Ananda Chowk

Hari Ram zeigte Bhaiji und Ma einige mögliche Unterkünfte, die Bhaiji aber nicht gefielen. Ma sagte: »Vergiß deine Vorlieben. Wir bleiben am nächsten Platz, an den wir kommen.« Als sie dann zum Manohar-Tempel im Ananda Chowk kamen, erklärten Ma und Bhaiji sich einverstanden, dort zu logieren. Ma ließ sich auf der offenen Tempelveranda nieder. Hari Ram bekam vom Tempelverwalter die Erlaubnis, daß Ma in einem kleinen an den Tempel angebauten Zimmer wohnen durfte. Als am nächsten Morgen die Frauen von zwei Devotees aus Dehra Dun zu ihrer täglichen Puja in den Tempel kamen, sahen sie Ma allein auf der Veranda sitzen.
      So unspektakulär begann die faszinierendste Phase im Leben dieser Frauen, ihrer Familien, Freunde und Bekannten. Der Stadtteil war überwiegend von Kashmiris bewohnt. Sehr bald versammelten sich fast alle diese Familien zu Ma‘s Füßen. Ananda Chowk wurde zu einem zweiten Shahbagh. Manchmal fanden im Tempel Kirtans oder Yajñas statt, doch meist saßen die Besucher einfach schweigend um Ma, gebannt von Ihrer magnetischen Persönlichkeit. Darüber geriet ihr häuslicher Tagesrhythmus völlig durcheinander. Die Frauen waren nicht zu Hause, also blieb die Hausarbeit liegen. Die Männer und Kinder eilten ihrerseits zum Tempel, sobald sie aus ihren Büros und Schulen zurückkamen. Auch viele Bengali-Familien aus der Gegend von Karanpur fanden den Weg zu Ma und wurden Devotees auf Lebenszeit.
      Die Frauen brachten Essen für Ma und Bhaiji mit, aber zu ihrem Erstaunen stellten sie fest, daß Ma nur an jedem zweiten Tag aß, und auch dann nur ein paar Bissen. Ihre Genügsamkeit und ihre enorme Anziehungskraft auf Menschen führten zu einer skurrilen Episode, die Ma selbst bei anderer Gelegenheit erzählte. In einigen Stadtteilen hatte sich das Gerücht verbreitet, die Bengali Mataji hypnotisiere ihre Besucher und in ihrer Umgebung ereigneten sich nachts wundersame Dinge. Im Westen Indiens ist der Glaube verbreitet, Bengalen sei ein Land der schwarzen Magie, wahrscheinlich weil dort der Tantra-Kult verbreitet ist. Unter den regelmäßigen Besuchern des Ananda Chowk war eine Frau, die von ihren Freundinnen ironisch Barik Mai [die Dünne] genannt wurde, weil sie ziemlich korpulent war. Barik Mai war eine sozial engagierte Frau, Mitglied des Indian National Congress und Unabhängigkeitskämpferin. Es hieß, die britische Regierung habe sie einmal inhaftiert, aber der Richter habe den Haftbefehl schnell wieder aufgehoben, da sie den Mithäftlingen durch endloses lautes Singen in ihrer rauhen Stimme das Leben unerträglich machte. Diese Frau versicherte ihren Freundinnen nun, sie werde dem Geheimnis von Ma‘s Anziehungskraft lüften.
      Sie kam zum Manohar-Tempel und blieb. Ma‘s Lebensweise war absolut informell, die Besucher kamen und gingen, wie sie wollten. Es gab keine verschlossenen Türen, denn Ma verbrachte den ganzen Tag auf der offenen Veranda. Manchmal blieb der eine oder andere Devotee nachts bei ihr und meditierte.  Barik Mai wurde ein ständige Bewohnerin des Tempels. Nachts, wenn Ma sich auf ihre Decke auf den Boden legte, hielt sie Wache. Trotz aller Versuche, sie zum Essen zu bewegen, sagte Barik Mai, sie wolle wie Ma nur an jedem zweiten Tag essen. So vergingen ein paar Nächte. Barik Mai bemerkte nichts Ungewöhnliches, außer daß Ma nicht wie andere Leute schlief. Man konnte sie zu beliebiger Nachtzeit ansprechen: sie war immer hellwach. Ab und zu sprach sie auch selbst ihre Gefährten an, wenn sie wach waren. Die Fortsetzung kann in Ma‘s eigenen Worten wiedergegeben werden:

»Es ist klar, daß die Nachtwachen und das Fasten Barik Mais erheblich schwächten. Eines Nachts sank sie ohnmächtig nieder. Ich konnte sehen, daß Jyotish (Bhaiji) vor Furcht erstarrte. Er dachte, wenn die Frau wirklich krank sei, würden ihre Angehörigen und Freunde glauben, wir hätten ihr etwas angetan. Er sprühte ihr ein wenig Wasser ins Gesicht und fächelte ihr Luft zu, bis sie das Bewußtsein halbwegs wiedererlangte. Bald erholtesie sich und setzte sich auf. Dann bot Jyotish ihr zur Kräftigung ein paar ayurvedische Pillen an, die Dwarkanath Raina ihm zum eigenen Gebrauch gegeben hatte. Am Morgen danach erklärte ich ihr, daß Unterernährung und Schlafmangel den Schwächeanfall verursacht hatten. Wenn sie bei uns bleiben wolle, müsse sie normal essen und schlafen. Nach ein paar Tagen kam sie zu aller Überraschung nicht wieder. Ich wußte, was geschehen war. Ihre Freunde hatten sie davon überzeugt, daß sie zwei ›magische Pillen‹ bekommen hätte. Das war also der Grund! Ich sprach mit niemanden über ihre Verdächtigungen.
      Viel später besuchte sie mich in einem Dharmashala. Ich fragte sie: ›Wie war es mit den magischen Pillen, Mutter?‹ Tief bestürzt erzählte sie dann die ganze Geschichte ihrer geheimen Fahndung nach Wundern. Sie war sehr reumütig und mußte durch gutes Zureden wieder aufgemuntert werden.«
      Während Ma durch die Vorgebirge des Himalaya streifte, sah der Ashram in Ramna verlassen aus. Manchmal kamen Briefe von Devotees, die Ma in Dehra Dun oder Mussoorie besuchten; sie wurden dann mit großem Interesse gelesen. Einen solchen Brief schrieb Nirmal Chandra Chatterjee aus Varanasi.
      »Ma trägt Dhotis und bedeckt ihren Kopf nicht. Ihr Haar ist schulterlang. Die Devotees hier am Ort haben sie dazu gebracht, Sandalen zu tragen, weil man auf diesen Bergpfaden unmöglich barfuß gehen kann. Mit ihrem um die Schultern geschlungenen  Schal sieht sie wie ein junger Brahmachari aus. Viele Leute verehren sie sehr und sind bereit, ihr aufs Wort zu gehorchen.«
      Weiter schrieb er, daß Ma sich nach jedem einzelnen erkundigt habe. Sie habe sich gewundert, warum Baba (Shashanka Mohan) nie gefragt habe, ob er nach Dehra Dun kommen könne, um sie in ihrer neuen Umgebung zu sehen. Shashanka Mohan hatte geduldig auf Anweisungen von ihr gewartet; er war nie darauf gekommen, von sich aus Wünsche auszusprechen. Nun hielt er die Zeit, zu ihr zu fahren, für gekommen und erhielt Ma‘s Erlaubnis. Er kam im Dezember 1933 mit Didi nach Dehra Dun und blieb einen Monat bei Ma.
      Didi sah selbst die Veränderungen in Ma‘s Kleidung und Erscheinung. Sie lernte die neuen Devotees kennen und merkte, wie nahe sie Ma standen. Didi begann auch, Hindi zu lernen, um sich mit dem größeren Kreis von Ma‘s Devotees unterhalten zu können. Sie lernte unter anderem Hari Ram Joshi kennen, der die Besucher aus Dacca herzlich willkommen hieß. Sein Enthusiasmus kannte keine Grenzen. Er war überzeugt, daß eine glückliche Zukunft des Landes gesichert sei, wenn die Führer der Nation ihren Weg zu Ma fänden. Zu diesem Zweck bat er Kamala  Nehru [die Gattin des späteren Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru], Ma zu besuchen, da er hoffte, dies würde später zu einem Treffen mit Mahatma Gandhi führen. Jawaharlal Nehru war zu dieser Zeit in Dehra Dun inhaftiert. Auch seine Mutter Swarup Rani und seine Frau Kamala waren in der Stadt, um seinem Gefängnis nahe zu sein. Seine Tochter Indira ging in Mussoorie zur Schule.
      Hari Rams Überredungskünsten zum Trotz wollte Kamala Nehru zuerst nicht zu Ma kommen, denn sie wußte, daß ihr Mann von sogenannten religiösen Persönlichkeiten nichts hielt. Deshalb fuhr sie zwar mit Indira in ihrem Auto zum Tempel, um Swarup Rani abzusetzen, stieg aber selbst nicht aus. Hari Ram besuchte sie und stellte sie, wie er sagte, wegen dieser kleinen Unhöflichkeit gegenüber Ma zur Rede. Wie bedeutend ein Besucher auch sein mochte, für Hari Ram stand fest, daß Ma allerhöchster Respekt zukam. Als strenger Verfechter korrekter  Umgangsformen ließ er niemanden im Zeifel, welche Pflichten er gegenüber Ma habe.
      Kamala Nehru gab ihren Fehler zu und kam wieder, nur um Ma zu sehen. Sie kam und war verzaubert. Diese erste Begegnung war von großer Tragweite für ihr Leben. Da sie an ihre Position zu denken hatte, kam sie spätabends zum Tempel. Manchmal blieb sie die ganze Nacht und brach erst im Morgengrauen auf. Im Gegensatz zu Hari Ram verstand Ma ihre Lage und sagte ihr oft, sie solle lieber nicht kommen, wenn das für sie zu Konflikten führe. Einmal wollte Kamala an Mahatma Gandhi schreiben und um seine Erlaubnis bitten, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, damit sie bei Ma bleiben könne. Doch Ma riet ihr ab; dafür sei die Zeit nicht reif. Daß Kamala immer an Ma dachte und daß sie einen hohen Grad meditativer Konzentration erreichte, konnten alle sehen, die damals in der Nähe waren. Nachdem Ma Ananda Chowk verlassen hatte, unterhielt sie eine rege Korrespondenz mit Bhaiji. Einmal schrieb sie: »Bhaiji, du schreibst nie genug Briefe, um mich über Ma auf dem Laufenden zu halten. Aber manchmal ›sehe‹ ich sie. Gestern Nacht ›sah‹ ich sie einen rotgesäumten Sari tragen ...«
      Bhaiji schrieb aus Kankhal zurück, daß an dem erwähnten Tag in der Tat ein paar Devotees aus Calcutta Ma überredet hatten, einen Sari mit rotem Saum zu tragen, wie sie es in Dacca und Calcutta immer getan hatte. Die Leute in Dehra Dun hatten sie nie so gekleidet gesehen. Etwa drei Jahre später starb Kamala Nehru in der Schweiz. Vorher hatte Ma sie mehrmals während ihrer Krankheit im Bhowali-Sanatorium besucht. Bis zum Schluß hielt Kamala brieflich engen Kontakt mit Ma. Hari Rams Traum von großen politischen Ereignissen erfüllte sich zwar nicht durch diese Begegnung, aber wer weiß, ob das, was wirklich geschah, nicht für die betreffenden Menschen und das ganze Land wichtiger war?