Raipur, Dehra Dun

Im Bahnhof fanden die Reisenden einen abfahrbereiten Zug. Auf die Frage, wohin sie fahren wolle, schlug Ma den Bestimmungsort dieses Zuges vor. So  gelangten Ma, Bholanath und Bhaiji nach Jagannathganj. Auf die gleiche Weise kamen sie nach Katihar in Bihar, dann nach Lucknow und schließlich nach Dehra Dun, der Endstation dieser Bahnstrecke. Dehra Dun liegt am Fuß der dem Himalaya vorgelagerten Shivalik-Bergkette, unmittelbar unterhalb des ca. 2000  Meter hoch gelegenen Erholungsorts Mussoorie. Jenseits von Dehra Dun mußte man wandern. Außer einer Autostraße nach Mussoorie gab es damals kaum Straßen. Im Vergleich zum Tiefland im heißen Monat Juni war das Klima mild. Der Blick auf die umliegenden Berge war ungewohnt und faszinierend. Auch die  Menschen und ihre Sprache zogen Bhaijis lebhaftes Interesse auf sich. Es war, als hätten sie ein fremdes Land betreten. Auf Bhaijis Bemerkung, ihm komme hier alles fremd vor, entgegnete Ma, ihr sei alles vertraut.
      Vom Bahnhof gingen sie zunächst zu einem Dharmashala [Pilgerherberge]. Bholanath und Bhaiji schauten sich nach einer passenden Unterkunft um. Als sie von einem kleinen Shiva-Tempel in dem abgelegenen Ort Raipur hörten, besichtigten sie ihn am nächsten Tag. Bholanath war sofort bezaubert. Von dort zurückgekehrt, zogen sie Ma zu Rate. Sie sagte nur: »Entscheidet ihr. Mir ist jeder Platz recht.«
      So ließen sich Ma, Bholanath und Bhaiji am Morgen des 8. Juni 1932 in Raipur nieder. Raipur war in jenen Tagen ein kleines, entlegenes Dorf. In einiger Entfernung vom Dorf stieg das Gelände steil an. Diese Anhöhe war von einem kleinen Shiva-Tempel inmitten eines offenen, gepflasterten Hofs gekrönt. In einer Ecke des Hofs stand ein Mangobaum, umgeben von einer runden Steinplattform. Alles war völlig vernachläßigt und verwildert. Vom Hof auf dem Gipfel des Hügels sah man ein Panorama hoher Berge und Täler, in denen breite, schnell fließende Bäche in ihren felsigen Betten glitzerten.
      Während Bholanath und Bhaiji einen ihrem asketischen Lebensstil entsprechenden Tagesrhythmus aufnahmen, litten die zurückgebliebenen Devotees in Dacca schmerzlich unter Ma‘s Abwesenheit. Bisweilen versammelten sie sich und tauschten ihre mit Ma verbundenen Erlebnisse und Erinnerungen aus. Zu ihrem Erstaunen hatte sie jedem einzelnen umfassende Anweisungen zu seiner Lebensgestaltung gegeben. Niemand war vergessen oder übersehen worden. Ohne daß es aufgefallen wäre, hatte sie sich die Mühe gemacht, mit jedem zu sprechen, der auf ihre Führung angewiesen war. So hielt sie es diesmal und später immer wieder. Wenn jemand aus ihren Lehren keinen Nutzen zog, so lag es nicht daran, daß sie nicht für ihn dagewesen wäre, sondern an der Schwäche der menschlichen Natur. Ma erwartete von jedem Devotee, daß er sich mit ganzen Kräften dem Streben nach der Wahrheit widmete, doch leider waren die Leute viel mehr darauf aus, sich so lange wie möglich in ihrer unmittelbaren Nähe aufzuhalten, als für sich allein Sadhana zu üben. Nur einige Pioniere bahnten den Weg. Unter ihnen ist außer Bholanath und Bhaiji vor allem Shashanka Mohan zu nennen.

Shashanka Mohan und Didi führten allein in  Siddheshwari ein asketisches Leben. Er saß lange Stunden in Meditation. Abends und nachts attackierten ihn Moskitos, was ihm aber offenbar nichts ausmachte. Er trug keine geschneiderten Kleider und Schuhe mehr. Er konnte jetzt seinen Atem kontrollieren und sich ganz dem Sadhana hingeben. In seinem Alter hatte er sich in einem Maße abgehärtet, um das manch ein jüngerer Mann ihn beneiden konnte. Auch die Brahmacharis in Ramna waren mit den Ritualen von Puja und Yajña vollauf beschäftigt und hatten ihr Leben auf das transzendente Ziel ausgerichtet.
      Die Lebensbedingungen in Raipur waren spartanisch. Es gab weder Strom noch fließendes Wasser. In den umliegenden Wäldern wimmelte es von Schlangen, in den Mauerspalten lagen Skorpione auf der Lauer. Bhaiji ging täglich einmal ins Dorf, um Gemüse und Mehl zu besorgen. Er konnte schon Gemüse kochen; gewissenhaft lernte er nun, Chapatis [Brotfladen] zu backen. Manchmal leitete ihn Ma bei seinen ungeübten Bemühungen an, doch meistens war er auf sich gestellt. So spät im Leben  mußte er seine persönlichen Gewohnheiten umstellen. Sein Leben lang war er von Dienstpersonal umsorgt worden. Er hatte nie gelernt, Lebensmittel einzukaufen, zu kochen und das Essen zu servieren. Ma bewirkte wahrhaftig bei vielen ihrer Anhänger erstaunliche Metamorphosen!
      Im Lauf der Zeit sprach es sich in Dehra Dun durch zufällige Besucher von Raipur herum, daß eine bengalische Mataji von überragender Spiritualität in dem Dharmashala des Shiva-Tempels lebe. Ein paar unternehmungslustige Gemüter machten sich auf den sieben Kilometer langen Weg durch dichten Dschungel, über seichte Flüsse  und ausgetrocknete Flußbetten nach Raipur, um Ma kennenzulernen. Sie sahen  eine junge Frau, die mehr noch durch ihre starke Ausstrahlung und den Ausdruck heiterer Freude als durch ihre Schönheit ins Auge fiel. Bholanath empfing die Besucher und hieß sie willkommen. Bhaiji stellte er als seinen spirituellen Sohn (Dharma-Putra) vor. Sehr bald erwarb sich Bhaiji einen Platz im Herzen der Neuankömmlinge, denn er konnte sich mit ihnen auf Englisch unterhalten. Er war immer darum bemüht, den Leuten zu einem besseren Verständnis Ma‘s zu verhelfen. Er ermunterte die Besucher, ihr Fragen zu stellen, und half ihnen, das von so vielen empfundene Verlangen nach spirituellem Zuspruch zu artikulieren. Er übersetzte und interpretierte ihnen Ma‘s Worte. Es gelang ihm, die Kluft zwischen der wirklichen Ma und dem, wie  die Leute sie verstanden, weitgehend zu überbrücken. Die Devotees von Dehra Dun nannten ihn respektvoll Bhaiji [geehrter Bruder]. Bholanath nannten sie Pitaji [Vater]. Bholanath und Ma lernten sehr schnell Hindi, und bald konnten die Besucher direkt mit ihnen sprechen.
      Im August wurde Bhaiji für eine dringende  Arbeit in seine Behörde nach Dacca zurückberufen. Er hatte einige Zeit vor seiner abrupten Abreise aus Dacca einen viermonatigen Urlaub genommen. Aber da er nun zurückkommen mußte, schrieb er nach Dacca, Kamalakanta solle zu ihnen nach Dehra Dun kommen. Er wollte Ma und Bholanath nicht ganz allein lassen. Als Kamalakanta kam, fuhr Bhaiji nach Dacca. Sofort besuchte er die ungeduldig auf Nachricht von Ma wartenden Devotees und schilderte ihnen in langen Stunden ihr Leben in Raipur.
      Ende November oder Anfang Dezember 1932 reisten Ma, Bholanath und Kamalakanta nach Tarapeeth, da Bholanath ein Gelübde abgelegt hatte, in drei aufeinanderfolgenden Jahren mindestens einmal jährlich an diese heilige Stätte zu pilgern. Von dort fuhren sie nach Nalhati, wo Didis jüngster Bruder Nandu sie besuchte und mit Bholanaths Hilfe von Ma die Erlaubnis erhielt, alle Devotees über ihren Aufenthalt in diesem Teil des Landes zu informieren. Innerhalb weniger Tage füllte sich Nalhati mit Devotees aus Calcutta und Dacca. Bholanath sah jetzt ganz wie ein Sannyasi aus. Er freute sich sehr, alle bekannten Gesichter wiederzusehen. Nach diesem kurzen Zwischenspiel von etwa zwei Wochen fuhren die Besucher, betrübt über  die unvermeidliche Trennung, an ihre Wohnorte zurück. Shashanka Mohan und Didi nahmen ihr einsames Leben in Siddheshwari wieder auf.

Ma, Bholanath und Kamalakanta waren Anfang Januar 1933 wieder in Dehra Dun. Bhaiji blieb in  Dacca. Er war damit beschäftigt, unauffällig seine Angelegenheiten zu ordnen. Bevor er seinen Dienst wieder antrat, hatte Ma angedeutet, daß er nicht mehr viele Jahre zu leben habe. Nun veranlaßte er alles Nötige für die zukünftige finanzielle Sicherheit seiner Familie. Seine Tochter wurde in dieser Zeit mit allen Zeremonien verheiratet. Sein Sohn war alt genug, zu wissen, was der Vater tat. Seine Frau war nicht erfreut, aber sie erhob keine Einwände.
      Im März 1933 nahm Bhaiji wieder Urlaub und reiste nach Dehra Dun ab. Seine Freunde in Dacca ahnten, daß auf diesen Urlaub sein Abschied aus dem Dienst folgen werde und daß er möglicherweise nicht wieder heimkäme. Später wurde bekannt, daß Ma seiner Frau vorgeschlagen hatte, mit ihm zu kommen, damit sie zusammen Vanaprasthis - ältere Leute, die sich vom weltlichen Getriebe zurückziehen und in Waldeinsiedeleien leben - sein könnten. Doch Bhaijis Frau Manikuntala Devi hatte das abgelehnt und so die Möglichkeit verschenkt, in seinen letzten vier Lebensjahren, die er dem Dienst an Ma widmete, bei ihrem Mann zu sein.
      Im Rückblick auf diese Jahre kommt Bhaijis Mittlerrolle für Menschen einer anderen Kultur große Bedeutung zu. Viele neuen Leute fühlten sich zu Ma hingezogen, waren aber zu scheu, mit ihr zu sprechen oder sich ihr gegenüber unbefangen zu verhalten. Durch Bhaiji wurde ihnen dies möglich. Weil die meisten neuen Devotees aus Kashmir und anderen Landesteilen stammten, in denen nicht Bengali gesprochen wurde, war Bhaijis Dolmetschertätigkeit sehr wichtig.
      In diesem Zusammenhang soll er gesagt haben: »In meinem Drang, den Leuten klarzumachen, welches Glück sie haben, interpretiere ich ihnen Ma‘s Persönlichkeit und erhebe sie auf höchste Höhen. Aber ganz gleich, wie hoch ich schaue, sie bleibt immer noch höher, jenseits meines Horizonts.«
      Inzwischen wurde Ma mit der Sprache vertraut und sprach selbst auf Hindi mit den Männern, Frauen und Kindern, die sich um sie scharten. Sie war weiterhin viel unterwegs. Mit Bholanath und Kamalakanta wanderte sie nach Mussoorie  hinauf und weiter nach Uttarkashi. Sie hatten inzwischen Hari Ram Joshi kennengelernt, einen in dieser Gegend einflußreichen Mann, der Ma sein Leben lang treu ergeben blieb. Er  war ein Mann von festen Überzeugungen und brannte darauf, seine Familie und alle seine Freunde zum Dienst an Ma zu bekehren. Er wußte, daß er einen menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Schatz gefunden hatte und wollte die ganze Welt von Ma‘s göttlicher Gegenwart verwandelt sehen. Durch ihn kamen viele angesehene Persönlichkeiten mit Ma zusammen. Wenn er die geringste Zurückhaltung auf Seiten des Besuchers spürte, warf er ihm streng vor, daß er sein Glück verkenne! Dies kam allerdings selten vor. In kürzester Zeit hatte Ma in der Gegend von Nainital, Almora, Mussoorie, Solan und Simla eine große Zahl von Devotees.
      Jamna Datt Sanwal arrangierte Ma‘s zweite Wanderung nach Uttarkashi in Begleitung von Bhaiji. Hari Ram bat Bhaiji dringend, ihn wissen zu lassen, wenn sie wieder in Dehra Dun seien. Wenn wir die Umstände betrachten, die ihre Reisen lenkten, erkennen wir deutlich, daß Ma es ganz dem Zufall überließ, wie lange sie an einem Ort blieb. Ohne Hari Rams Drängen, informiert zu werden, wäre Ma vielleicht in Dehra Dun ebenso kurz geblieben, wie an vielen anderen Orten. Doch eins führte zum anderen, und Ma blieb lange in Dehra Dun.
      Bholanath war so begeistert von der Schönheit der Bergwelt des Himalaya, daß er mit Kamalakanta an verschiedene Pilgerstätten wanderte. Bholanath widmete sich immer mehr seinem Sadhana. Seine Essensgewohnheiten hatten sich geändert. Er rauchte nicht mehr und führte ein äußerst diszipliniertes Leben. Er ließ Ma in Bhaijis Obhut und verbrachte einige Monate als Asket in Uttarkashi und Umgebung. In dieser Zeit erhielt er viele Botschaften von seinen Verwandten, die ihm wegen seiner und Ma‘s Lebensweise Vorwürfe machten. Aber solchen Einflüssen war er nicht mehr zugänglich. In unmißverständlicher Klarheit schrieb er zurück, daß er alle Handlungen Ma‘s vollkommen gutheiße und daß niemand sich über ihr immer mustergültiges Verhalten Sorgen zu machen brauche. Im übrigen habe er absolutes Vertrauen, daß Bhaiji sie nach besten Kräften betreue.
      Aus alledem erkennen wir, daß sich das Erscheinungsbild der kleinen Familie aus Dacca gewandelt hatte. Bholanath hatte der Welt entsagt und praktizierte unter Ma‘s Führung sein Sadhana. Auch Bhaiji führte das Leben eines Asketen und hatte sich ganz und gar dem Dienst an Ma verschrieben.
      Einige Devotees aus Dacca und Calcutta fanden ihren Weg nach Dehra Dun und blieben ein paar Tage bei Ma. Zu ihnen gehörte Vyas, ein Medizinstudent aus Calcutta. In den Sommerferien kam er nach Mussoorie und durchstreifte die Gegend auf der Suche nach einer ›Bengali Mataji’. Er ging von Herberge zu Herberge, da man ihm gesagt hatte, Ma und ihr Begleiter (Bhaiji) seien auf dem Rückweg von Uttarkashi. In einer der Herbergen am Weg traf er sie. Als er sah, daß Ma alleine kochte und saubermachte - Bhaiji war zu dieser Zeit kränklich - hielt er es für seine Pflicht, ihr seine Hilfe anzubieten. Ma sagte lächelnd, es wäre eine Hilfe, wenn er am Morgen Milch holen könne. Dazu war Vyas gern bereit und bat sie in aller Unschuld: »Bitte, wecke mich am Morgen, wenn es Zeit ist zu gehen. Ich schlafe oft lang.« Belustigt erinnert sich Vyas, wie Ma ihn für diese kleine Aufgabe weckte und wie liebenswürdig sie die einfachen Mahlzeiten servierte, die sie für Bhaiji und ihn zusammenstellte.
      Sie wanderten in beglückter Stimmung durch das Bergland und machten Rast, wo es ihnen gefiel. Die Primitivität der Lebensbedingungen brachte Ma nie in Verlegenheit. Die Pilgerherbergen waren spartanisch einfach, doch in Ma‘s Gesellschaft empfand Vyas die planlose Lebensweise als ganz natürlich. Es war ein wunderbares Zwischenspiel, bei dem er Bhaiji kennenlernte und größte Hochachtung für ihn empfand. Übrigens gehörte er zu den sechs Auserwählten, die ihre spirituelle Initiation von Bhaiji erhielten.
      Ma hatte das Kheyala, Bhaiji solle wie ein Bettler seinen alleinigen Rückhalt in Gott finden. Ein paarmal schickte sie ihn aus, Bhiksha [Almosen] zu sammeln. Bhaiji war nicht besonders erfolgreich. Erstens sah man ihm an, daß er ein feiner Herr war, zweitens wußte er nicht, wie man bettelt. Wenn die Leute ihn an ihrer Tür stehen sahen, grüßten sie ihn und unterhielten sich mit ihm, aber gaben ihm nichts! Zwar bemühte er sich, Ma‘s Kheyala zu erfüllen, aber seine Bettelzüge waren meist Fehlschläge. Wenn er nichts bekam, fastete er, ebenso wie Ma. Auf diese Weise wanderten sie nach Dehra Dun, wo sie in der Nähe des Tapkeshwar Mahadeva-Tempels Unterkunft fanden. Bhaiji hielt sein Versprechen und benachrichtigte Hari Ram, daß Ma wieder in der Stadt sei. Hari Ram kam sofort zum Tempel und bat Ma, eine Zeitlang in Dehra Dun zu bleiben, möglichst an einer besseren, zentraler gelegenen Stelle.