Shri Shankara

Der Tradition nach wird Shankara als eine teilweise Inkarnation von Lord Shiva selbst betrachtet. Es wird erzählt, daß seine Eltern, nach dem sie lange Zeit ohne Nachkommen geblieben waren, auf einer Pilger fahrt zum Shivatempel in Trichur im Traum vor die Wahl gestellt wurden, entweder einen guten, klugen Sohn zu bekommen, der jedoch nur kurz leben würde oder viele unintelligente und charakterlose Kinder mit langem Leben. Die Eltern wünschten sich das erstere, und bald wurde ihnen ein Sohn gewährt.

      Shankaras Vater pflegte den kleinen Knaben gelegentlich zum Bhagavatitempel des Dorfes mitzunehmen, und gab ihm dann jedesmal etwas Milch von der Opfergabe zurück. Shankara glaubte immer, daß diese Milch der Rest dessen war, was die Göttin als Opfergabe an genommen und ausgetrunken hatte.

      Einmal, als Shankara etwa drei Jahre alt war, wurde er allein mit etwas Milch zum Tempel geschickt, da sein Vater fort war. Shankara stellte die Milch vor die Göttin und bat sie zu trinken, doch blieb ihr Gesicht unbewegt. Der kleine Knabe begann bitterlich zu weinen. Durch das unschuldige Gebet des Kindes gerührt, leerte die Göttin den Becher aus. Als Shankara sah, daß der Kübel völlig leer war, schluchzte er noch heftiger. Die Göttin fragte ihn nach dem Grund, da sie doch schließlich seinem Wunsch gemäß alle Milch getrunken habe.

      Shankara fragte daraufhin: »Warum hast du heute alle Milch getrunken, ohne für mich etwas übrig zu lassen wie sonst, wenn mein Vater dir das Opfer brachte? Soll ich heute ohne Milch gehen?« Die Göttin lächelte, nahm das Kind auf ihren Schoss und fütterte es mit Milch aus ihrer eigenen Brust.

      Einmal, als Shankara, dem Brauch der jungen Brahmacharis folgend, durch die Straßen seines Dorfes zog, um Almosen zu bitten, war er an das Haus eines sehr armen Brahmanen gelangt, der selbst gerade nach Almosen ausgegangen war. Als seine Frau herauskam und einen Blick auf Shankara warf, fiel ihr seine leuchtende Erscheinung sehr auf. Doch im nächsten Augenblick war sie sehr verzagt, da sie in ihrer Armut nichts besaß, was sie dem Knaben hätte geben können. Da fiel ihr etwas ein, und sie holte eine fast trockene Amalakafrucht für Shankara. Als Shankara diese Dürftigkeit gewahrte, schaute er zum Himmel empor und betete lange zu Mahalakshmi, der Göttin des Wohlstandes, welche, erfreut über das Gebet des Jungen, vor ihm erschien. Shankara bat sie, ihre Gnade doch der armen Frau zu gewähren. Mahalakshmi erwiderte, daß die Frau die Früchte ihrer Sünden aus einem vergangenen Leben ernte. Shankara bat die Göttin, ihr doch zu verzeihen, auch um der Amalakafrucht willen, die sie ihm gegeben hatte. Da erbarmte sich Mahalakshmi, ließ Amalakafrüchte aus Gold auf die Behausung der armen Frau regnen und verschwand.

      Shankara war fest entschlossen, ein Sannyasin zu werden, doch seine Mutter stellte sich seinem Wunsch entgegen. Eines Tages badete er im Curnafluß, als ein Krokodil seine Füße erfasste, um ihn ins Wasser herabzuziehen. Shankara rief laut um Hilfe, und seine Mutter Aryambha kam herbeigelaufen. Shankara erkannte, daß die einzige Rettung die von den Schriften befohlene Änderung des Lebensstandes sein würde, d.h. Sannyasin zu werden. Die Schriften sagen, daß man, wenn man in den Lebensstand eines Sannyasin eintritt, eine neue Geburt erlangt und eine neue Lebensfrist erhält. So rief er seiner Mutter zu, daß er, um vor dem Krokodil gerettet zu werden, Sannyasin werden müsse, und daß sie ihm, wenn ihr sein Leben teuer sei, sofort ihre Zustimmung geben müsse.

      Aryambha dachte nach, doch war es ihr schließlich lieber, ihren Sohn lebend zu sehen und sie stimmte zu. Shankara sprach laut das Sannyasagelübde. Sofort gab das Krokodil Shankaras Füße frei, verwandelte sich in einen Gandharva, flog gen Himmel und pries Shankara, daß er ihn von dem Fluch, ein Krokodil zu sein, erlöst hatte.

      Als Shankara 16 Jahre alt war, hatte sich sein Ruhm in ganz Benares verbreitet, und Tausende von Schülern lauschten täglich seinen Worten. Eines Morgens kam ein alter Brahmane mit ergrautem Haar, aschebeschmiert und eine Rudrakshakette tragend, zu ihm. Er befragte Shankara nach einigen seiner Erklärungen der Brahma Sutras. Daraufhin entspann sich eine lebhafte Debatte zwischen beiden, jeder hielt an seiner Argumentation fest, und die Diskussion soll acht Tage gedauert haben. Ihr Ende war nicht abzusehen. Shankaras Schüler Padmapada erkannte, daß der Alte kein gewöhnlicher Mann sein konnte. Aus dessen meisterhaft tiefer Einsicht in die Bedeutung der Brahma Sutras und aus seiner subtilen Logik schloss Padmapada, daß der Gelehrte niemand anders als Vyasa, der Verfasser der Brahma Sutras, selbst sei.

      Padmapada verneigte sich vor den beiden und bat sie mit gefalteten Händen, die Debatte zu beenden. Er sagte, daß Gelehrte wie er selber schließlich nichts vollbringen könnten, wenn sich Shankara, die Inkarnation Shivas und Vyasa, die Verkörperung Vishnus, ständig in der Debatte befänden.

      Auf diese Worte hin endete die Diskussion. Vyasa offenbarte sich, und Shankara und all seine Schüler verneigten sich vor dem Weisen. Vyasa segnete Shankara und gab seine Zustimmung zu Shankaras Kommentar der Brahma Sutras.

OM TAT SAT