen „Hari“ und „Ma“ zusammen komponiert, und man einigte sich darauf, dass ein Lied an Kulada Dada nach Dhaka geschickt werden sollte. Als Ma gegangen war, wollte ich ihm bereits das Lied senden, als ich plötzlich innerlich den Impuls verspürte, ein neues Lied nur mit Ma‘s Namen zu versuchen. Es lautete:

Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma, Ma,
Rufe (dako) Ma, Ma, Ma, Ma,
Sage (bolo) Ma, Ma, Ma, Ma,
Singe (gao) Ma, Ma, Ma, Ma,
Verehre (bhajo) Ma, Ma, Ma, Ma,
Wiederhole (japo) Ma, Ma, Ma, Ma,
Rufe, sage, singe, verehre, bete Ma, Ma, Ma.

Das Lied wurde an Kulada Dada nach Dhaka geschickt, und er schrieb, dass die Komposition die Devotees beeindruckt habe und nun gemeinsam mit den anderen Liedern im Ashram gesungen werde.
       Dies war der Beginn der neuen Form von Kirtan mit dem Mantra „Ma“. Ohne die heftige Sehnsucht nach Ma‘s Gnade während Ihrer Abwesenheit war es nicht möglich, diesen Kirtan aus tiefstem Herzen zu singen. Als diese Lieder komponiert wurden, war Ma mehrere Monate lang fort von Dhaka. Ihre Anhänger fühlten starke Qualen der Trennung. Ihr intensiver Wunsch, Ma wieder in ihrer Mitte zu haben, machte diese Lieder so süß und ergreifend.
      Nachdem der Ramna Ashram gegründet worden war, wurden zur Bhajanzeit die Sanskrithymnen gesungen, die im Zustand tiefer Versunkenheit von Ma‘s Lippen gekommen waren. Gegen Ende 1931 rief Ma mich zu sich und sagte: „Die Hymnen, die ihr während der Bhajanzeit rezitiert, sind unvollständig, weil ihr nicht fähig wart, alle Worte aufzuschreiben, die über meine Lippen kamen. Könntest du nicht eine andere Komposition versuchen?“
       Ich griff Ihren Vorschlag auf und kam zu dem Schluss, dass ein Lied in Bengali für die bengalischen Devotees anziehender sein würde als ein Sanskritlied. Eines Nachts gegen drei Uhr morgens offenbarte sich durch Ihre Inspiration folgendes Lied:

Jaya hridaya-vasini shuddha sanatani Shri Anandamayi Ma

Ehre sei Dir, Shri Anandamayi Ma, die Du in jedem Herzen wohnst, rein und ewiglich!

Bhuvana ujjvala janani nirmala punya-vistarini Ma

Dein Glanz, Mutter Nirmala, erleuchtet das Universum mit den Strahlen aller himmlischen Eigenschaften.

Rajarajeshvari svaha svadha gauri pranava-rupini Ma

Du bist die Königin aller Königinnen, Svaha, Svadha und Gauri[38] OM ist Deine Gestalt, oh Mutter!

Saumya saumyatara satya manohara purnaparatpara Ma

Süß und über alle Maßen anmutig bist Du, Mutter, immerwährend und unseren Geist bezaubernd, die letzte Wirklichkeit hinter dem manifestierten Universum.

Ravi shashikundala mahavyomakuntala vishvarupini Ma

Sonne und Mond, oh Mutter, sind Deine beiden Ohrringe, das tiefe Blau den unendlichen Himmels ist DeinHaar, und das ganze Universum ist Dein wunderbarer Körper.

Aishvarya bhatima madhuryapratima mahimamandita Ma

Mutter, Du bist der Glanz aller Reichtümer der Welt, Verkörperung
aller Süße und strahlend mit allem Glanz des Lebens.

Rama-manorama shanti-shanta-kshama sarvadevamayi Ma

Du erfreust das Gemüt so wie Lakshmi Vishnu erfreut, Du bist Friede, Ruhe und Barmherzigkeit und vereinst alle Gottheiten in Dir.

Sukhada varada bhakti-jnanada kaivalyadayini Ma

Mutter, Du schenkst alles Glück und allen Segen, Hingabe, Wissen
und Entsagung.

Vishva-prasavini vishva-palini vishva-samharini Ma

Das Universum entsteht aus Dir, Du beschützt und erhältst es und nimmst es am Ende wieder in Dich auf, oh Mutter.

Bhakta-pranarupa murtimati kripa trilokatarini Ma

Du bist, oh Mutter, das Leben Deiner Devotees, verkörperte göttliche
Gnade und Retterin aller drei Welten.

Karyakarana bhuta bhedabhedatita paramadevata Ma      

Du bist der Ursprung aller Handlungen und drückst Dich in allen Handlungen aus. Du stehst jenseits der Gegensätzevon Einheit und Verschiedenheit und bist die höchste Gottheit Selbst.

Vidyavinodini yogijanaranjani bhavabhayabhanjini Ma

Alle Weisheit erhält erst ihren Reiz durch Dich, oh Mutter, Du bezauberst alle Yogis und bannst die Schrecken der Welt.

Mantrabijatmika veda-prakashika nikhilavyapika Ma

Du Selbst bist die Seele aller Mantras und das offenbarende Licht der Veden, Du erhältst alle Welten durch Deine Gegenwart, oh Mutter.

Saguna sarupa nirguna nirupa mahabhavamayi Ma

Du besitzt alle Eigenschaften und Gestalten und bist ebenso eigenschaftslos und gestaltlos, versunken in höchste Ekstase (Mahabhava), oh Mutter.

Mugdha charachara gahe nirantara tava guna madhuri Ma

Die ganze Welt besingt in unaufhörlicher Verzückung Deine Eigenschaften, oh süße Mutter.

Mora mili prane prane pranami shri charane jaya jaya jaya Ma

Mögen sich unsere Herzen im Gesang vereinen, Deinen heiligen Lotusfüßen Pranam darbringen und ewiglich Deinen Ruhm singen! Heil, Heil, Heil und nochmals Heilsei Dir, oh Mutter!