Garbyang: das Basislager

Sobald wir in Garbyang ankamen, liefen die Ortsbewohner zusammen und umringten uns. Das ist ganz normal auf unserer Wanderung. Ich nehme an, sie sind von Natur aus neugierig auf Reisende aus fremden Gegenden, aber diese Begegnungen im Dorf haben eine besondere Eigenheit. Wo wir auch halten: sie finden immer ihren Weg zu Ma und umringen sie genau wie die Menschenmengen in Calcutta, Delhi oder Dehra Dun. Vielleicht erkennen sie Ma an unserem Verhalten ihr gegenüber als Hauptperson unserer Gruppe. Aber das erklärt nicht, warum sie die ganze Zeit, solange sie da ist, nur bei ihr bleiben wollen. Ma scheint ihrerseits ganz entspannt und glücklich inmitten dieser Fremden. Wir sind jetzt so weit ins Innere des Himalaya vorgedrungen, daß es keine gemeinsame Sprache mehr gibt. Wir haben gelernt, die Leute aus verschiedenen Regionen zu unterscheiden, wie z.B. Bhutias, Nepalis, Garhwalis usw. Bisweilen spielen die Kulis Dolmetscher, da sie ein paar Brocken Hindi verstehen. Ma hält manchmal die Frauen und Kinder spielerisch bei den Händen, und ihr Lächeln gewinnt natürlich alle Herzen. Ich bin sicher, daß sie irgendwie mit ihnen kommuniziert, denn sie lassen Ma immer nur ungern gehen. Mitunter begleiten ein paar Frauen ihren Dandi. Wer kann sagen, ob sie von Ma nicht mehr bekommen, als irgendeiner von uns, ihre ständigen Begleiter?
      Auf dem Weg nach Garbyang hat sich ein Unfall ereignet. Ein Kuli wurde von einer schwarzen Schlange gebissen. Bholanath und einige seiner eigenen Kameraden probierten verschiedene Mittel aus. Ma deutete auf ein paar am Berghang wachsende Kräuter und ließ ihn die Blätter kauen. Das schien seine Schmerzen erheblich zu lindern. Seine Freunde trugen ihn in einem Dandi, und er wird die Tortur wahrscheinlich überstehen.
      Garbyang ist eine kleine Stadt. Es gibt ein Postamt, von dem Bhaiji ein Bündel Briefe abholte. Alle Freunde und Devotees erkundigen sich, ob unsere Reise gut vonstatten geht. Parvatis Elternhaus ist in der Nähe. Sie wird ihre Eltern besuchen und dann für den Rest der Reise wieder zu uns kommen. Wir bleiben ein paar Tage hier, worüber wir sehr froh sind.

Samstag, 26. Juni. Heute genießen wir die Ruhepause vom Wandern. Bholanath scheint als einziger überhaupt nicht müde zu sein. Seine Energie und Begeisterung sind wirklich zum Staunen. Man hatte uns gewarnt, diese Reise sei so mühsam, daß nicht einmal ein Vater stehen bleiben könne, um nach seinem Sohn zu sehen, aber Bholanath kümmert sich unermüdlich um die ganze Gesellschaft. Er steigt sogar wieder bergab, um zu schauen, was die Nachzügler machen, und um die Mutlosen aufzumuntern. Auch die Träger bewundern ihn; sie sagen, sie hätten nie einen Mann aus dem Flachland so geschickt und mühelos wie Bholanath laufen sehen.
      Wir sind in zwölf Tagen von Almora aus 217 km weit gekommen. Garbyang liegt 3048 Meter hoch.

Sonntag, 27. Juni. Wir sind im Schulhaus. Der Dak-Bungalow ist bereits von mehreren Pilgergruppen besetzt. Einige von ihnen haben Ma besucht, darunter Swami Jñanananda, ein Veteran auf dieser Wanderung, in Begleitung des Prinzen von Dinajpur. Man hat uns zu verstehen gegeben, daß sich normalerweise zwei oder drei Gruppen für den letzten Abschnitt der Pilgerschaft zusammentun - wegen der Gefahren, von denen ein Raubüberfall nicht die geringste ist.
      Heute bricht der Prinz mit seiner Gruppe auf. Sie kamen zu Ma, um vor dem Weitermarsch ihren Segen zu erbitten. Ma lächelte und sagte: »Er allein lenkt alles. Was auch passiert, wißt, daß es Sein Wille ist. Erinnert euch immer an euer Mantra, dann könnt ihr die Dinge nehmen, wie sie kommen.« Der Prinz verbeugte sich und versprach, sich an ihre Worte zu halten.

Das Rauschen des Flußes hat uns wieder. Dieser Klang paßt gut zur Erhabenheit der uns umgebenden Weite. Jetzt haben wir Zeit, und können die Schönheit der Umgebung bewundern. Die Berge sind keineswegs grau und eintönig; sie sind voller Farben. Es sieht aus, als seien die Blumen von unendlicher Vielfalt und Färbung zum Schmuck der Berghänge gepflanzt worden. Es ist keine chaotische Wildnis, sondern ein wunderschöner, duftender Garten.
      Es werden Vorbereitungen getroffen wie für einen Kriegszug. Unsere zweite Trägergruppe wird jetzt entlohnt und eine neue mitsamt einem Führer engagiert. Wir brauchen jetzt Ponies statt Dandis. Das Gepäck wird von Maultieren getragen. Der nächste größere Halteplatz ist Taklakote in Tibet. Wir werden über den 5180 Meter hohen Lipu Lekh Pass nach Tibet gelangen, von dort beginnt der Abstieg nach Taklakote. Der Weg von hier zum Kailash und zurück wird schätzungsweise 20 bis 22 Tage dauern. Die Gebühren betragen 20 Rupies pro Pony, dazu täglich 12 Annas für die Ponyführer. Ein Führer wird jetzt die Gesamtleitung übernehmen. Er bekommt 25 Rupies. Sein Pferd bezahlen wir auch. Wir müssen genügend Verpflegung für den ganzen Weg mitnehmen, da es jenseits von Taklakote nichts mehr zu kaufen gibt. Das übernehmen die Männer. Wir müssen Zelte für uns und für die Männer mitnehmen, da es ab Garbyang keine Rasthäuser mehr gibt. Wir haben beschlossen, für Ma ein Dandi zu mieten. Wir brauchen ein Zelt für die Mannschaft. Auch die Maultiere, die ihr Gepäck und ihren Proviant tragen, müssen gemietet werden.

Montag, 28. Juni. Wir waren froh, daß uns heute eine warme Sonne grüßte. Die letzten Tage waren neblig. Die Sonne verschwand aber schnell wieder, und es regnete den ganzen Tag. Zumindest vertrieb das die Fliegen, die uns in den letzten Tagen so sehr belästigt hatten.
      Etliche Bewohner von Garbyang bringen Ma vielerlei Geschenke. Die Kommunikation ist schwierig, auch wenn Bhaiji sich nach Kräften bemüht. Ich möchte behaupten, daß sie von ihrem Kontakt mit Ma völlig befriedigt sind, das sieht man ihnen an.

Dienstag, 29. Juni. Wir brachen früh von Garbyang auf und wanderten zu Parvatis Dorf. Ihre Mutter war zu uns gekommen, um uns einzuladen. Wir verbrachten einige Zeit in ihrem Dorf. Parvati ist glücklich, daß Ma und Bholanath ihr Elternhaus besuchen konnten.

Mittwoch, 30. Juni. Letzte Nacht regnete es. Wir haben uns schon an die Unbequemlichkeit feuchter Kleider und klammen Bettzeugs gewöhnt. Es wurde Nachmittag, bevor wir die Reise fortsetzen konnten. Unser Führer Sendel Singh organisierte den Zug von 21 Ponies und Maultieren. Wir bemerkten, daß er, wie auch viele der Träger, schwer bewaffnet waren. Wir mußten uns nun so kleiden, wie es das Reiten auf Ponies erfordert, d.h. in warme Hosen, Jacken, Mützen, Handschuhe usw. Die ungewohnte Kleidung und die neue Erfahrung, auf einem Pferd zu sitzen, ließen uns wieder ganz lebhaft empfinden, daß wir tatsächlich auf dieser Pilgerschaft sind.
      Der Führer ließ nach 13 km an einer Stelle namens Kalapani Rast machen. Der heutige Reiseabschnitt war höchst merkwürdig. Ein Weg war nicht zu erkennen. Die Ponies stolperten hintereinander über Stock und Stein dem Führer nach. Die Berge sind weiter in die Ferne gerückt und haben weiten, kahlen Landstrichen Platz gemacht. Sendel Singh sagt, der morgige Abschnitt werde schwierig, deshalb müßten wir früh aufbrechen.

Donnerstag, 1. Juli. Wir konnten nicht vor 11 Uhr aufbrechen. Es hat die ganze Nacht ununterbrochen geregnet.
      Ein einsamer Marsch. Ein Weg existiert jetzt praktisch nicht mehr. Wir hören, daß selbst die Schäfer sich manchmal verirren. Dann lassen sie ihre Herden die Führung übernehmen. Die Schafe finden unfehlbar ihren Heimweg zu den Dörfern. Es regnete. Wir waren durchnäßt und klamm vor Kälte.
      Gegen halb zwei Uhr nachmittags ließ Sendel Singh Rast machen. Wir sahen ein paar Steinhütten, die den Schafen als Unterschlupf dienen. Ich war froh, eine betreten zu können. Parvati war so vorausschauend, Brennholz mitzunehmen. Sie entzündete jetzt in zwei Hütten Feuer. Ich sah, wie Bhaiji, Bholanath und Vater ihre Kleider über einem Feuer zu trocknen versuchten. Ich hockte mich an das andere Feuer. Nach einiger Zeit stellte ich fest, daß der Boden, auf dem ich saß, aus getrocknetem und gestampften Tierkot bestand. Das störte mich aber nicht, so freute mich das Dach über dem Kopf. Dieser Ort heißt Dobra.

Freitag, 2. Juli. Es gießt immer noch. Die Träger holten die Ponies von ihren Weideplätzen, aber der Führer beschloß, heute nicht weiterzuziehen; der Weg sei zu rutschig und gefährlich, sagte er.
      Vater und Bhaiji fühlen sich nicht wohl. Die Luft ist so dünn, daß wir alle in unterschiedlichem Grad an Atemnot leiden. Morgen müssen wir über den Lipu, das bedeutet einen Aufstieg auf 5180 Meter und einen Abstieg auf 4870 Meter nach Taklakote. Über diesen Teil der Reise haben wir furchterregende Geschichten gehört. Jetzt ist es zu spät, an die Gefahren zu denken; außerdem ist Ma bei uns, also kann nichts schiefgehen. Ungeachtet vieler Widrigkeiten sind wir vom Himalaya verzaubert. Wir fühlen uns innerlich erhoben und sind trotz aller körperlichen Strapazen von Freude erfüllt.
      Unter Ma‘s Anleitung bereitete ich für jeden von uns kleine Päckchen mit Mitteln gegen Schwindel und Atemnot vor. Von nun an muß jeder seine Ration selber bei sich haben. Ma hatte ebensowenig Erfahrung im Hochgebirgswandern wie wir anderen, aber mit erstaunlicher Voraussicht hat sie mir aufgetragen, genau die Dinge mitzunehmen, die wir jetzt so hilfreich finden, wie z.B. Kampfer, eingelegte Zitronen usw. Es überrrascht mich immer wieder, wie sie unsere Bedürfnisse im Voraus kennen und dafür Vorsorge treffen kann. Sie selbst ist ganz wie immer und scheint sich in dieser für uns so fremdartigen Umgebung vollkommen zu Hause zu fühlen. Sie ermuntert uns alle, und ihre Worte geben auch den Mutlosen frische Hoffnung. Es ist zu kalt, leserlich zu schreiben.

Samstag, 3. Juli - Wir überschreiten die Grenze. Wir brachen bei Nieselregen auf und stiegen stetig höher. Der Weg ist zu schrecklich, ihn zu beschreiben. Der Führer beschloß, die Überquerung des Passes zu wagen; wahrscheinlich, weil er nichts davon hat, diesen Tag zu verlieren, da er pauschal für den Hin- und Rückweg entlohnt wird. Oder vielleicht hält dieses Wetter noch tagelang an. Irgendwie meisterten wir den rutschigen, steilen Weg, meistens gestützt und gezogen von den Ponyführern. Allmählich kamen wir auf schneebedecktes Gelände. Ich habe keine Worte, den erhabenen Anblick des nur von vielfarbigen Felsvorsprüngen unterbrochenen blendend weißen Schnees zu beschreiben. Die Berge sind tatsächlich sehr farbig.
      Der Anblick des Lipu Lekh Passes war atemberaubend. Es kam mir vor, als überquerten wir auf einer schmalen Brücke ein Meer aus Schnee. Die Ponies stolperten unsicher diesen schmalen Weg entlang. Wir waren froh über die Päckchen, die Ma zuvor ausgeteilt hatte. Sie machten uns den Ritt halbwegs angenehm. Beim Abstieg gingen wir zu Fuß, da der Hang zu steil zum Reiten war. Wir rutschen oft im Schnee aus, aber niemand verletzte sich. Bholanath hielt mit unvermindertem Enthusiasmus unseren ganzen Zug im Auge, er ritt vor und zurück, um sich zu vergewissern, daß es allen gut ging. Als wir wieder ebenen Grund erreichten, klopfte er uns auf die Schultern und gratulierte uns zu unserer Leistung.

Bei Sonnenuntergang erreichten wir Taklakote. Der Führer war vorausgegangen und unsere Zelte waren schon aufgeschlagen, als wir torkelnd ankamen. Ein paar Leute schauten schweigend zu, wie wir das Lager bereiteten. Sie schienen uns, anders als an den früheren Rastplätzen, nicht willkommen zu heißen. Später erfuhren wir von unseren Leuten, daß es Räuber und Wegelagerer waren, eine ständige Bedrohung für die Pilger. Die Regierung unternimmt nichts gegen sie; sie sind ein sehr mächtiger Verband. Deshalb haben der Führer und einige unserer Leute Feuerwaffen bei sich; sie wollen für den Ernstfall gerüstet sein.
      Auf dem Weg nach Taklakote sahen wir viele Höhlen. Näher an der Stadt sahen wir Tempel und Steinterrassen. Sie sind mit bunten Wimpeln geschmückt, die fröhlich im Wind flattern. Wir konnten auch einiges Ackerland sehen. Selbst in dieser abgelegenen Gegend kommen Besucher zu Ma. Zwei Schülerinnen von Lamas kamen und blieben eine Weile bei ihr. Ich habe keine Ahnung, was sie über Ma wußten, und was bei ihrer Begegnung herauskam, aber mit Ma ist anscheinend alles überall möglich. Sie war zu diesen zwei Asketinnen ebenso freundlich wie zu allen guten Bekannten.
      Unsere heutige Wegstrecke kommt mir jetzt wie ein Traum vor. Die Schönheit der wechselnden Farben in den kahlen Bergen inmitten unendlicher Schneefelder ist wahrhaft erhaben. Jetzt wundert es mich nicht mehr, daß sich Jahr für Jahr Pilger auf diese Wanderung machen. Mit Ma‘s und Bholanaths Segen sind wir sicher angekommen.

Sonntag, 4. Juli. Wir brachen gegen 11 Uhr auf und kamen bei Sonnenuntergang in dem Dorf Ringung an (16 km). Die Bewohner sind normale, freundliche Leute. Sie stellten sich wie gewohnt um Ma‘s Dandi auf und schauten sie erhrerbietig an. Einige beugten sich, um ihre Füße zu berühren. Ma lächelte sie an und hielt eine Zeitlang ihre Hände. Wir konnten überhaupt nicht mit ihnen sprechen.
      Wir sahen viele Tempel. Einige Schriftzeichen und Worte waren in die Steinwände geritzt. Ein bestimmtes Zeichen wiederholte sich vielmals. Einer der Pferdeführer sagte, es sei die Silbe OM. Alle Hausdächer sind mit bunten Fähnchen geschmückt. Die heutige Etappe war nicht anstrengend. Wir mußten auf Anweisung des Führers dicht beisammen bleiben, als Vorsichtsmaßnahme gegen Raubüberfälle.
      Es gibt keine Bäume oder Sträucher. Ich verstehe nicht, wie Sendel Singh die Marschroute plant. Das Land scheint menschenleer und unerforscht. Eine kleine Pilgerschar windet sich langsam durch ein weites, verschneites Tal mit gewaltigen Bergen auf allen Seiten. Wir können keine besonderen Orientierungspunkte erkennen; die Reise scheint endlos. Dann läßt der Führer plötzlich anhalten, und das Lager wird aufgeschlagen. Das ist dann für eine Nacht unser Zuhause. Und wieder ist es Zeit, weiterzuziehen durch dieselbe schweigende Landschaft in ihrer erhabenen Weite. Der überwältigende Eindruck dieses Landes ist Stille. Kein Wunder, daß die Asketen seit uralten Zeiten zum Himalaya kommen, um sich auf ihr Sadhana zur Selbstverwirklichung zu konzentrieren.

Montag, 5. Juli. Vater leidet ein wenig unter Atemnot. Ma überredete ihn, in ihrem Dandi zu sitzen, während sie auf seinem Pony ritt. Nach einer kurzen Etappe schlugen wir gegen zwei Uhr nachmittags Lager auf. Sendel Singh wählte diesen Rastplatz, weil es Gras und Wasser für die Ponies und Maultiere gibt. Auch wir waren froh, mehr Zeit zu haben.

Dienstag, 6. Juli. Heute brachen wir verhältnismäßig früh auf und nahmen heißen Tee in Thermosflaschen mit, weil nun keine frische Milch mehr erhältlich ist. Ma ritt wieder, damit Vater das Dandi benutzen konnte.
      Auf diesem Abschnitt des ›Weges‹ haben wir seltsam aussehende Reiter getroffen. Sie seien Räuber, sagte man uns, eine große edrohung für die Pilger. Sie trugen Waffen. Ich sah zu meiner Überraschung, daß sie selbst bei dieser eisigen Kälte ihre rechte Hand nicht einhüllten. Sendel Singh erklärte uns später, daß sie ihre Handschuhe ausziehen, sobald sie Fremde herankommen sehen, damit sie gegebenenfalls schnell schießen können. Nach einiger Zeit sahen wir zwei weitere Männer, die vom Gipfel eines Hügels aus unseren Zug beobachteten. Die ersten beiden hoben ihre Hände und bewegten ihre Finger auf eine ganz besondere Weise, offenbar um irgendein Signal zu geben. Dann kamen die beiden anderen herunter und stießen zu ihnen. Sie postierten sich an einer Stelle, die wir im Gefolge unserer Träger passieren mußten. Sendel Singh muß sie eine Zeitlang beobachtet haben. Er löste sich nun aus dem Zug der Ponies, galoppierte los und stieß zu der Gruppe. Wir sahen sie zusammen stehen und reden, während wir uns langsam, einer nach dem anderen, näherten. Nachdem wir ein Stück weitergeritten waren, galoppierte er weiter und holte uns wieder ein.
      Wahrscheinlich kennen die Wegelagerer alle Führer. Ein bißchen weiter sahen wir ein paar Männer in einem kleinen Lager von zwei Zelten sitzen. Sendel Singh ritt wieder voraus, stieg ab und saß mit ihnen im Gespräch, während wir vorbeizogen. Dann grinste er breit und schloß wieder zu uns auf. Das plötzliche Auftauchen dieser unfreundlich aussehenden bewaffneten Männer hatte uns sehr beunruhigt. Sendel Singh hat uns ganz sicher vor Unannehmlichkeiten von Seiten dieser Leute bewahrt.
      Das alles war vergessen, als wir plötzlich kurz den Manasarovar erblickten. Die immense Wasserfläche hatte die Farbe des blauen Himmels über uns. Am Horizont vereinigte sich das Blau von oben mit dem Blau von unten. Dieser Anblick gab uns das Gefühl, als hätten wir eine Welt betreten, in der Himmel und Erde eins sind. Ein unvergeßliches Erlebnis!
      Ma, Bholanath, Bhaiji und ich waren den anderen ein wenig voraus. Sendel Singh und die Kulis waren schon weitergeritten, um an einem geeigneten Platz das Lager aufzuschlagen. Auf unserem Weg zu diesem Lager am Ufer des Sees stieg Ma plötzlich von ihrem Pony ab und sagte, sie wolle auf Vaters Dandi warten. Wir drei anderen sollten schon zum Lager reiten. Wir zögerten sehr, Ma allein an einem so einsamen Ort zurückzulassen, aber wir hatten keine Wahl. Selbst Bholanath stellte sich ihrem Kheyala nicht entgegen. Auch Tunu und Dasu Dada waren noch nicht gekommen. So spaltete sich unser Gesellschaft in mehrere Gruppen.
      Eine Zeitlang war ich allein im Lager; Bholanath und Bhaiji waren in Richtung zum See spaziert. Ich beschloß, die Zeit meinem Tagebuch zu widmen. Unser Ziel war nun nur noch drei Tage entfernt, aber wir fühlten uns jetzt schon belohnt durch den Darshan des von hier sichtbaren schneebedeckten Gipfels des heiligen Berges. Während ich sitze und schreibe, kann ich verschiedenfarbige Schwäne sehen, die anmutig auf den feinen Wellen des Sees schwimmen. Die Krönung der würdevollen Berge ringsum ist die silberne Kuppel des heiligen Berges, wahrhaftig der beherrschenden Gottheit dieser schönen Landschaft. Kein Wunder, daß die übrigen Mitglieder unserer Gruppe, als sie hier ankamen, spontan in Freudenrufe ausbrachen: »Jai Kailashpati, jai Kailashpati!«
      Ich habe, glaube ich, ein seltsames Phänomen bisher nicht erwähnt. In Taklakote hat sich unserer Gesellschaft ein schwarzer Hund angeschlossen. Das Merkwürdige ist, daß er immer nur hinter Ma‘s Pony oder Dandi hertrottet. Er beachtet sonst niemanden. Wenn wir das Lager aufschlagen, bleibt der Hund in Ma‘s Nähe. Wenn wir bereit sind weiterzuziehen, bleibt er bei Ma sitzen, während die anderen schon losreiten. Er setzt sich erst in Bewegung, wenn sie aufbruchsbereit ist. Eines Tages sah ich, wie Ma ihn vom Dandi aus den Kopf streichelte. Der Hund sieht nicht wie die struppigen Gebirgshunde aus, er hat ein glatteres Fell, aber er scheint sich in diesem kalten Klima ganz wohlzufühlen.
      Einige der anderen halfen mir, eine Mahlzeit zu kochen. Ma, Bholanath und Bhaiji waren noch am Ufer des Sees. Die letzten zwei Tage gab es kein Brennholz. Die Pferdeführer brachten mir eine Art dorniges Gesträuch und getrockneten Dung. Der Wind weht so stark, daß man Kerosinkocher nicht benutzen kann, obwohl der Führer sagt, der Wind sei mild im Vergleich zu den hier üblichen Stürmen. Irgendwie brachten wir die Mahlzeit zustande.
      Ma verbrachte den größten Teil des Tages am Seeufer. Bholanath nahm sie beiseite und sprach eine Weile mit ihr. Auch Bhaiji verbrachte inige Zeit mit ihr. Parvati wollte gern eingeweiht werden. In Ma‘s Beisein gab Bholanath ihr das heißersehnte Mantra. Sie strahlte. Das junge Mädchen hat uns alle durch ihre Frömmigkeit und ihre Hingabe an Ma und Bholanath beeindruckt. Wir alle (außer Ma) badeten im See.

Mittwoch, 7. Juli. Aufbruch gegen 11 Uhr. Auf dem Weg besuchten wir eine der Verehrung Buddhas geweihte Höhle. Diese Höhlen sind in sehr gutem Zustand.
      An unserem Lagerplatz Jugumpha konnten wir überhaupt kein Feuer entzünden. Daher aßen wir alle als einzige Mahlzeit ein wenig sattu (Mehl von gerösteten Kichererbsen). Viel später bemerkte ich, daß ich Ma statt sattu gewöhnliches Weizenmehl gegeben hatte. Meine Hände waren so kalt, daß ich den Unterschied nicht fühlte. Ma merkte das und sagte kein Wort, sondern ertrug die Zumutung mit ihrem normalen ruhigen, heiteren Gesicht. Hätte sie protestiert, wäre mir mein Fehler sofort aufgefallen, aber das tut sie nicht. Sie akzeptiert einfach, was man ihr gibt. Als ich Reue zeigte, scherzte sie darüber.
      Die Kälte ist durchdringend. Sogar die Kulis empfinden das. Sie haben die Angewohnheit, sich mit Alkohol warm zu halten, aber selbst das scheint jetzt nicht mehr zu wirken. Trotz aller Unannehmlichkeiten konnten wir nicht anders, als von Zeit zu Zeit die bunt leuchtenden Blumen und den herzerhebenden Anblick des heiligen Berges zu bewundern. Wir kampierten an einem Ort namens Boond. Freitag, 9. Juli. Heute beginnen wir mit der parikrama [Umwanderung des heiligen Bergs]. Es schneit jetzt recht oft, für uns ein neues Erlebnis. Wir treffen jetzt manchmal Hirten und andere Leute. Es gibt auch Bettler. Sie zeigen den Pilgern ihre erhobenen Daumen; das ist eine Geste demütigen Bittens. Es ist üblich, ihnen etwas zu essen zu geben, was wir im Lager in Shershung taten.

Samstag, 10. Juli. Das heutige Lager ist der Ausgangspunkt für den letzten Abschnitt der Reise: den Aufstieg zum Gaurikund. Dann haben wir den heiligen Berg auf drei Seiten umrundet und kommen zuletzt zum Gaurikund. Dazu müssen wir noch einmal ca. 750 m hochsteigen, bis auf eine Höhe von beinahe 5500 m. Der Weg ist in jeder Hinsicht schwer. Mit einem Dandi kommt man hier keinesfalls weiter. Es gab Überlegungen, Vater hier im Lager zurückzulassen, aber davon wollte Bholanath nichts wissen. Wir treffen Vorbereitungen wie für eine Schlacht. Sonntag, 11. Juli. Wir konnten früh aufbrechen, da alle heute fasten wollten. Also verloren wir keine Zeit mit Kochen usw. Wir stiegen etwa 5 km ständig bergauf und wurden schließlich mit einem Blick auf unser Ziel belohnt. Der Gaurikund ist ein zugefrorenener See. Es gibt dort keine Tempel oder Schreine. Die Pilger baden im See, und damit ist die rituelle Umwanderung des heiligen Berges abgeschlossen.
      Wir stiegen am See ab. In der Nähe des Ufers war ein wenig Wasser zu sehen. Zum Baden müssen die Pilger ein Loch ins Eis hacken. Bholanath und Dasu Dada badeten im See. Wir ließen es damit genug sein, uns mit ein wenig Wasser zu besprenkeln. Ma hatte mir aufgetragen, ein paar Bündel Räucherstäbchen mitzunehmen. Die erwiesen sich jetzt als sehr nützlich. Wir entzündeten sie und führten mit ihnen Arati aus. Die schon gebadet hatten, waren froh über das bißchen Wärme, das die Flammen eine Zeitlang verbreiteten.
      Man sagte uns, es sei üblich, nach Erreichen des wichtigsten Ziels alle Gefährten zu einem Essen einzuladen. Das war uns hier nicht möglich. Auf Ma‘s Vorschlag teilten wir Trockenfrüchte und Halwa aus unserem Vorrat an die Träger aus, worüber sie sich sehr freuten.
      Mit Ma‘s Gnade und Bholanaths fortwährender Ermutigung haben wir tatsächlich eine äußerst schwierige Pilgerschaft vollendet. Ich kann die Großartigkeit der Himalaya-Landschaft nicht beschreiben. Ich kann nur sagen, daß sie Menschen aus ganz Indien anzieht, ist kein Wunder, denn es ist eine wahrhaft erfüllende Erfahrung. [Ende von Didis Tagebuch]